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vom 18.12.2021, aktuelle Version,

Die Büste des Kaisers

Die Büste des Kaisers ist eine Novelle von Joseph Roth, die im Dezember 1934 unter dem Titel „Le buste de l’empereur“ erschien[1] und vom 27. Juli bis 1. August 1935 in der deutschsprachigen antifaschistischen Tageszeitung Pariser Tageblatt vorabgedruckt wurde. Das Werk erschien 1964 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln .


Inhalt

Die Büste des Franz Joseph I.

Die Einwohner des ostgalizischen Dorfes Lopatyny – zwischen Przemysl und Brody gelegen – achten und lieben ihren Grafen Franz Xaver Morstin. Haben sie doch allen Grund dazu. Denn jene heftige Hilfsbereitschaft für die Bedürftigen ist die einzige Zerstreuung des Grandseigneurs . Aus altem polnischen Geschlecht stammend – mit Wurzeln in Italien – fühlt sich der Graf weder als Pole noch als Italiener, sondern als Österreicher, also als übernationaler Mensch . Wenn jemand aus der adeligen Nachbarschaft in seinem Beisein respektlos über Kaiser Franz Joseph spricht, so verkehrt er einfach nicht mehr mit dem Witzbold. Anlässlich eines Kaisermanövers hält sich Seine kaiser- und königliche Apostolische Majestät ein paar Tage im Schloß des Grafen auf . Bald darauf liefert ein Bauernbursche aus der Umgebung eine eigenhändig aus Sandstein gehauene Büste des geliebten Herrschers beim Grafen ab. Während des Krieges verbirgt der Graf die Büste im Schlosskeller. Nach dem Kriege muss der Graf in der American Bar in Zürich mitansehen, wie eine Kopie der Stephanskrone entweiht wird. Daheim in Lopatyny angekommen, lässt der Graf die Büste des verstorbenen Herrschers vor seinem Schloss wieder aufstellen. Eines Tages kommt der Woiwode von Lwow, das früher Lemberg hieß , auf einer Inspektionsreise durch seinen Machtbereich in Lopatyny vorbei. Fazit der Stippvisite: Die Büste darf auf dem Boden Polens nicht aufgestellt bleiben. Als der Woiwode fort ist, wird die Büste unter Anteilnahme der Dorfbevölkerung eingesargt und mit allen Ehrenbezeigungen beerdigt. Der Graf begibt sich hernach an die Riviera und möchte später einmal nicht in der Familiengruft bestattet werden, sondern gleich neben dem Grab mit der Büste des Kaisers.

Zitat

Die alte österreichisch-ungarische Monarchie starb keineswegs an dem hohlen Pathos der Revolutionäre, sondern an der ironischen Ungläubigkeit derer, die ihre gläubigen Stützen hätten sein sollen.[2]

Rezeption

In der Novelle stellt Joseph Roth die Vergangenheit beinahe wie im Märchen dar.[3] Er erschafft mit dem idyllischen, fern der modernen Zivilisation gelegenen Dorf Lopatyny den repräsentativen Mikrokosmos einer ideal-utopischen Vielvölkergesellschaft. Soziale oder nationale Konflikte können in dem patriarchalisch-feudalistisch strukturierten Gemeinwesen gar nicht auftreten, weil jeder seinen Stand und den des Mitmenschen akzeptiert und die Oberhoheit des Kaisers Franz Joseph respektiert.[4]

Auf sozialpolitischer Ebene kann die „Büste des Kaisers“ als ein Plädoyer für die Restauration der Monarchie verstanden werden.[5] Über die resignative Erkenntnis hinaus, dass Franz Joseph und sein Reich tot sind, hofft Morstin auf ihre Auferstehung. Schließlich kann der steinerne Kaiser nicht verwesen, d. h. die in ihm verkörperte österreichische Idee kann nie ungültig werden. Auf ihrer Grundlage, suggeriert Roth, ließe sich ein ganz neues Kaiserreich errichten.[6]

Auf psychologisch-biographischer Ebene lässt sich Roth in der Gestalt des heimatlos herumirrenden Grafen Morstin wiederfinden. Er hat seinen Vater nie gekannt und sehnte sich sein Leben lang vergeblich nach Heimat und väterlicher Geborgenheit, eine Sehnsucht, die er im Exil zunehmend auf den von ihm verklärten Kaiser Franz Joseph projizierte. Gegen Ende seines Lebens bemüht er sich noch einmal um die Bewältigung seines Vater-Traumas und bestattet mit der Kaiserbüste seine „beiden“ Väter, den toten kaiserlichen und den verschollenen leiblichen, auf symbolischer Ebene persönlich.[7]

Literatur

Quelle

  • Fritz Hackert (Hrsg.): Joseph Roth. Werke. Band 5: Romane und Erzählungen. 1930–1936. S. 655–676: Die Büste des Kaisers. Novelle. 1935. Mit einem Nachwort des Herausgebers. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-7632-2988-4.

Sekundärliteratur

  • Helmuth Nürnberger: Joseph Roth. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, Reinbek bei Hamburg 1981, ISBN 3-499-50301-8 (Rowohlts Monographien 301).
  • Thorsten Juergens: Gesellschaftskritische Aspekte in Joseph Roths Romanen. Universitaire Pers, Leiden 1977, ISBN 90-6021-411-0 (Germanistisch-Anglistische Reihe der Universität Leiden 16).
  • Ursula Renner: Ein Denkmal wird beerdigt. Die „Büste des Kaisers“ von Joseph Roth. In: Bärbel Götz, Ortrud Gutjahr, Irmgard Roebling (Hrsg.): Verschwiegenes Ich. Vom Un-Ausdrücklichen in autobiographischen Texten. Centaurus, Pfaffenweiler 1993, ISBN 3-89085-734-5, S. 125–146.
  • Gero von Wilpert: Lexikon der Weltliteratur. Deutsche Autoren A – Z. 4., völlig neubearbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2004, ISBN 3-520-83704-8, S. 519.
  • Wilhelm von Sternburg: Joseph Roth. Eine Biographie. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009 (2. Aufl.), ISBN 978-3-462-05555-9.

Einzelnachweise

  1. Sternburg, S. 434 Mitte
  2. Hackert S. 659
  3. Nürnberger S. 114
  4. Juergens S. 139
  5. siehe auch Sternburg, S. 434, 12. Z.v.o.
  6. Juergens S. 141
  7. Renner S. 141ff.