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"Putin will zur Sowjetunion zurück"#

Der Osteuropa-Historiker Andreas Kappeler erklärt, warum die Ukraine für Russlands Präsidenten so wichtig ist.#


Von der Wiener Zeitung (13. Februar 2022) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Gerhard Lechner


"Wiener Zeitung":Wladimir Putin ist nicht nur in der Weltpolitik hochaktiv, er ist vergangenen Sommer auch unter die Historiker gegangen. In einem Artikel bezeichnete der russische Präsident Russen und Ukrainer wörtlich als "ein Volk". Warum?

Andreas Kappeler ist emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Er gilt als einer der besten Kenner Russlands und der Ukraine im deutschsprachigen Raum
Andreas Kappeler ist emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Er gilt als einer der besten Kenner Russlands und der Ukraine im deutschsprachigen Raum.
Fozo: privat

Andreas Kappeler: Putin ist in der Sowjetunion groß geworden. Er sieht die UdSSR als Modell an, zu dem er zurückkehren will. In der Sowjetunion gab es die Doktrin der Völkerfreundschaft. Die Dominanz der Russen über die anderen Völker war dabei aber nie in Frage gestellt. Die Ukrainer waren zwar als Nation anerkannt. Sie hatten eine eigene Republik, wenn auch mit wenigen Kompetenzen. Dazu kommt die sprachliche, kulturelle und historische Nähe zwischen Ukrainern und Russen. Die meisten Ukrainer waren in der späten Sowjetunion stark russisch assimiliert. Die ukrainische Sprache war marginalisiert. Sie wurde vor allem unter Bauern und einigen Intellektuellen noch gesprochen und in Galizien, im nationalbewussten Westen des Landes. Putin begegnete vor allem diesen assimilierten Ukrainern, die auch im Staat und in der Partei eine große Rolle spielten. Aus russischer Sicht waren das Brüder, mit denen man immer gut ausgekommen ist.

Das änderte sich dann aber mit dem Zerfall der UdSSR 1991.

Plötzlich gab es eine unabhängige Ukraine. Und damit haben sich die russische Öffentlichkeit, die russische Politik und auch Wladimir Putin nie abgefunden. Die Abspaltung anderer Republiken war auch nicht leicht hinzunehmen, die Trennung von den Ukrainern, den kleineren Brüdern, schmerzte viele Russen aber besonders - bis heute. Putin ist da nicht alleine.

Weil Sie von der UdSSR als Modell für Putin gesprochen haben: Glauben Sie, dass Russlands Staatschef eine Art Sowjetunion wiedererrichten will? Es wird ja immer davon gesprochen.

Es gibt dieses berühmte Zitat Putins, in dem er den Untergang der Sowjetunion als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet hat. Das weist darauf hin, dass er das Ziel hat, das Imperium - in welchen Grenzen auch immer - wiederzuerrichten. Putin will Russland wieder zu einer Weltmacht wie zu sowjetischen Zeiten machen, eine Macht, die den USA und China ebenbürtig ist. Das ist das zentrale Ziel seiner Außenpolitik. Die Bedeutung dieses postimperialen Traumas für Russland hat der Westen lange unterschätzt. Ex-US-Präsident Barack Obama hat ja einmal gesagt, Russland sei bloß eine Regionalmacht. Das hat nicht nur Putin, sondern viele Russen gekränkt. Heute strebt man danach, wieder gefürchtet zu werden. Und das ist ihm mit dem gewaltigen Truppenaufmarsch jetzt gelungen.

Nun ist Russland trotz des Zusammenbruchs der Sowjetunion immer noch ein riesiger Staat. Ist es nicht ohnehin ein Imperium, auch heute noch?

Der ehemalige US-Geostratege Zbigniew Brzezinski hat zwar einmal geschrieben, ohne die Ukraine sei Russland kein Imperium mehr. Ich glaube aber, dass er sich da geirrt hat - wenn man nur an Sibirien und dessen wirtschaftliche und geopolitische Bedeutung denkt, die für Russland wichtiger ist als die Ukraine. Dennoch will Putin natürlich verhindern, dass sich Kiew ganz in die Arme des Westens begibt.

Hat Putin das nicht selbst befördert mit seiner Politik gegenüber der Ukraine?

Ja, seine Politik hat zur Abwendung der Ukraine von Russland entscheidend beigetragen. Putin sieht die Sache allerdings anders: Demnach hat der Westen unermüdlich die Ukraine unterstützt in ihrer Loslösung von Russland. Putin schreibt ja auch in seinem Aufsatz von der heutigen Ukraine als westlichem Projekt.

Von einem "Anti-Russland"...

Genau. Er wirft dem Westen vor, die Ukraine als Aufmarschgebiet gegen Russland zu missbrauchen.

Ist da nicht auch was dran?

Es stimmt schon, dass der Westen die Ukraine in ihren Bestrebungen zu Demokratie und Loslösung von Russland unterstützt hat. Man vergisst dabei aber gelegentlich, dass dieser Prozess nicht vom Westen initiiert wurde. Es war die Ukraine, die sich immer wieder um Westanbindung, um Beitrittsperspektiven zu EU und Nato bemüht hat. Der Westen hat ihr dabei ständig die kalte Schulter gezeigt und nie eine verbindliche Zusage gemacht. Auch das viel diskutierte Assoziierungsabkommen mit der EU, das im Herbst 2013 von der ukrainischen Regierung nicht unterzeichnet wurde, was den Euromaidan ausgelöst hat, war eine bescheidene Konzession. Es war die Ukraine, die sich für den Westen entschieden hat, nicht umgekehrt. Der Grund dafür war, dass für Kiew das westliche Modell ganz einfach attraktiver war.

Warum fürchtet Putin eigentlich einen Nato-Beitritt der Ukraine? Schließlich kreisen, seit die baltischen Staaten Nato-Mitglieder sind, die Aufklärungsflugzeuge der westlichen Allianz schon lange unweit von Putins Heimatstadt St. Petersburg, und Russland hat das hingenommen. Ist es das besondere Verhältnis zwischen Russen und Ukrainern, das da eine Rolle spielt?

Dass Putin die historische Einheit der Russen und Ukrainer in einem langen Geschichtsartikel zu beweisen sucht, zeigt, wie wichtig ihm dieses Thema auch persönlich ist. Er glaubt offenbar an die brüderliche Gemeinschaft zwischen Russen und Ukrainern. Ich habe selbst in einem Buch mit dem Titel "Ungleiche Brüder" diese Metapher vom großen Bruder und der kleinen Schwester benutzt. Das Gemeinsame ist da, man ist Mitglied einer Familie, aber es gibt doch ein klares hierarchisches Verhältnis: Der große Bruder ist der kleinen Schwester übergeordnet. Und solange sie ihm gehorcht, liebt er sie. Auch Wladimir Putin bewundert und lobt immer wieder öffentlich die ukrainische Sprache und Kultur und betont, wie nahe er ihr steht. Aber wenn die kleine Schwester nicht mehr pariert und sich sogar aus der Familie verabschieden will, da schlägt der große Bruder zurück. Leider ist es bei Familienstreitigkeiten üblich, dass sie heftiger sind als gewöhnliche Auseinandersetzungen.

Sowohl Russland als auch die Ukraine reklamieren das gemeinsame Erbe der mittelalterlichen Kiewer Rus für sich. Wie geeint war die Rus damals aber wirklich? Gab es diese mythische Einheit der Rus überhaupt oder überwogen die Unterschiede zwischen ihren Zentren? Schließlich handelte es sich ja um ein sehr großes Reich.

Das ist schwer zu beantworten. Es gibt keine Quellen, die über das Bewusstsein der Leute in der Rus Aufschluss geben. Aber es ist doch so, dass im alten Kiewer Reich eine Fürstenkoalition regiert hat, die tatsächlich das ganze ostslawische Gebiet, das dann orthodox wurde, umfasste. Insofern gab es schon viele Gemeinsamkeiten. Was aber noch interessant ist: In Putins Aufsatz taucht immer wieder das Bild der Wiedervereinigung auf. Dass die Ukrainer sich in der Geschichte immer danach gesehnt haben, sich mit dem großen russischen Bruder wiederzuvereinigen, von dem sie durch die Fremdherrschaft der Polen getrennt worden waren. Das ist ein ganz zentrales Element des russischen Bildes von der Ukraine, das auch heute noch seine Wirkung entfaltet. Putin geht offenbar davon aus, dass ein großer Teil der Ukrainer wieder in den Schoß Russlands will.

Putin (r.) will auf Augenhöhe mit US-Präsident Joe Biden (l.) wahrgenommen werden. Die beiden Präsidenten haben am Samstag miteinander telefoniert.
Putin (r.) will auf Augenhöhe mit US-Präsident Joe Biden (l.) wahrgenommen werden. Die beiden Präsidenten haben am Samstag miteinander telefoniert.
Foto: © APAweb / afp, Jim Watson und Grigory Dukor

Ist der Umstand, dass auch heute noch viele Ukrainer Russisch sprechen, eigentlich nur ein Ergebnis der Russifizierungspolitik aus Zaren- und Sowjetzeiten? Oder gab es dieses sprachliche Band auch früher schon? Sie haben einmal erwähnt, dass man im 17. Jahrhundert Übersetzer benötigte, als Kiewer Abgesandte in Moskau waren.

Durch die Einflüsse der polnisch-litauischen Adelsrepublik haben sich die Ukrainer lange nach Westen orientiert und auch sprachlich eine eigenständige Entwicklung genommen. Im 17. Jahrhundert gab es eine ausgebildete ukrainische Schriftsprache mit einer Literatur und Kultur, die von westlichen Geistesströmungen wie dem Humanismus und der Reformation beeinflusst wurde, die es in Russland nur in Ansätzen gab. Die spätere Eingliederung der ukrainischen Gebiete ins russische Imperium trug dann aber zu einer ständigen Russifizierung bei. In der Sowjetunion hat die Ukrainisierungspolitik in den 1920er Jahren diese Entwicklung nur kurzzeitig gebremst. Dabei sollte man die Russifizierung nicht ausschließlich als Politik des Zwanges bewerten. Viele Ukrainer haben daran auch mitgewirkt, indem sie sich in den Dienst des Imperiums gestellt haben. Sie lieferten Anstöße für die Modernisierung und Verwestlichung Russlands, noch bevor sich Russland selbst im 18. und 19. Jahrhundert verwestlichte. Es kam zu einer Assimilation durch Aufstieg, die durch die gemeinsame religiöse Zugehörigkeit zur Orthodoxie erleichtert wurde und die ukrainischen Eliten auch sprachlich russifizierte. Als Ergebnis dieses Prozesses war zu Beginn des 19. Jahrhunderts Ukrainisch als Literatursprache faktisch ausgestorben. Erst durch die damals einsetzende Nationalbewegung wurde es wiederbelebt.

Die Ukraine wird immer wieder beschrieben als zwischen dem nationalbewussten Westen und dem russophilen Osten und Süden geteiltes Land. Selbst heute noch schneiden prorussische Politiker im Osten und Süden gut ab. Was denken die Menschen dort über die aktuellen Gefahren?

Wie Umfragen zeigen, ist eine weit überwiegende Mehrheit der Ukrainer loyal zu ihrem Staat - trotz der forcierten Ukrainisierungspolitik Kiews, die nicht überall gut ankommt. Man kann diese Politik zwar verstehen: Um sich gegen das übermächtige Russisch durchzusetzen, muss das Ukrainische besonders gefördert werden. Eine solche Politik stieß auf den Widerstand vieler russischsprachiger Ukrainer vor allem im Süden und Osten des Landes. Putin spricht diese Menschen ganz bewusst an und spielt sie gegen den ukrainischen Staat aus - nicht ohne Erfolg. Das ist gefährlich.

Wiener Zeitung, 13. Februar 2022