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Trakehner#

(Und was sonst noch zu notieren war)#

Von Martin Krusche#

Meine Projekte zielen nie auf ein einzelnes Event. Die Prozesse. Die Verzweigungen. Die Begegnungen. Die Arbeit am ganzen Leben. So befinde ich mich zu Menschen im Kontrast und verbringe oft Stunden, in denen sich völlig verschiedene Lebensweisen berühren, mitunter verzahnen. Wer wäre mit weniger zufrieden?

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Es kommt gelegentlich so. Wollte mich jemand fragen, ob ich ein Naturliebhaber sei, wäre meine spontane Antwort: „Nein!“ Dann aber stehe ich vor so einem Wesen, das an meiner Hand schnuppert. Ein Trakehner, hab ich mir sagen lassen. Ich bekomme ein blödes Grinsen im Gesicht und spür schon, daß mich diese Begegnung den Rest des Tages nicht mehr auslassen wir.

Die Trakehner gelten als leistungsfähige Reitpferde. Ihrer Geschichte nach waren sie aber auch schon Militärpferde und schließlich Pflugpferde. Das bestätigt mir mein Kaufmann, den ich, wann immer möglich, in seiner Gemischtwarenhandlung gerne von der Arbeit abhalte, damit wir übers Leben plaudern können.

Gregor Mörath sagt, seine Leute hätten einst Pferde gehabt. „Noriker?“ Nein. Er meint, seine Oma habe vom Trakehner gesprochen. Sie sehen, ich komme gleich zu Beginn völlig vom Thema ab, denn eigentlich hatte ich mit Fotograf Richard Mayr noch unsere erste Erhebung abzuschließen, die ausgewählten Objekte für da kommende Buch zu fotografieren.

Zur Sache!#

Ingrid Binder und ihre Tochter Tamara waren so entgegenkommend, sich etwas Zeit für uns zu nehmen, um die Kapelle aufzusperren. Der Bau ist ein prägnantes Beispiel für unsere Thema. Volksfrömmigkeit bewegt Menschen mitunter, als eine sehr private Befindlichkeit, für solche Objekte zu sorgen, sie zu betreuen. Manche aber, wie Unternehmer Wolfgang Binder, lassen sie überhaupt erst erbauen.
Die Kappele steht auf Privatgrund.
Die Kappele steht auf Privatgrund.

Solche Objekte kommen also nicht von Institutionen, nicht von der Kirche. Es ist ein persönlich umgesetztes Empfinden. Und das unter Einbeziehung eines alten kulturellen Codesystems. Ein Vorrat an Zeichen und Symbolen, die allgemein verstanden werden, falls einem das Thema nicht völlig fremd ist.

Die Figuren stammen vom Holzschnitzer Johann Pendl und erzählen in ihrer konkreten Zusammenstellung eine eigene Geschichte. Zur großen Lindenholz-Statue, die Jesus darstellt, notierte Pendl, wir seien eingeladen, „dem Blick Jesu nicht auszuweichen“.

Zugkraft und Tempo#

Aber, klar, ich war auf diesem Terrain dann bald beim anderen Thema, der Mobilitätsgeschichte. Zum Gut Forsthof gehört ein Gestüt und ein Fahrstall. Fünf Jahrtausende des kentaurischen Paktes zwischen Menschen und Pferden drücken sich unter anderem in diesen Zusammenhängen aus.

Pferde werden in ihrer Zugkraft zwar von Ochsen übertroffen, aber sie sind sehr viel schneller als die Rinder. Dazu kommt, daß man auf einer Kuh zwar prinzipiell auch reiten könnte, aber man käme naturgemäß kaum voran, während Pferde geeignet sind, daß man mit ihnen Kontinente überquert.

Zugkraft und Tempo. Beides haben wir Menschen über Jahrtausende von den Pferden geliehen, um eine Vielfalt von Kulturen zu entwickeln, zu entfalten. Sowas poltert mir dann durch den Kopf, wenn ich von so einer Tour heimkomme.

Aber eigentlich ging es ja um die Kapelle. Auf Ost-West ausgerichtet. Möglichst schlicht gehalten, mit hochwertigen Baumaterialien erreichtet, „damit diese Kapelle Generationen ohne großen Aufwand erhalten bleibt“. Das ist eine Referenz an Überlegungen, die mir in der Gegend von einem Bauernsohn, der zum Tierarzt wurde, als „bäuerliches Denken“ erläutert wurde.

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Und zwar: „Bäuerliches Denken ist anders. Das funktioniert nicht wie normales Geschäftsleben. Das ist ein Generationenvertrag. Da zählt: was übergibt der Bauer der nächsten Generation?“ So Hannes Resch, der mir auch erzählte: „Wir waren der letzte Vollerwerb in Pirching.“

Gelebte Sozialgeschichte#

Aber ich stand nun auf einem ganz anderem Terrain. Ingrid Binder hatte mir eben die Flächen genannt, die von ihnen hier und in Ungarn bewirtschaftet werden. Das ist schwindelerregend, wenn man bedenkt, daß die meisten kleinen Selbstversorgerwirtschaften der Oststeiermark vier bis elf Hektar hatten.
Von links: Richard Mayr, Ingrid und Tamara Binder.
Von links: Richard Mayr, Ingrid und Tamara Binder.

Der Name Binder steht also für einen komplexen Mischkonzern, in dem sich ein Stück regionaler Sozialgeschichte abbildet. Aus der alten agrarischen Welt mit den kleinen Selbstversorgerwirtschaften konnte unmöglich Wohlstand entstehen. Die Kargheit der einstmals eher rückständigen Region ließ sich erst durch Momente der Industrialisierung überwinden. Neue Jobs für ansässige Talente. Neue Einkommensmöglichkeiten, neue Kaufkraft für Güter und Dienstleistungen. So entfaltete sich stellenweise ein urbanes Leben. Das ist der Bogen…

Manche bäuerliche Betriebe, wie jener der Familie des Bürgermeisters von Ludersdorf-Wilfersdorf, Hans-Peter Zaunschirm, waren größer. Er hatte mir vom Noriker-Zug und dem eigenen Pferdeknecht erzählt. Ein oststeirisches Ausnahme-Beispiel. Ich hab in Graz einmal gesehen, wie eine Noriker-Stute einen Straßenbahnwagen zieht. Das half mir bei der Vorstellung, was Pferde an Traktionskraft aufbringen. Man ahnt, was ein Gespann mit sechs bis acht Pferden wegziehen kann.

Über Hausherr Wolfgang Binder habe ich gehört, daß er geübt sei, sechspännig zu fahren. Das bedeutet unter anderem, man muß sich auf das Wesen der Pferde verstehen, um sie passend anzuordnen, denn wie in jedem Team der Welt können Charaktere aneinandergeraten, die sich nicht vertragen.

Pferdekraft#

Zwei Stangenpferde, zwei Mittelpferde und zwei Vorderpferde, das ergibt außerdem für mich ein eher unüberschaubares Gewirr von Riemen, Ketten und sonst noch was. Schwer vorstellbar, wie im 19. Jahrhundert die Industrialisierung mitunter nahelegte, bei manchen Frachten zwölf bis achtzehn Pferde vorzuspannen.
Die Glocke mit einem Durchmesser von 32 cm stammt vom Glockengießer Grassmayer aus Innsbruck und trägt die Inschrift: „Ich läute für Familie Binder für Schutz und Gesundheit!“
Die Glocke mit einem Durchmesser von 32 cm stammt vom Glockengießer Grassmayer aus Innsbruck und trägt die Inschrift: „Ich läute für Familie Binder für Schutz und Gesundheit!“

Im Vergleich dazu müssen frühe Streitwagen, die es vor Jahrtausenden gab und die mitunter weniger als hundert Kilo gewogen haben, für die meisten Menschen eine geradezu außerirdische Erscheinung an Tempo und Wendigkeit gewesen sein. Ich erinnere mich gut, wie ich im Militärhistorischen Museum von Wien geraume Zeit vor jenem großen Gemälde des Ludwig Koch stand, das den Ulanen-Oberst Maximilian von Rodakowski in der Schlacht bei Custozza zeigt, wie er mit erhobenem Kavalleriesäbel auf einen zureitet. (Ulanen waren eine mit Lanzen bewaffnete Kavallerie-Gattung.)

Aber auch davon bekommt man eigentlich erst eine brauchbare Vorstellung, wenn man real sieht, wie mächtig solche Kavalleriepferde sind; wohl ähnlich einem der alten Trakehner, dem ich bei Binder einen Apfel geben durfte. Sein Stockmaß, also die Körperpartie, in welcher sich der Hals aus dem Leib erhebt (Widerrist), lag deutlich über meiner Schulterhöhe.

So einem Tier möchte man nicht im Weg stehen, wenn es heranstürmt. (Da rede ich noch gar nicht von jenem angriffslustigen Oberst mit dem schweren Säbel, der draufgepackt sein könnte.) Also egal, wohin ich auf diesem Anwesen blicke, dauernd lenkt mich was ab und zerrt mich in ein anderes Themengebiet; wie zum Beispiel das Reetdach auf einem Pavillon.

Sowas hab ich zuletzt in jenem feinen, kleinen Freilichtmuseum von Vorau gesehen. Bauten mit Reetdach, wohlproportioniert, wie gegen jedes schlechte Wetter geduckt und wohl auch gegen Sommerhitze. In Vorau gehört übrigens auch ein Steirerwagerl zur Sammlung. Das ist nicht bloß eine steirische Angelegenheit, sondern ein leichter Kutschentyp für die Freizeit der Altvorderen, einst mit genau jener Bezeichnung – Steirerwagerl – auch in anderen Ländern bekannt.

Kutschen und Geländefahrzeuge#

Was ich dann am Gut Forsthof noch zu sehen bekam, macht etliche thematische Querverbindungen auf. Durch meine Arbeit an der Kulturgeschichte die Steyr-Puch Haflinger habe ich beides vertieft, mein Interesse an der Koexistenz von Menschen und Pferden ebenso wie die Frage nach dem Werden der Offroad-Fahrzeuge.
Ein Sportgerät, für das man besser sehr gut in Form ist.
Ein Sportgerät, für das man besser sehr gut in Form ist.
Zwei Klappverdecke, hoher Schwerpunkt: ein Landauer.
Zwei Klappverdecke, hoher Schwerpunkt: ein Landauer.

Naturgemäß sehe ich in der Feldartillerie jene Vorboten im Wagenbau, die zu unseren Allrad-Automobilen geführt haben. Nettes Detail: der Panzerwagen von Austro-Daimler - als ein früher Meilenstein dieses Genres - war zwar aus heutiger Sicht eher wenig geländegängig, aber schon ein 4WD, also ein Allrad-Automobil zu Zeiten, da es sowas eigentlich noch nicht gab… Vom einem frühen Rennwagen des Hauses Spyker abgesehen. (Und natürlich Porsches Experimente mit elektrischen Radnabenmotoren.) Diesen Austro-Daimler Panzerwagen hatte Kaiser Franz Josef verworfen, weil das Motorengeräusch die Pferde scheuen ließ.

Richard Mayr
Richard Mayr

Gespannfahren ist unter anderem ein Sport (Fahrsport) mit verschiedenen Genres. In Pircha konnte ich nun erstmals derartiges Sportgerät aus der Nähe sehen. Was also in der KFZ-Welt der G-Wagon wäre, den man mit entsprechend belastbaren Komponenten zum Sportfahrzeug aufrüsten kann, hat seine Entsprechung in der Kutschenwelt. Den Marathonwagen.

Der kentaurische Pakt: Ulanen-Oberst Maximilian Rodakowski, gemalt von Ludwig Koch.
Der kentaurische Pakt: Ulanen-Oberst Maximilian Rodakowski, gemalt von Ludwig Koch.

Der mag seine 600 Kilo auf die Waage bringen, aber wer eine Vorstellung hat, was ein Pferd an Zugkraft aufbringt, ahnt, was sich rührt, wenn man geübt ist, mit einem Zwei- oder Vierspänner loszulegen. (Ich nehme an, dazu ist man mit einem Reservesatz Bandscheiben gut beraten.)

Ich hatte dann mit Fotograf Mayr noch eine kurze Debatte, seit wann es Scheibenbremsen gebe, denn Klotzbremsen hat man hier nirgends mehr gesehen. Ich wußte es nicht. Das Konzept war in den 1890er Jahren schon bekannt, doch das erste europäische Patent datiert 1902: Die Lanchester-Scheibenbremse.

Was man freilich an den Kutschen noch schön sehen kann, sind die Drehschemel, also jenes Lenksystem, das die ganze Achse schwenkt. Die Achsschenkel-Lenkung, wie sie heute unsere Autos haben, wurde etwa Mitte des 18. Jahrhundert erdacht und 1816 in Deutschland patentiert.

Vor allem aber in den Bezeichnungen von Karosserieformen ist uns die alte Kutschenwelt noch präsent. Coupé und Cabriolet, Phaeton und Berlina, aber auch das Landaulet und einst das Tonneau, waren ursprünglich Kutschenformen.

Apropos Landaulet, diese Form des Klappverdecks finden man heute noch manchmal in der automobilen Oberliga. Das Wort steht quasi für den „kleinen Landauer“. Dessen Vollversion mit je einem Klappverdeck vorne und hinten habe ich in Pircha betrachten können.

So! Das alles gehört natürlich nicht zu unserem Projekt über die Klein- und Flurdenkmäler. Aber irgendwie doch, denn was gefertigt und gebaut wurde, um als Wegkreuz, Bildstock, Kapelle, was auch immer, über große Zeiträume Markierungen in unseren Lebensraum zu setzen, hat all diese Querverbindungen, ist mit unzähligen, höchst verschiedenen Leben verwoben.