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Die Ruine der Werkstatt des James Watt, Kinneil House. (Foto: Kim Traynor, CC BY-SA 3.0)
Die Ruine der Werkstatt des James Watt, Kinneil House. (Foto: Kim Traynor, CC BY-SA 3.0)

Zeit.Raum: Ein neuer Leviathan#

(Mein Europa)#

Eine Erzählung von Martin Krusche#

Ich bin ein Kind des Kalten Krieges und die Brut von Menschen, unter denen nicht bloß Mitläufer, sondern auch Täter waren. Über Verdun und Auschwitz hab ich gelesen, um zu begreifen, was mich mentalitätsgeschichtlich durchdrungen hatte. Srebrenica hab ich besucht, um diesen Schrecken physisch zu berühren. Mit Mariupol und Kramatorsk mußte ich nicht rechnen, aber es ist Faktum. Mein Europa will aus dem 20. Jahrhundert nicht herauskommen. Das wird viel Arbeit…

Serie zwo#

Zu dieser Einleitung der zweiten Serie meiner Episoden im „Zeit.Raum“ blicke ich auch kurz etwas weiter zurück. Ich hab hier eingangs markante Motive aus meiner eigenen Biografie aufgegriffen. Die Traumata und Schamgefühle aus dem Großen Krieg und aus dem Zweiten Weltkrieg hatten in meine Kindheit hereingespielt, das Klima meiner ersten Jahre geprägt.

Freilich war ich als Kind nicht in der Lage, all das, was mich über meine Leute erwischt hat zu dechiffrieren und zu begreifen. Ein Kind ist erst einmal loyal und muß den Elteren, den Verwandten, den Erwachsenen jede Lüge glauben. Dadurch wird das eigene Empfinden korrumpiert, dem man als kleines Menschlein plötzlich nicht trauen darf, wenn Erwachsene es mit ihren Legenden übersteuern. (Falls sie sowas nicht kennen, es teilt sich einem Kleinkind vor allem per Gewalttätigkeit und manche Grausamkeiten mit.) Aber dabei mußte ich es ja nicht belassen.

Dem folgten später mehrere Aufbrüche, Verhandlungen, Klärungen. Im Untergang Jugoslawiens ergaben sich für mich besondere Optionen. Da konnte ich solchen Themen und Phänomenen, dem Grauen des Krieges, den Konsequenzen der Brutalisierung ganzer Gesellschaften, als erwachsener Mann nachgehen. Ich war inzwischen belesen und für solche Gespräche gerüstet. So bin ich an etlichen Orten gewesen, wo es richtig weh tut, hab mich mit Tätern und Opfern des Krieges unterhalten können.

Heuer dann diese Überraschung. Das Ungedachte blieb nicht undenkbar, ereignete sich erneut. Mariupol steht exemplarisch vor meinen Augen, um auf die von Rußland überfallene Ukraine hinzuweisen. Verdun, Auschwitz, Srebrenica und Mariupol als vier Worte, die den Beleg ergeben, daß Europa, mein Europa, bisher nicht aus dem 20. Jahrhundert herausgekommen ist.

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Kant, Clausewitz und James Watt#

Dieses Europa träumt heute als winziges Gärtlein am Rande des eurasischen Riesen von seiner einstigen Vormacht in der Welt. So, träumend, verschläft es womöglich eine elegante Überfahrt in neue Verhältnisse. China hat nur noch wenige Schritte zur Weltmacht, die es vor langer Zeit schon einmal gewesen ist.

Rußland nimmt aus den alten Narrativen Kommunismus und Faschismus heraus, was sich gegenwärtig brauchen läßt, verwirft die liberale Erzählung komplett und macht sich voller Gewalttätigkeit zwischen China, dem westlichen Europa und dem atlantischen Pakt wichtig. Der Faschismus steht wieder in Waffen. Vor welcher Hintergrundfolie?

Diese einstige Vormacht Europas wurde erst einmal in zwei markanten Dokumenten deutlich. Im Vertrag von Tordesillas (1494) und im Vertrag von Saragossa (1529), womit sich Portugal und Spanien das Recht nahmen, die Welt jenseits von Europa auszuplündern. (Diese Verträge regelten die Revierfragen.)

Solche Expansion stützte sich in der Praxis unter anderem auf die Entwicklung eines damals neuen Schiffstyps. Mit den Karavellen wurden ab dem 13. Jahrhundert auf See plötzlich Distanzen bewältigbar, die vorher nicht überwindbar gewesen sind. Ein Technologiesprung mit erheblichen Konsequenzen.

Später ein Paradigmenwechsel. In der Dezember-Ausgabe „Berlinische Monatsschrift“ von 1784 erschien der Text „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ von Immanuel Kant, worin es schon im ersten Absatz heißt: „Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Die Aufklärung lieferte freilich auch Begriffe und ideologische Werkzeuge für sehr unerfreuliche Konzepte, schuf zum Beispiel Grundlagen für den Rassismus etc.)

Bald darauf, nämlich 1832, erschien „Vom Kriege“ des Carl von Clausewitz, herausgegeben von seiner Witwe. Diese Lektüre wurde für mich eine der staunenswertesten Erfahrungen, weil jene Komplexitätsbewältigung, die mir schon im aufkommenden Fernhandel der Renaissance aufgefallen war, nun – auf das Kriegshandwerk umgelegt – einen völlig anderen Eindruck von Europa schuf.

Es hat mich dabei auch und vor allem der sachlich-lakonische Tonfall überrascht, in dem der Meister sein Wissen verfügbar gemacht hat: „Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.“ (Buch I, Kapitel 1, Abschnitt 2)

Dieser Kompetenzbereich bekam bald darauf neue Möglichkeiten durch einen Technologiesprung, der die Raumüberwindung revolutionierte, vermutlich so radikal wie zuletzt die Reiterei von Dschingis Khan. Im Jänner 1769 erhielt James Watt das englische Patent Nr. 913, mit dem seine Optimierung der Dampfmaschine besiegelt wurde. (Quasi das Gründungsdokument der Ersten Industriellen Revolution.)

Wenn ich hier die Karavellen und die Dampfmaschinen erwähnt, Kant, Clausewitz und James Watt herausgegriffen habe, dann bloß, um in diesem düsteren Vorraum jener Ereignisse, für die der 8. Mai 1945 steht, an ein paar Punkten kurz ein kleines Funkeln zu erzeugen. Ich denke, wir müssen mindestens diesen Zeitraum betrachten, durchforschen und überprüfen, um aus dem herauszukommen, was gerade wieder nach uns greift; entlang der Markierungen Verdun, Auschwitz, Srebrenica und Mariupol. Ein neuer Leviathan…

  • Episode XIII: Mai acht (Mein Banzai Baby und das Drumherum)
    • (Zur Erinnerung an den 8. Mai 1945)

Bild 'kant'

Postskriptum#

Die Erstfassung dieses Textes online gestellt am 22. April 2022, dem Geburtstag von Immanuel Kant.