Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!
unbekannter Gast

"Wir verändern die Welt, aber wir erinnern uns nicht daran" #

Der Klimawandel ist zu einem "typischen" Normal geworden. Der Meeresbiologe Pauly erklärt dieses Phänomen mit einer kollektiven Wahrnehmungsverschiebung.#


Von der Wiener Zeitung (14. Mai 2023) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Sabine Ertl


Daniel Pauly ist ein weltberühmter, vielfach ausgezeichneter Meeresbiologe. Er forscht für 'Sea Around Us' an der University of British Columbia und wurde heuer mit dem Tyler-Preis, dem alternativen Umwelt-Nobelpreis, ausgezeichnet.
Daniel Pauly ist ein weltberühmter, vielfach ausgezeichneter Meeresbiologe. Er forscht für "Sea Around Us" an der University of British Columbia und wurde heuer mit dem Tyler-Preis, dem alternativen Umwelt-Nobelpreis, ausgezeichnet.
Foto: Name. Aus: Wikicommons, unter PD

Die Ozeane heizen sich auf. Der Mensch befeuert den Klimawandel. Die Weltmeere geraten aus dem Gleichgewicht. Der Mensch verkennt den Klimanotstand. Die Meere stehen vor einem Kollaps. Der Mensch ordnet die drohende Katastrophe als normal ein. Doch was bedeutet "normal"? Erst Anfang des Monats gab es wieder einmal einen Aufschrei der gesamten wissenschaftlichen Elite: In den Ozeanen entfalte sich jetzt gerade ein ominöses Erwärmungsereignis. Es handle sich um eine bleibende Anomalie. Waren es im 19. Jahrhundert konstant 2 Prozent, sind es jetzt 57 Prozent. Erwärmte Ozeane sind also zu einem "typischen" Normal, einer neuen Grenze, geworden. Im Grunde genommen geht es um zwei Dinge: einerseits um ein Erkennen und andererseits um ein Verkennen von Wandel.

Diese Art der verzerrten Wahrnehmung bezeichnete Daniel Pauly schon 1995 als Phänomen des "Shifting Baseline Syndroms" (SBS). "Wir verändern die Welt, aber wir erinnern uns nicht daran. Wir passen unsere Basislinie an ein immer neues Niveau an und erinnern uns nicht daran, was früher dort war. Um dieses Problem zu lösen, müssen wir lernen, mit der Vergangenheit in Kontakt zu bleiben und uns gleichzeitig weiter vorwärtsbewegen", sagt der legendäre Meeresbiologie im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Nun bedeutet seine Theorie nichts anderes als eine kollektive Grenzverschiebung. Es waren Fischer, bei denen er ansetzte. Pauly meinte, dass ältere Fischer sich sehr wohl daran erinnern würden, welche Fischarten es früher gab. Jüngere nicht. Folglich würden jüngere Fischer den jetzigen Zustand mit dem tatsächlichen Bestand in den Meeren mit ihrer ersten bewussten Erinnerung vergleichen.

Trügerisch ist, dass der Klimawandel schleichend voranschreitet. "Die Gefahr liegt vor allem darin, dass Menschen ihn nicht als solchen begreifen und sich aus diesem Grund auch nicht mental darauf einstellen. Wie sollte man in Ländern wie Österreich, die nicht ans Meer grenzen, an sterbende Fischpopulationen oder Überschwemmungen denken?" Junge Leute seien nicht mehr in der Lage, sich vorzustellen, dass die Dinge früher anders waren. Denn sie können sich gar nicht mehr daran erinnern, wie es war, nach einer Autofahrt Schwärme kleiner Mücken auf der Windschutzscheibe kleben zu haben. Diese existieren heute nicht mehr.

Natürlich könne man wissenschaftliche Studien über das Aussterben von Insekten schreiben, aber das sei etwas anderes, meint Pauly. Es handle sich um Daten, die nicht ankämen. "Wir sind gefangen zwischen dem, was tatsächlich passiert, und der Unfähigkeit, es nachzuvollziehen." Wie eben im Bereich der Fischerei, die tatsächlich schon kollabiert sei. Diese Krise ähnle unserer Wirtschaft. Hier versage nicht eine Sparte, sondern das ganze System. "Ein Tier, das sehr häufig vorkommt, wird immer seltener, bevor es ganz ausstirbt." So verlieren wir immer nur seltene Tiere. Diese werden überhaupt nicht als großer Verlust empfunden.

Eine Million Arten sind bedroht#

Als Beispiel nennt Pauly die Wandertaube: Sie sei wegen der traurigen Tatsache berühmt geworden, dass ihre Ausrottung eine ganze Generation mitbekommen habe und sich eben aus diesem Grund an ihre Existenz erinnere. Von Milliarden Wandertauben, die über Nordamerika den Himmel in riesigen Schwärmen verdunkelten, überlebte in einem Zeitraum von 20 bis 40 Jahren im 19. Jahrhundert keine einzige.

Ähnlich ging es den gewaltigen Bisonherden in Nordamerika. Sie wurden in knapp 15 Jahren ausgerottet. Normalerweise erstreckt sich die Auslöschung einer Art über viele Jahrhunderte. "Das ist auch die Ursache, warum uns die Dinge nicht mehr auffallen." Wir haben keine Kenntnis davon. Wir wissen zwar, dass manche Arten verloren gegangen sind, doch kennen wir das Ausmaß nur in abstrakten Fakten. Tatsächlich hat der Mensch seit 1970 etwa 60 Prozent aller Säugetiere, Vögel, Fische und Reptilien ausgerottet. Eine Million Arten sind bedroht. Sie werden das 22. Jahrhundert wohl nicht mehr erleben.

Obwohl Pauly seine Theorie schon vor 28 Jahren entworfen hat und diese im Grunde genommen nur eine Seite umfasst, schafft sie eine andere Sicht in vielen Bereichen. Vor allem im Naturschutz: Eine Studie der Umweltschutzorganisation Earth.org führt an, dass beispielsweise in Ostindonesien die Biodiversität in den vergangenen 30 Jahren rapide abgenommen hat. Viele Einheimische erinnern sich aber nur an eine geringere Fülle von Wildtieren in der Vergangenheit. In ähnlicher Weise wurde im bolivianischen Amazonien festgestellt, dass die Zahl der lokal ausgestorbenen Baum- und Fischarten falsch eingeschätzt wurde. Und eine Studie auf der Kenai-Halbinsel in Alaska ergab, dass infolge des Klimawandels mit schnellen hydrologischen Prozessen Veränderungen in der Qualität und Verfügbarkeit von lokalen Wasserressourcen unbemerkt blieben.

Was ist normal?#

Verschiedene Generationen nahmen und nehmen demnach Umbrüche anders wahr. Menschen schaffen sich kurzfristig eine neue Norm und können sich de facto weder eine gesunde Natur noch ein funktionierendes Ökosystem vorstellen, aber auch nicht den offensichtlichen Niedergang von Ökosystemen erfassen, was dazu führt, dass typische Krisenpunkte einfach an uns vorbeiziehen. Als Meeresforscher und Wissenschafter wird Pauly immer wieder nach seiner Einschätzung nach einem möglichen Kollaps der Meere gefragt. Er meint: "Wir befinden uns bereits mittendrinnen." In der Antarktis droht die Zirkulation in den Tiefen des Ozeans zum Stillstand zu kommen, während das Landeis schmilzt, Meeresspiegel steigen, und auch ein bevorstehender El Niño verheißt nichts Gutes.

In manchen Ökosystemen und Regionen sind die Grenzen der Anpassung erreicht. Laut Weltklimarat haben die Ozeane seit 1970 mehr als 90 Prozent der menschengemachten Wärme aus der Erdatmosphäre aufgenommen und sich dadurch kontinuierlich erwärmt. Den blauen Lungen unseres Planeten geht sprichwörtlich die Luft aus. In den vergangenen zehn Jahren hat sich weltweit die Zahl der sauerstoffarmen oder komplett sauerstofffreien Meeresregionen fast verdoppelt. Dort können weder Muscheln noch Krebse, Fische oder Pflanzen gedeihen. Bis 2050 könnten 90 Prozent aller Korallenriffe verloren gegangen sein.

Ozeane: Weniger Fische, mehr Plastik#

Haie, Delphine und Wale sind besonders gefährdet. Und speziell jene Arten, die in den oberen 100 Metern der Meere leben. Demnach besteht für knapp 25.000 Meeressarten ein spezifisches Klimarisiko. Schließlich ist die Ernährungssicherheit fischereiabhängiger Länder bedroht. Damit nicht genug, befinden sich aktuell 100 bis 140 Millionen Tonnen Plastikmüll in unseren Meeren. Und doch: Der Mensch hat sich an vieles gewöhnt. Ein einfaches Beispiel: War Plastikmüll an Stränden gestern noch unvorstellbar, ist er heute kaum noch wegzudenken.

Pointiert beschreibt die Lewis Pugh Foundation, eine gemeinnützige Wohltätigkeitsorganisation, die sich unter der Patronage des weltberühmten Eistauchers Lewis Pugh für die Erhaltung unserer Ozeane engagiert, dass unsere Wahrnehmung trügerisch sei. "Was ist schlimmer, als die Zerstörung der Umwelt nicht wahrzunehmen? Die Antwort: Zu glauben, dass es normal ist." Man möge sich einen gesunden Ozean vorstellen, voller Fische und frei von Verschmutzung. Und dann den gleichen Ozean, aber mit weniger Fischen und etwas Plastik. Und dann noch einmal mit noch weniger Fischen und noch mehr Plastik. Das letzte Szenario ist wahrscheinlich jenes, mit dem viele Menschen heute am vertrautesten sind. Viele sind sich nicht mehr bewusst oder haben vergessen, welche Vielfalt Ozeane früher aufwiesen. Würde man diesen Gedanken weiterformulieren, könnte man auf eine allmähliche Akzeptanz verschlechterter Umweltbedingungen als neue Normalität schließen.

Die US-Neuroforscherin Lisa Genova von der Harvard University meint zum Thema Klimawandel und Wahrnehmung: "Aufmerksamkeit ist unerlässlich, um eine Erinnerung zu schaffen." In anderen Worten: Wenn Sie selten Vögel in Ihrem Garten hinter dem Haus gesehen haben, als Sie aufgewachsen sind, wird das vollständige Verschwinden eher unbemerkt bleiben als bei jemandem, der jeden Tag ganze Schwärme davon gesehen hat. Es könnte bedeuten, dass sich die Biodiversität verändert und das Klima verschlechtert hat, ohne dass wir uns des wahren Ausmaßes der Schäden bewusst sind. Wenn wir uns des Zustands der Welt aus früheren Tagen entsinnen, können wir vergleichen, was der Klimawandel bereits angerichtet hat.

"Highway zur Klimahölle"#

Belegt ist die Veränderung unserer Umwelt immer durch fundierte Studien. Nicht zu vergessen die vielen Appelle von Politikern. So wie die drastischen Worte, die UN-Generalsekretär Antonio Guterres auf der vergangenen Klimakonferenz an die versammelte internationale Politprominenz richtete. "Wir sind auf dem Highway zur Klimahölle - mit dem Fuß auf dem Gaspedal!" Die Erkenntnisse sind in den Berichten des Weltklimarats (IPCC) auf zehntausenden Seiten nachzulesen. Der Kernsatz des Überlebenskits für die Menschheit lautet: Jeder Bruchteil eines Grades zählt. Es gibt zwar Strategien zur Anpassung an die Gegebenheiten, doch bei steigender Erderwärmung verlieren diese an Wirkung.

Wir können den Klimawandel nur verlangsamen, ihn aber nicht mehr rückgängig machen, meint Pauly. "Ich bin mir aber nicht sicher, ob uns das gelingen wird." Andererseits haben wir keine Alternative. Wenig tröstend stellt er fest: "Es wird auch nicht unsere gesamte Menschheit untergehen, doch könnten Küstenstädte wie Shanghai oder New York überflutet werden und enorme Hungersnöte auf uns zu kommen." Doch werden wir immer wieder lernen, uns anzupassen. Leider sind die Kosten, die diese Katastrophe verursachen wird, immens. Dazu kommen menschliches Leid und Schmerz und kulturelle Verluste.

Dabei wäre es so einfach, in Anpassungsstrategien zu investieren, mit Steuererhöhungen erneuerbare Energien oder Solarenergie zu finanzieren oder in andere Länder zu investieren. Aber: "Wer will schon beispielsweise dem Kongo ein Windrad zur Stromerzeugung bereitstellen?", fragt Pauly. Klar ist, dass wir nicht erwarten könnten, dass irgendjemand einen Politiker wählt, der Menschen Einschnitte aufzwingt und unpopuläre Maßnahmen verhängt. Politiker werden sich immer so verhalten, dass sie die Wähler gnädig stimmen.

Wir setzen alles aufs Spiel. Die Notwendigkeit eines globalen Schulterschlusses hat unser Bewusstsein noch nicht erreicht. Wir würden auch niemals außerhalb unseres eigenen Landes investieren, weil wir uns als Menschen nicht opfern noch verzichten wollen. Wir tendieren eher dazu, unangenehme Dinge zu vermeiden. Dazu gehört auch, sich Klimaextreme bewusst zu machen. Denn zur gängigen Norm gehört neben dem Verkennen auch Zögern.

Ein Beispiel ist das lange aufgeschobene Abkommen zum Schutz der Weltmeere. Es hat 20 Jahre gebraucht, um im März 2023 zum Abschluss zu kommen. Aber auch erst nach endlosen Marathon-Verhandlungen. Nun soll der Vertrag erstmals für 40 Prozent der Erdoberfläche einen umfassenden Schutz bedrohter Arten und Lebensräume ermöglichen. Bisher war nur 1 Prozent davon geschützt. Wenn es solche Abkommen nicht gäbe, wäre alles noch viel schlimmer, sagt Pauly. Dann würde überhaupt nichts passieren, und ohne Forschung würden wir nicht wissen, was passiert und vor sich geht. Schließlich kann die Wissenschaft gangbare Wege aufzeigen. Getrübte Intuition

Wir als Menschen sind nämlich nicht fähig, rein mit unseren Instinkten den Planeten zu retten. Sehr wohl können wir aber auf unmittelbare Gefahren reagieren, wie beispielsweise auf einen Sturm, der aufzieht. Wir suchen instinktiv Schutz. "Bei uns ist es eher die Intuition, die getrübt ist. Wir sind sehr wohl in der Lage, unsere Kinder zu schützen oder unsere Familie oder unseren engsten Freundeskreis. Aber unseren Planeten? Nein", meint Pauly. Er ist überzeugt davon, dass wir zwar eine Intuition für den nächsten Tag oder für die nächsten Jahrzehnte haben, aber nicht für die nächsten hundert oder tausend Jahre. Wir können unmittelbare Entscheidungen treffen, aber gleichzeitig sind wir unfähig, störende Tatsachen in Angriff zu nehmen. Auch ist der Klimawandel noch immer etwas nicht Greifbares und keine unmittelbare Gefahr. "Die Evolution hat uns darauf nicht vorbereitet." Dazu komme das begrenzte Maß an Altruismus, so Pauly. Wir seien nicht selbstlos genug, um die Welt zu retten.

Obwohl die Folgen des Klimawandels in Teilen der Welt bereits Realität sind: Dürre, Stürme, Hitzewellen, Brände, steigende Meeresspiegel, zerstörte Lebensräume, Hunger, Konflikte, Kriege, Krankheiten. Und auch wenn die Wissenschaft meint, dass wir uns mit den schlimmsten Auswirkungen vertraut machen sollten, passiert bisher zu wenig. "Ein Großteil der Katastrophe wird tatsächlich eintreten", warnt Pauly. Zunächst werde im Globalen Süden die Landwirtschaft der am stärksten bedrohte Sektor sein. Reisanbau werde nicht mehr möglich sein. Und ein Mangel am Grundnahrungsmittel Reis werde die gesamte Welt massiv beeinträchtigen.

Und doch werde die Menschheit überleben. "Wir Menschen als invasivste Art werden Wege finden, weil wir die Vergangenheit nicht vermissen." Wir haben eine erstaunliche Fähigkeit, uns von der Zukunft abzukapseln. Wie die Inuit, die seit 4.000 Jahren in einer gefrorenen Landschaft leben und gelernt haben, unter widrigsten Bedingungen zu existieren. Die Welt ändert sich jedenfalls rapide. Um es drastisch in Paulys Worten auszudrücken: "Wir halten uns weiter an die gewohnte Umgebung als Norm, denn sie erlaubt uns immer wieder, nicht zu handeln."

Wiener Zeitung, 14. Mai 2023