Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!
unbekannter Gast

Klaus Schönberger, Horst Peter Gross (Hg): Heimat#

Bild 'Schönberger'

Klaus SCHÖNBERGER, Horst Peter GROSS (Hg): Heimat. Beiträge zu einem Ort, an dem noch nie jemand gewesen ist. Mit herausgegeben von Kirsten v. Elverfeldt, Katharina Kinder-Kurlanda und Hans Karl Peterlini. Klagenfurter Interdisziplinäres Kolleg, Band 12. Profil-Verlag München - Wien. 168 S., ill., € 38,-

Das „Interdisziplinäre Seminar“ an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt führt Studierende an die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Sichtweisen verschiedener Wissen. schaftsdisziplinen heran, um sie für die komplexen Problemstellungen in der Praxis zu sensibilisieren. Die in diesem Band versammelten Texte sind das Resultat eines „Interdisziplinären Kollegs“, das im Sommersemester 2021 stattfand. Studierende, Absolventen und Lehrende aus den Studiengängen Angewandte Kulturwissenschaft, Erziehungswissenschaft und Geographie nahmen daran teil. Daraus entstand eine wissenschaftliche Publikation, die viel Theorie enthält und Einblick in die Forschungspraxis gibt.

Der Band beleuchtet den Heimat-Begriff, der gleichermaßen fasziniert und irritiert. Er erlebt aktuell eine Renaissance - wie viele Begriffe, die durch gesellschaftliche Umwälzungen und Brüche in eine Bedeutungskrise geraten. Stichworte: Globalisierung, Digitalisierung, Vernetzung. Darauf weisen die Geographin Felicitas Kübler und die Pädagogin Agnes Stephenson hin: "Heimat ist ein vielschichtiger Begriff, in dem affektive Bezüge mit juristischen und politischen Debatten verschwimmen und der von Vieldeutigkeit und Widersprüchen geprägt ist." Die Sozialpädagogin Katharina Kavallar und die Kulturvermittlerin Verena Reumüller schreiben: "Der Heimatbegriff ist in seiner historischen Genese nicht unproblematisch. Heimat wurde vor allem ab dem 19. Jahrhundert häufig als rückwärtsgewandtes, konservatives Konzept verstanden." Die Kulturwissenschaftlerinnen Sophia Fritzer und Johanna Steindl beginnen ihren Beitrag: "Heimat ist ein ambivalenter Begriff, der sich nicht eindeutig definieren lässt. Gemeinhin wird Heimat mit lokalen Gegebenheiten in Verbindung gebracht - mit bestimmten Orten, Mitmenschen oder Traditionen, die Vertrautheit und Geborgenheit vermitteln und ein Gefühl der Beheimatung hervorrufen." Die Sozialwissenschaftlerin Miriam Fahimi weiß: "Heimat hat sehr viele Facetten … Im Konzeptualisierungsversuch von Heimat wird dabei zumeist ein positiver Bezug zur Heimat hergestellt: Heimat ist der Ort, an dem sich Menschen zugehörig und sicher fühlen, an dem diese aufgewachsen und zuhause sind."

Den ersten Essay - betitelt "Nostalgie, Abwesenheit, Verteidigung" - verfasste Roland W. Peball, Universitätsassistent für Kulturanalyse. Sein Befund zieht sich wie ein roter Faden durch alle neun Beiträge. Es geht um den Wandel des Begriffs "Heimat" und seiner aktuellen Konjunktur im politischen Diskurs. Der Kultur- und Sozialanthropologe Lukas Milo Strauss kritisiert die Versuche, den Heimatbegriff emanzipatorisch zu verwenden. Sophia Fritzer und Johanna Steindl beschäftigten sich mit transzendent himmlischer und immanent weltlicher Heimat. Sie interviewten dazu fünf Pfarrer und eine Ordensfrau. Deren Anschauungen waren von der Verknüpfung von Weltlichem und Transzendentem geprägt, sie sehen Heimat nicht (wie im Philipperbrief) nur im Himmel.

Katharina Kavallar und Verena Reumüller fragten nach der Möglichkeit eines inklusiveren Heimatverständnisses und nutzten dafür die Methode des Kritischen Kartierens. In einem Workshop ließen sie sechs Personen, die in Klagenfurt leben, ihr Bild der Stadt zeichnen. Erfahrungen, Gedanken und Wünsche sollten auf einem grob skizzierten Plan visualisiert werden. Dazu halfen Poster mit Einstiegsfragen und Symbole für Lieblingsorte, beängstigende und unbekannte Orte. Nach gut zwei Stunden meinten mehrere Teilnehmende, "dass sie sich Klagenfurt nun verbundener fühlen, über mehr Angebote und Orte Bescheid wüssten und inspiriert seien, diese … zu besuchen." Als sich einige später zufällig in der Stadt trafen, setzten sie sich in ein Lokal und diskutierten weiter. Workshop bezeichneten sie als bereichernde Erfahrung, die sie gerne fortsetzen wollten. Die Geographin Felicitas Kübler und die Pädagogin Agnes Stephenson beschäftigten sich mit Narrativen Landkarten aus der Perspektive von Geographie und Psychoanalytischer Pädagogik. Ihr Proband sah Heimat als Utopie, "als Ort, an dem alle Bedürfnisse gestillt werden und der Mensch sich … geborgen fühlt." Das Idealbild zeichnet sich durch ein Gefühl der Sicherheit und die Abwesenheit von Stress aus.

Der Pädagoge Horst Kanzian untersuchte das Heimatverständnis fremduntergebrachter Kinder und Jugendlicher. Im Jahr 2019 wurden in Österreich 12.785 Kinder und Jugendliche in sozialpädagogischen Einrichtungen oder bei Pflegepersonen untergebracht. Was dem Kindeswohl dienen soll, führt dazu, dass diese Klientel ihre vertraute Umgebung verlassen und an einem fremden Ort mit fremden Personen eine neue Heimat finden muss. "Wenn gute bzw. vorhandene Relationen zu den primären Bezugspersonen bestehen, definieren die befragten Kinder jenen Ort, an dem sie aufgewachsen sind, und an dem eigentlich das Kindeswohl nicht gegeben war, als Heimat." Ist dies nicht der Fall, fungiert die stationäre Einrichtung als Ersatzheimat, in der sich wichtige Freundschaften ergeben, die in der eigentlichen Heimat nicht mehr vorhanden sind.

Die Pädagogin und Psychologin Lisbeth Gangl-Schwarz beschäftigt sich mit Kindern aus mehrsprachigen Familien. Sie betont die Vorteile der Mehrsprachigkeit und kritisiert die Praxis, die Herkunftssprache zum Verstummen zu bringen. Die Sozialwissenschaftlerin Miriam Fahimi setzt sich mit georeferenzierter Polizeiarbeit und der damit verbundenen Datafizierung von Heimat sowie dem Zuhauses als Heimat voll Gewalt auseinander. Die Autoren und Autorinnen diskutieren die Funktion von Heimat (im Singular) als Kampfbegriff sowie alternative Zugänge, die in einer Bezeichnungs-Verschiebung münden: Aus Heimat werden Heimaten (im Plural), verstanden als Prozess und Zustand, der nur gemeinsam erreicht werden kann. "Insofern ist Heimat kein Ort, sondern ein Zustand, in dem noch niemand gewesen ist."

hmw