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Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.): Smart City#

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Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.): Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten. Transcript Verlag Bielefeld. 364 S., ill., € 29,99

Vor 200 Jahren erfand der englische Philosoph Jeremy Bentham (1748–1832) das "Panopticon". Sein Konzept zum Bau von Gefängnissen und Fabriken ermöglicht die gleichzeitige Überwachung vieler Menschen durch einen einzelnen Aufseher. Von seinem zentralen Beobachtungsturm kann er alles kontrollieren, bleibt aber selbst für die Insassen unsichtbar. Diese wissen nicht, ob sie gerade überwacht werden, müssen es aber jederzeit annehmen. Vor 70 Jahren erschien George Orwells dystopischer Roman "1984". Der Protagonist der Handlung, Winston Smith, will sich der allgegenwärtigen Überwachung des "Großen Bruders" zum Trotz seine Privatsphäre sichern.

Der Vergleich mit der heute vielfach angestrebten "Smart City", der intelligenten Stadt, drängt sich auf. Smart City steht für das Versprechen einer Zukunft mit hoher Lebensqualität für alle – aber auch für Überwachung und Kontrolle öffentlicher und privater Räume. 35 StadtforscherInnen betrachten im vorliegenden Buch die unterschiedlichen Bewertungen der Smart City und geben einen Überblick über die kontroverse Debatte. Herausgeberinnen sind Sybille Bauriedl, Professorin für Integrative Geographie an der Europa-Universität Flensburg, und Anke Strüver, Professorin für Humangeographie an der Karl-Franzens-Universität Graz. In ihrer Einleitung schreiben sie über intelligente Städte: "Während im allgemeinen Intelligenz in der Fähigkeit gesehen wird, durch logisches Denken Probleme zu lösen und zweckmäßig zu handeln, liegt die digitale Intelligenz in Algorithmen. … als Summe aus Logik und Kontrolle." Die Logik der intelligenten Stadt besteht aus "Big Data", immensen Mengen an heterogenen und nahezu in Echtzeit verarbeiteten Informationen über die "drei V's" (volume, velocity und variety). Diese werden beispielsweise generiert, wenn eine Person (Smartphone) mit ihrem Auto (Navigationssystem) eine Kamera (IT-Sensor) passiert. "Schon heute haben Algorithmen ihre Logik in die Struktur aller sozialen Prozesse eingewoben und auch urbane Infrastrukturen werden längst digital gesteuert. Zugleich schreitet die Zahl der verfügbaren IT-Sensoren, Nutzerdaten und digitalen Steuerungsaufgaben sowie deren Vernetzung weiter voran."

Mit Geräten wie Fitnessarmbändern oder in Laufschuhe integrierten Chips liefern StädterInnen höchstpersönliche Daten, ohne zu wissen, wo sie landen. Anke Strüver beschreibt ihren Selbstversuch am Beispiel einer Hamburger Joggingstrecke. Ungefragt meldet ihr Google maps, dass dort "aktuell mehr Besucher als gewöhnlich" unterwegs sind. Die Forscherin ärgert sich über eine Messstation, die Zeit und Geschwindigkeit automatisch registriert, ohne dass sie diese Daten löschen kann. "Das System bemerkt alles, was beim Laufen passiert (Pausen, Sprints, Richtungswechsel) und: Es merkt sich alles -für dich und für die Community!" Lifelogging, die permanente Selbst-Digitalisierung, ermöglicht die "Optimierung von Schlaf-, Sex-, Ess- und Trinkverhalten, von sportlichen Aktivitäten und emotionalen Stimmungen". Die Ergebnisse werden nicht nur mit der digital community geteilt, sondern auch von den großen IT-Firmen wie Google, Facebook, Apple und Microsoft verarbeitet. Bei den Benützern können Fitnessarmbänder emotionale Abhängigkeit erzeugen oder zu Schuldgefühlen führen, wenn man Normwerte nicht erfüllt. Die Autorin erfährt von einer Mit-Läuferin, dass dieser das Joggen keinen Spaß mache und sie es als sinnlos empfinde, wenn nicht gemessen wird. Trotzdem entsteht der Eindruck, dass Anke Strüver dem Lifelogging positiv gegenübersteht.

Ein anderes Anwendungsbeispiel, das noch weiter in die Intimsphäre eindringt, beschreibt Nadine Marquardt, Professorin für Sozialgeographie an der Universität Bonn: "Digital assistierter Wohnalltag im smart home". Sie beschäftigt sich mit Möglichkeiten, die ältere Menschen unterstützen und zur Gesundheitsprävention beitragen sollen. Außerdem könne die Technik Angehörige, Pflegekräfte und medizinische Dienste entlasten. Doch handelt es sich um fremdbestimmte und disziplinierende Formen der Datenerhebung und Überwachung. Als ersten Punkt nennt die Autorin Sensoren, die als "Augen und Ohren der Wohnung" Geräusche, Gerüche, Bewegungen, Temperatur und Lichtverhältnisse erfassen. Wenn die Assistenzsysteme Abweichungen vom "Normalverhalten" feststellen, alarmieren sie externe Helfer. Telecare, ein Sammelbegriff für verschiedene Informations- und Kommunikationstechnologien, soll die situationsgerechte Unterstützung aus der Distanz ermöglichen. Während im Artikel die optimistische Einschätzung überwiegt, zeigen empirische Untersuchungen unterschiedliche Empfindungen der Betroffenen: "So wird das permanente Monitoring des eigenen Lebens und der veränderte Charakter des Wohnraums als klinischer 'Außenstandort' von den Wohnenden mitunter als Störung der Privatsphäre und fremdbestimmte Überwachung wahrgenommen, aber auch als Befreiung von Ängsten und Ermöglichung eines unbeschwerten Alltags erfahren." Die dritte Innovation wären Companion robots. Anders als Serviceroboter, die Haushaltsaufgaben übernehmen, sollen die Haustieren nachgebildeten, lernfähigen Maschinen "den Wohnenden Gesellschaft leisten und Bedürfnisse nach emotionaler Nähe sowie sozialer Interaktion stillen." Die Debatte um emotionale Robotik wird äußerst kontrovers geführt.

Schließlich noch ein unterhaltsam geschriebenes Beispiel über den Vergleich von Online und realem Einkauf. Der Umsatz im Onlinehandel ist von 1,3 Mia. € im Jahr 2000 auf 48,7 Mia. € im Jahr 2017 rasant gewachsen. Der reine Onlinehandel hat einen Marktanteil von 10 % des Umsatzes im Einzelhandel erreicht, 2025 werden 15 % prognostiziert. "Kommerzielle soziale Netzwerke wie Facebook, Google, Twitter, Instagram u. a. finanzieren ihre für Nutzerinnen und Nutzer anscheinend kostenlosen Angebote und ihre Gewinne aus der Auswertung von Nutzerdaten und den Verlauf daraus gewonnener Informationen für Gewerbetreibende." Der Bonner Stadtentwickler Michael Lobeck und Claus-C. Wiegandt, Professor für Stadt- und Regionalgeographie an der Universität Bonn, haben sich dazu eine Story ausgedacht: Zwei Freundinnen, Laura und Sophia, suchen ein Geburtstagsgeschenk für ihren gemeinsamen Bekannten Julian. Laura geht in die Innenstadt shoppen, Sophia versucht es im Internet. Nach allerlei Irrungen und Wirrungen überreichen sie ihre Geschenke: "Julian packt aus. Exakt die gleichen Mützen. Eine soll umgetauscht werden. Was ist leichter, schneller, ressourcenschonender …?"

Benthams Panopticon-Projekt von 1811 wurde nicht realisiert. "1984" endet mit Winstons Erkenntnis, dass er den "Großen Bruder" liebt. "Die Vision einer Google-freien Stadt … klingt in einer Zeit, in der Google mehr als 90 Prozent der Suchanfragen von Internet-NutzerInnen beantwortet, utopisch und … undenkbar … im Angesicht der gefühlten Alternativlosigkeit zu der Suchmaschine, die sich ihren Platz im Alltagsleben gesichert hat."