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Grundton Melancholie#

Von Sarajevo bis Lemberg, von Andric bis Andruchowytsch: Die literarische Reflexion des Bebens in den k.u.k-Nachfolgestaaten. Ein Mosaik.#


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung, 3. November 2018

Von

Stefan May


Der Ringplatz in Lemberg mit dem Rathaus, von Rudolf Bernt
Der Ringplatz in Lemberg mit dem Rathaus, von Rudolf Bernt
Illustration aus dem Kronprinzenwerk, Band 19 (deutsch), Seite 33., unter CC BY 4.0

"Erde aus Ungarn" - "Erde aus Polen" - "Erde aus Kärnten" - "Slowenische Erde" -"Tschechische Erde". Offiziere aus allen Teilen der Monarchie verabschieden sich vom toten Oberst. Zuletzt schüttet der jüdische Regimentsarzt Erde auf den Sarg: "Erde aus - aus - Österreich." (Franz Theodor Csokor)

Diese Szene aus dem Theaterstück "3. November 1918" spiegelt das Ende der Habsburger-Monarchie wider. Im Auseinanderbrechen des morschen Reichs bilden dessen Völker eigene, neue Staaten.

"Der Krieg war noch nicht zu Ende, als die Völker Kakaniens damit anfingen, nach Hause zu gehen. Am Ende des großen Krieges der Imperien begaben sich die Völker ins Machtvakuum und erfüllten sich auf diese Weise den uralten Traum der Selbständigkeit. Plötzlich gehörten die, die gestern noch in den Armeen des Kaisers dienten, zu den Siegern." (Richard Wagner, gebürtig aus dem einst zur Habsburgermonarchie gehörenden Banat)

Die Neuaufstellung Mitteleuropas kam einem gewaltigen politischen Beben gleich. Die Suche nach der literarischen Reflexion dieses Bebens in den Nachfolgestaaten führt bis an die Grenzen der k.u.k. Monarchie: von Sarajevo in Bosnien-Herzegowina nach Lemberg in Galizien.

Fokus auf Krieg#

In Sarajevo hat mit dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie vor 100 Jahren alles seinen Anfang genommen. Der in Travnik geborene bosnisch-kroatische Schriftsteller Ivo Andric ging noch zur Zeit der Monarchie ins Gymnasium von Sarajevo. Für sein Buch "Die Brücke über die Drina" hatte er den Literatur-Nobelpreis erhalten.

"Nach diesem großen Krieg stieß man unter den Intellektuellen oft auf solche Menschen, die auf eine besondere Art, aber auf nichts Bestimmtes im Leben zornig waren. Sie fanden in sich nicht die Kraft, sich mit dem Vergangenen abzufinden und sich anzupassen, aber auch nicht, die große Entscheidung in einem entgegengesetzten Sinn zu treffen."

"Der Abgang Österreich-Ungarns ist ja mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verbunden", sagt Hana Stojic, Leiterin des Regionalbüros des Literatur- und Übersetzungsnetzwerks traduki in Sarajevo. Sie stammt von hier und hat in Wien studiert. "Der Erste Weltkrieg, der ein Weltgeschehen war, hat diesen Abgang überschattet. Der Fokus der Schriftsteller war deshalb auf den Krieg gelegt und nicht auf die Tatsache, dass man nicht mehr zu Österreich gehörte."

Für den vom Krieg geprägten Autor Milos Crnjanski war seine Herkunft verschärfend: als ein aus dem damals österreichischen Siebenbürgen stammender Serbe. Er schrieb seine Kriegserlebnisse im schmalen, expressionistischen Roman "Tagebuch über Carnojevic" nieder. Wie er gehört auch der Kroate Miroslav Krleza zu den Chronisten der untergehenden Monarchie. Krleza war einer, der das Habsburgerreich kritisch sah und sogar der damals revolutionären Sozialdemokratie spöttisch-abschätzig gegenübertrat.

"Die Theorie von Staat und Überstaat, all die zahlreichen Rennerschen leeren Phrasen bildeten die Grundlage für die österreichische sozialistische Politik zur Zeit des Aufschwungs um die Jahrhundertwende, zur Zeit der Annexionskrise, am Vorabend des Weltkrieges und während des Krieges bis 1918. Diese kaiserliche Hofratspolitik befand sich in einer Sackgasse des Nachkriegschaos, als eines Tages dreiundzwanzig Millionen Slawen im Nebel verschwanden und sich so die Lügen von Symbiose, gemeinsamer Basis und Mission wie Phantome auflösten, und den Sozialisten blieb das Wiener Rathaus als einzige reale Grundlage zur Durchführung marxistischer Politik." (Miroslav Krleza)

Kroatien, Teil des Monarchie-Nachfolgestaats SHS (Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen), gehörte in der Doppelmonarchie zur ungarischen Reichshälfte. Ein ambivalentes Gefühl seines Landes gegenüber Österreich ortet der ungarische Schriftsteller György Dalos. Denn im sogenannten Ausgleich hatte Ungarn dem Kaiserreich alles abgetrotzt, was es in seinen Revolutionen bis dahin begehrt hatte. Und nicht nur das.

"Statt der hundertprozentigen Unabhängigkeit haben wir im Ausgleich das bekommen: Kroatien wie ein Kronland zu behandeln, sowie den Rumänen und den Kroaten und den Slowaken die ungarische Sprache in öffentlichen Ämtern aufzuzwingen", sagt Dalos. "Und das ist der Verrat der Monarchie. Das konnte nur die Monarchie garantieren: diese Unterdrückung der anderen Völker." Für Dalos war der Krieg vor allem im intellektuellen Bereich ein absoluter Bruch: "Denn damit endete die beabsichtigte Modernisierung der ungarischen Gesellschaft."

Dalos erkennt zwei Gruppen von Schriftstellern: "Die Populisten oder Volkstümler, deren Thema das Dorf war, wie Lászlo Néméth zum Beispiel. Und es gab die sogenannten Urbanen: Antal Szerb oder Sándor Márai. Bei denen ist der Grundton, und das ist vielleicht eine ästhetische Ähnlichkeit mit den Österreichern, die Melancholie."

Ungarn verlor nach dem Krieg mit einem Schlag zwei Drittel seines Territoriums und fünf Millionen Landsleute. Die Tschechoslowakei hingegen war neu entstanden, eine Doppelnation, die erstmals selbstbestimmt war. Bei den zahlreichen deutschsprachigen Prager Literaten finden sich aber keine Hinweise auf die veränderten Umstände: Egon Erwin Kisch ist weiterhin als Reporter unterwegs. Die neue Ordnung dient ihm bestenfalls als Kulisse, nicht als Thema.

"Kakanien"#

Robert Musil formuliert im "Mann ohne Eigenschaften" die abschätzige Bezeichnung "Kakanien" für die k.u.k. Monarchie. Kritik, Anbiederung, Distanzierung? Für den österreichischen Autor ''Martin Pollack hat die Literatur seines Landes die Österreicher im Ersten Weltkrieg keineswegs beschönigend oder selbstmitleidig beschrieben.

"Es war ein Desaster, gerade wenn wir von der Ukraine sprechen", sagt Pollack. "Es gab Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung, gegen die Ruthenen, die massenweise aufgehängt oder nach Thalerhof bei Graz gebracht wurden." Das finde sich schon bei Joseph Roth, ebenso wie die Erinnerung an die Erhängten bei Georg Trakl. "Es ist wert, dass man die Literatur heute mit neuen Augen betrachtet, dass man die rosa Brille abnimmt, mit der man Joseph Roth liest."

"Das Land hat in Westeuropa einen üblen Ruf. Dennoch ist Galizien, das große Schlachtfeld des großen Krieges, noch lange nicht rehabilitiert. Auch für diejenigen nicht, die Schlachtfelder für Felder der Ehre halten. Diese Heiligenbilder zwischen den Ähren der weiten Felder, an den Wiesenrändern, in den Waldlichtungen sind im großen Kriege vernichtet worden, durchlöchert, zerhackt, verkrüppelt und dort wieder aufgerichtet, bemalt, mit Inschriften versehen, wo der Bauern Opfermut so groß war wie ihre Frömmigkeit tief." (Joseph Roth)

Der aus Brody in Galizien stammende Roth und seine Zeitgenossen haben sich literarisch diesem Landstrich gewidmet, der das heutige östliche Polen und die Westukraine umfasst. Galizien ist eines der großen Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs, war aber auch eine Region dichter Religiosität, vom einstigen jüdischen Schtetl mit seinen bitterarmen Menschen bis zu den diversen christlichen Kirchen. Und Gali-zien hat einst wie jetzt auffallend viele Schriftsteller hervorgebracht, nicht zuletzt, als es Teil Polens war. "In der polnischen Literatur ist der Erste Weltkrieg, aber auch die österreichische Vergangenheit sehr ernsthaft und sehr gut verarbeitet worden, und das spielt auch kurioserweise jetzt in die neue Literatur hinein", sagt Martin Pollack.

Seit den Zeiten der Monarchie verbinden sich berühmte Namen der Literatur mit Lemberg: Leopold von Sacher-Masoch, Joseph Roth, Bruno Schulz, Stanislaw Lem. Lemberg, die Hauptstadt der Westukraine, früher Hauptstadt von Ostgalizien. Eine Stadt, die ihren Reiz aus dem Nebeneinander verschiedener Nationen bezieht. Auch viele der heutigen Literaten stammen aus Lemberg oder leben dort. Der Bekannteste von ihnen ist wohl Yurij Andruchowytsch:

"In dieser kleinstädtischen Welt der Häuser und Hinterhöfe bin ich aufgewachsen, zwischen Veranden und Mansarden, die vor gut hundert Jahren modern waren. Zu Zeit meiner Geburt lag diese Welt schon größtenteils in Trümmern, somit kann ich mich nicht an das Ganze erinnern, ich erinnere mich aber noch gut an jene seltsam gebeugten alten Männer und Frauen, die im galizischen Dialekt fluchten und lateinische Sprüche aus dem Gymnasium auswendig hersagen konnten und sich noch in den Jahren Chruschtschows und der Beatles so kleideten, als wären sie gerade aus der Tür getreten, um den Erzherzog Franz Ferdinand zu begrüßen."

Lemberg war stets ein Schnittpunkt von Kulturen und Lebensweisen gewesen, lange bevor die Eisenbahn die Stadt erreichte. Als Lwiw, Lwow, Lvuv oder eben Lemberg hat es Stile und Weltanschauungen, Religionen und Nationalitäten in sich aufgesogen und zu einem unverwechselbaren Bild seiner selbst verschmolzen. Die Habsburger haben Lemberg ebenso geprägt wie Sarajevo: Mit einer Corporate Identity, die über tausende Kilometer ihren Wiedererkennungswert hat.

Leopold von Sacher-Masoch
Vor dem Lemberger Café "Sacher.Masoch" steht eine lebensgroße Figur des Dichters (Leopold von Sacher-Masoch)
Foto: © WZ-Archiv

Habsburgische Stadt#

Vom multikulturellen Lemberg vor dem Ersten Weltkrieg ist nicht viel geblieben: Der polnische Staat siedelte seine Landsleute nach dem Zweiten Weltkrieg nach Westen um. Die Juden, die einst ein Drittel der Stadtbewohner ausgemacht hatten, wurden kurz davor ermordet. Der Erste Weltkrieg war in Lemberg in einen weiteren übergegangen, in dem Ukrainer, damals Ruthenen genannt, und Polen darum kämpften, wer hier das Erbe der Monarchie antreten solle. Die Polen blieben bis zum Zweiten Weltkrieg siegreich, dann zog die Front mehrmals über die Stadt und wieder zurück. Nachher gehörte Lemberg zur ukrainischen Republik der Sowjetunion, seit 1990 zur bis jetzt freien Ukraine, die im Osten seit Jahren wieder bedrängt wird.

Was geblieben ist und Lemberg architektonisch seinen Stempel aufdrückt, ist die Architektur der Gründerzeit: ganze Stadtviertel bestehen nahezu lückenlos aus Bauten, deren Farben zwar ausbleichen, deren Stuck abbröckelt und deren Putz abblättert, die aber Lemberg zu einer durch und durch habsburgischen Stadt machen: mehr noch als Wien, Zagreb oder Brünn.

Heute ist die Haltung zum Habsburgerreich zwiespältig: In manchem Lemberger Restaurant hängt das Bild des backenbärtigen Kaisers, Kaffeehäuser betonen ihre Tradition. Vor einem Lokal mit dem Namen "Sacher-Masoch" haben die Betreiber eine lebensgroße Figur des hier geborenen Dichters aufgestellt. Als Bezug zu seinen mitunter frivolen Texten kann man dem Denkmal in die Hosentasche greifen und die metallenen Genitalien des Dichters berühren. Doch nicht nur geschmacklich kann man danebenliegen, auch mit der Auffassung einer heilen Welt von gestern.

"Man lebte nicht friedlich zusammen, wie der dem heutigen Klischee angepasste Mythos nahelegt, man ging sich vielmehr erfolgreich aus dem Weg." (Richard Wagner)


Stefan May, geboren 1961, lebt als Jurist, Journalist und Autor in Berlin und Wien.

Wiener Zeitung, 3. November 2018