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Roman Sandgruber: Reich sein#

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Roman Sandgruber: Reich sein. Das mondäne Wien um 1910. Molden Verlag Wien. 352 S., ill., € 39,00

Um 1910 lebten in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien rund 1000 Millionäre, die über ein Jahreseinkommen von 100.000 Kronen (ca. 650.000 €) verfügten. Wer sie waren, wie sie lebten und wie sie sich in der Literatur widerspiegeln, hat Roman Sandgruber genauestens recherchiert und in einem spannenden Buch verarbeitet. Der Autor ist em. Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Johannes-Kepler-Unversität in Linz. Sein Werk "Rothschild. Glanz und Untergang des Wiener Welthauses", wurde als Wissenschaftsbuch des Jahres 2019 ausgezeichnet. 2013 erschien "Traumzeit für Millionäre", die Grundlage für die vorliegende Publikation.

Die 929 reichsten Wiener und Niederösterreicher, etwa 0,7 Prozent der Haushalte, erzielten 9,8 Prozent der Einkommen. … Es sind alte Adelige und neureiche Juden, berühmte Ärzte und geistreiche Damen, zielstrebige Parvenüs und gefeierte Künstler, orthodoxe Gläubige und liberale Agnostiker, erfolgsverwöhnte Manager und "schwarze Schafe", Erben und Glückspilze - und oft waren sie unendlich unglücklich. Sie sind zu 90 Prozent männlich, zu fast 60 Prozent jüdisch, zu 10 Prozent von altem Adel.

Die Liste der Reichsten der Reichen führt der Bankier Albert Freiherr von Rothschild mit einem Jahreseinkommen von 25,7 Millionen Kronen an. Dann kommt lange nichts. Theodor Ritter von Taussig, Gouverneur der österreichischen Boden-Creditanstalt, verfügte über 4,9 Millionen Kronen jährlich. Unter den Besitzern der 15 höchsten Jahreseinkommen finden sich fünf Mitglieder der Kohle- und Eisenindustriellen-Dynastie Gutmann, zwei von ihnen waren 1910 noch minderjährig.

Roman Sandgruber gliedert sein Werk über die Ein-Promille-Gesellschaft in acht Teile. Den ersten nennt er Reich sein. Die "Traumzahl" von 100.000 Kronen war für mehr als 99 Prozent der Bevölkerung ein Leben lang nicht zu verdienen. Industriearbeiter konnten zwischen 500 und 1500 Kronen im Jahr erreichen, Landarbeiter nicht einmal halb so viel, ein Dienstmädchen vielleicht 100 bis 300 Kronen. Ein Universitätsprofessor verdiente bis zu 16.000 Kronen, der Direktor eines mittleren Betriebes etwa ebenso viel.

Teil II schildert, wer Reich werden konnte - vor allem Bankiers und Händler. Die Holzhändler waren die Kolonialherren des Habsburgerreiches, … Drach, Engel-Jánosi, Goedel, Munk, Ortlieb, Eissler sind bekannte Namen. … An Stelle der Holzhändler traten die Kohlenhändler. … Die größten unter ihnen, die Gutmann, kontrollierten ein weit verzweigtes Geschäftsfeld. … Mit Anselm von Rothschild, der die wichtigste Kohlenbahn, die Nordbahn, dominierte, übten sie monopolistischen Einfluss auf die Wiener Kohlenversorgung aus. Die bekannteste Handelsmarke des alten Österreich schuf Julius Meinl. 1862 eröffnete er auf dem Fleischmarkt ein Geschäft für "täglich frisch gebrannten Kaffee". Im Zeitalter der modernen Industrialisierung zählten Erfinder, wie auch Baumeister, Architekten, Hotelbesitzer, Nobeladvokaten und Zeitungszaren zu den Spitzenverdienern.

Eine weitere Möglichkeit, Wohlstand zu erlangen, war Reich erben. "Auf einmal bin ich ein reicher Mann", soll sich Kaiser Franz Joseph gefreut haben, als er 1875 die tschechischen Besitzungen von Ferdinand I erbte. Sein Vermögen wird sicher höher anzusetzen sein als das des deutschen Kaisers, wohl auch höher als das des bayerischen Königs. Über Kaiser Franz Josephs jährliches Einkommen kann man nur mutmaßen … mindestens 35 Mio. Kronen. Außerdem blickt man im dritten Teil dieses Buches, das so viele Aspekte beleuchtet, hinter die Kulissen des "alten" und des "neuen" Adels, erfährt Interessantes über lustige Witwen und reiche Töchter sowie jüdischen Reichtum.

Reich bleiben war das erklärte Ziel der Kronen-Millionäre. Reich zu sein und arm zu werden, beherrschte die Träume und Ängste des Fin de Siècle, erfährt man, und: Reichtum wurde nie mehr so unverhüllt und demonstrativ zur Schau gestellt wie um 1900, mit riesigen Villen, vielen Dienstboten, großen Autos, teuren Pferden und weiten Reisen. Wien um 1910 war ein Traumland für Millionäre. In Teil IV geht es um Religion und Kapitalismus. Die Religion förderte nicht den Kapitalismus, sondern der Kapitalismus wurde zur Religion, schreibt Roman Sandgruber. Geld wird zur höchsten Instanz. Ihm wird alles andere geopfert. Ihre Kirche ist der homo oeconomicus. … Wie wurde man reich? Durch Arbeit, Fleiß, Ehrlichkeit und Sparsamkeit, verkünden die Lebensgeschichten und die Wappensprüche der Millionäre.

Reich leben (Teil V) war trotzdem vom demonstrativ zur Schau gestellten Luxus geprägt: Die Spitze der Gesellschaft frönte einem exklusiven Lebensstil. Man traf sich auf dem Tennisplatz und beim Derby im Prater, dinierte im Sacher und verbrachte den Winter in Abbazia. Die Damen bevorzugten elegante Mode aus Paris, die Herren trugen feinen Zwirn. Jagen, Bergsteigen, Autofahren, Reiten, Polo und Golf waren nicht nur Zeitvertreib, sondern Gelegenheiten, Kontakte zu knüpfen und Netzwerke zu pflegen.

Reich sterben (Teil VI) sei eine Schande, sagte man in Amerika. In Österreich sei bei den Wohlhabenden Altruismus selten, kritisierte der Gutsbesitzer Karl Kupelwieser. Er ist als großer Förderer der Wissenschaften, des Radium-Instituts in Wien (das er mit 500.000 Kronen unterstützte) oder einer Schule für Gebirgswirtschaft in Niederösterreich hervorgetreten und gab namhafte Beträge für soziale Anliegen. Adelige Damen wie Fürstin Pauline Metternich und Prinzessin Rosa Croy arrangierten glänzende Charity-Events. Baron Nathaniel Rothschild war für seine vielen wohltätigen Stiftungen bekannt. Nie vorher und nachher in der österreichischen Geschichte hat ein einzelner derart hohe Summen gespendet. Zu den Begünstigten zählten die Lungenheilstätte in Alland, die Militärstiftung in Reichenau, die Poliklinik, die Freiwillige Rettungsgesellschaft und das Neurologische Krankenhaus Rosenhügel (mit 20 Mio. Kronen die vermutlich größte Einzelspende Österreichs) in Wien. Die Kapitel Die Bilder der Reichen (Klimts Portraits), Das Buddenbrook-Syndrom und Die Katastrophe des Holocaust beleuchten weitere wichtige Aspekte.

Teil VII, Ausblick, handelt von der Wiederkehr der Ungleichheit. Der Wirtschaftshistoriker schreibt: Die Geschichte wiederholt sich nicht, sagt man. Doch die Ungleichheit nimmt weltweit wieder sprunghaft zu. … Der Reichtum wird versteckt. Die Objekte des demonstrativen Konsums sind hintergründiger geworden. Hatte der Autor in der Erstausgabe mit einer optimistischen Friedensperspektive geendet, so muss er diese angesichts des Ukraine-Krieges widerlegen: Der Krieg ist mit brutaler Gewalt auch in unsere nächste Nähe zurückgekehrt und bedroht nicht nur den Weltfrieden, sondern auch den Weltwohlstand. Die Menschheit lernt offenbar wirklich nicht aus der Geschichte.

Gab es in der ersten Auflage einen umfangreichen zweiten Teil mit den Biographien der 929 Millionäre, so wurde dieser nun auf ein Minimum gestrafft. Neu sind ganzseitige illustrierte Lebensgeschichten von Anna Sacher, Arthur Krupp, Albert Frh. von Rothschild, Theodor Ritter von Taussig, Julius Meinl II., Anton Fix, Selma Kurz-Halban und Felix Pollak Edler von Parnegg. Zahlreiche Übersichtstabellen ergänzen den Text. Exquisite Illustrationen, wie Reproduktionen der berühmten Klimt-Portraits, geben Einblick in das Lebensgefühl des mondänen Wien um 1900. Eine Reise in jene versunkene Welt, mit diesem großartigen Buch als Guide, lohnt sich in jedem Fall.

hmw