Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!
unbekannter Gast

Florian Schäfer, Janin Pisarek, Hannah Gritsch: Fabeltiere#

Bild 'Schäfer'

Florian SCHÄFER, Janin PISAREK, Hannah GRITSCH: Fabeltiere. Tierische Fabelwesen der deutschsprachigen Mythen, Märchen und Sagen. Böhlau Verlag Wien. 256 S., ill., € 39,-

"Fabeltiere sind nie aus unserer Welt verschwunden, doch die Art, wie wir über sie denken, veränderte sich im Laufe der Zeit. … Die fabelhaften Wesen unserer Mythen, Märchen und Sagen sind weitaus mehr als kindliche Phantasiegestalten. Sie gewähren uns einen Einblick in das Naturverständnis unserer Vorfahren, in den Umgang mit Ängsten und Wünschen sowie einen einzigartigen Blick auf die Welt, in der wir leben." So das Fazit des Teams von "Forgotten Creatures", das dieses ungewöhnliche Buch herausgegeben hat. Der Naturwissenschaftler Florian Schäfer ist die treibende Kraft des 2017 gegründeten Projekts. Als Künstler haucht er den Fabeltieren in seinem Mythenatelier "neues, frisches Leben" ein. Die Autorin Janin Pisarek bringt ihre Kompetenz aus dem Studium der Europäischen Ethnologie und Erzählforschung ein. Die stimmungsvollen Fotos stammen von der Designerin Hannah Gritsch. Antje Kharchi, die in Washington D.C., USA, lehrte und in Deutschland ein Grafikatelier betreibt, unterstützt das Projekt mit ihrem "gewaltigen Wissen um Design und Typografie." Neben den Texten und Bildern verdient das gekonnt gelungene Layout besondere Erwähnung. Eine so ruhige und zugleich raffinierte Gestaltung findet man nur selten.

Fabeltiere sind Projektionsflächen für menschliche Ängste und Wünsche. Sie kommen in literarischen und mündlichen Überlieferungen vor und spielen auch in der zeitgenössischen Kultur eine Rolle: "Kaum ein Kinderzimmer kommt heute ohne Einhorn aus." Sein Abbild findet sich auf Kleidung und anderen Gegenständen, man begegnet ihm als Spielzeug und in der esoterischen Spiritualität und Literatur. Der Fantasy-Roman "Das letzte Einhorn" (The Last Unicorn) des US-Amerikanischen Schriftstellers Peter S. Beagle erschien 1968, Filme und ein Musical folgten. Protagonistin ist das Einhorn Amalthea, das von einem Magier in eine Frau verwandelt wird und danach zu Emotionen fähig ist.

Der Einhorn-Mythos entstand in Indien und wurde im 4. vorchristlichen Jahrhundert von antiken Gelehrten aufgezeichnet. Seine Geschichte ist eine "voller Missverständnisse". Das wilde, gehörnte Tier "Re-em", vermutlich ein Auerochse, gelangte in das Alte Testament, übersetzt als Einhorn oder Rhinozeros. Im Mittelalter kamen religiöse Interpretationen auf. Das Einhorn wurde zum Sinnbild Jesu und der Reinheit. Während das in der Antike noch nicht der Fall war, wurde wohl im 13. Jahrhundert in Europa die vermeintliche Heilkraft des bis zu 2,50 Meter langen, gewundenen Hornes (Stoßzahn des Narwals) entdeckt. Nahezu unerschwinglich, sollte es gegen Gift wirken. Die gelehrte Äbtissin Hildegard von Bingen (1098-1179) sah hingegen die Leber des Monsters als heilkräftig an und versprach sich von Schuhen und Gürteln aus dessen Leder Schutz vor Pest und Fieber. Findige Schwindler versuchten noch im 16. Jahrhundert, aus Steinstaub und Seife hergestellte angebliche Hornteile zu verkaufen.

Weit weniger geschätzt als die "plüschigen Kuschelgefährten" waren Dorftiere und Tiergespenster, die als schwarze Hunde, dreibeinige Hasen oder gespenstische Kälber aufgetreten sein sollen. "Sie erscheinen nach Einbruch der Dunkelheit. Mit glühenden Augen durchstreifen sie einsame Gassen und verlassene Landschaften auf der Suche nach ihren Opfern. … Es gibt kaum eine Region, in der nicht mindestens eine Handvoll Sagen von ihnen überliefert wären." Oft stehen sie mit dem Teufel im Bunde oder sind dessen Inkarnation. Es kann sich um Wiedergänger oder Aufhocker handeln. Dabei zeigt sich, wie so oft in Sagen, eine pädagogische Komponente. Kinder und junge Frauen sollten nicht unbeaufsichtigt unterwegs sein, wenn es dunkel wurde.

Ein weiteres Kapitel ist "Sonst holt dich …" übertitelt. Es handelt vom Hötzelstier, der Habergeiß und anderen Schreckgestalten. Schreckmärchen sollten die Heranwachsenden vor Gefahren warnen: nicht mit Fremden sprechen, sich nicht herumtreiben, besonders nicht im Wald. Ganz unwahrscheinlich waren die Folgen nicht: "Durch weitreichende Armut und klimatisch bedingte Hungersnöte waren Gewalttaten und Morde, vor allem an Kindern, im 15. und 16. Jahrhundert keine Seltenheit." Bekannt sind Märchen, wie "Hänsel und Gretel", wobei die Eltern ihre Kinder im Wald aussetzten, wo sich ihr trauriges Schicksal des Verspeistwerdens durch eine Hexe erfüllen sollte. Eine weitere Schreckgestalt ist der "böse Wolf", der es auf die sieben Geißlein ebenso abgesehen hat, wie auf Rotkäppchen und ihre Großmutter. Besonders gefährlich erschienen Werwölfe, denen man nachsagte, verhexte Menschen zu sein. Von dieser Form des Gestaltwandlers war nur in Gegenden die Rede, in denen Wölfe vorkamen. Andere Regionen kannten andere Gestalten der düsteren Folklore, wie etwa Vampire.

Die Habergeiß (u. a. auch Haberbock) verdankt die Bezeichnung nicht, wie man früher glaubte, dem Hafer, sondern dem Ziegenbock ("Haber", altenglisch "haefer"). Das vielgestaltige Wesen tritt in Vogelgestalt mit krächzender Ziegenstimme oder als "dämonisches Mischwesen mit Merkmalen eines Ziegenbocks" auf. In Oberösterreich war die Gestalt beim Erntebrauch bekannt indem die Burschen ein vierfüßiges, mit Getreide behängtes Gebilde als Spott für den Bauern aufstellten, der als letzter seine Ernte einbrachte. Als "Haustier der Perchten" gehört sie zum Gefolge von Krampusläufen. "Diese Form der Habergeiß findet sich vor allem in Kärnten, Salzburg und in der Steiermark."

Bei Katastrophen, Krankheiten und Viehseuchen sah man Untiere als personifizierte Naturgewalten an. Dies besonders im Alpenraum mit seinen extremen klimatischen Verhältnissen. Das galt für Katzen, Spinnen, den Zlatorog in Slowenien oder den Rollibock im schweizerischen Wallis und viele andere. Das Sprechen von Segen sollte die Gefahr bannen.

Während es scheint, dass viele Menschen in der vorindustriellen Welt mit Geschichten dieser Art Erklärungsmodelle fanden, erhebt sich im nächsten Kapitel die Frage "Alles nur ein schlechter Scherz?" Darin geht es um Elbentritschen, Rasselböcke und Wolperdinger. Bei einem Neckspiel, das sich gegen Ortsfremde richtete, trug man diesen auf, ein seltenes Tier zu fangen. Das unwissende Opfer "folgt dabei meist gutgläubig den Anweisungen der Einheimischen und ahnt nicht, dass das Wesen gar nicht existiert. Allein und mit zahlreichen unsinnigen Gegenständen ausgestattet, verbringt die gefoppte Person meist Stunden allein im Wald. Kehrt sie … frustriert zur Dorfgemeinschaft zurück, wird der Spaß aufgelöst." Ein Vertreter dieser Gattung ist der gehörnte Hase. In Bayern wird der Wolpertinger als Souvenir verkauft. In Oberösterreich nennt man ihn "Almtatscherl". Das Wundertier, das sich von Gemseneiern ernährt, ähnelt einem Marder oder Iltis, hat Hasenohren, Gamshörner, Vogelfüße, Wildschweinhauer, gelb leuchtende Augen und manchmal einen Eichhörnchenschwanz.

Für touristische Marketingzwecke ungeeignet sind die grausamen Schlangen und mächtigen Drachen, denen das nächste, umfangreiche Kapitel gewidmet ist. Zu ihnen zählen Tatzelwürmer, katzenköpfige Schlangen und der Basilisk, "der König der Schlangen." Er bildet Höhepunkt und Abschluss der seltsamen Menagerie, ehe man Einblick in das Mythenatelier von Florian Schäfer erhält.

Akribisch betreibt der Künstler Recherche, Konzepterstellung, modelliert, bemalt, versieht seine Tiere mit Pelzen und Federn, ehe er sie zum Fototermin mit Hannah Gritsch in mystische Umgebungen entlässt. Mag man zu Beginn der stellenweise gruseligen Lektüre an der Sinnhaftigkeit des Unterfangens gezweifelt haben, überwiegt am Ende die Faszination. Phantasie hat dabei ebenso ihren Platz wie die fundierte Erzählforschung und die anregende Schreibweise von Janin Pisarek. Übrigens sind die "Fabeltiere" nicht das erste Buch des Projekts "Forgotten Creatures". Bände über Hausgeister (2021) und einen historischen Reisebericht, inspiriert vom alten Sagenschatz Europas (2023), sind bereits erschienen. Man darf gespannt sein, was als nächstes kommt.

hmw