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vom 08.05.2021, aktuelle Version,

Rolf Kühn (Philosoph)

Rolf Kühn während eines Vortrags in Brüssel anlässlich der Verleihung des Cardinal Mercier Preises am 17. November 2005

Rolf Kühn (* 1944 in Essen) ist ein deutscher Philosoph auf den Gebieten der Phänomenologie, der psychologischen und philosophischen Anthropologie, Religionsphilosophie und Kulturphilosophie. Kühn ist ein Vertreter der von Michel Henry begründeten Lebensphänomenologie.

Leben

Rolf Kühn erhielt am Institut catholique de Paris im Jahr 1970 das Lizenziat für Katholische Theologie. 1985 wurde er an der Sorbonne Paris bei Claude Bruaire mit der Dissertation über Simone Weil zu den Themenfeldern Reflexionsphilosophie und hermeneutische Phänomenologie promoviert. 1992 habilitierte sich Kühn an der Grund- und Integrativwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien mit der Schrift Leiblichkeit und Lebendigkeit[1] zum Gesamtwerk Michel Henrys unter besonderer Berücksichtigung der lebenseidetischen Zusammenhänge von Subjektivität, Affektivität und Leiblichkeit. An der Universität Wien war Kühn von 1990 bis 2002 als Universitätsdozent tätig. Danach erhielt er Lehraufträge u. a. in Beirut, Nizza, Lissabon und Freiburg im Breisgau.

Seit 1985 arbeiten Rolf Kühn und Michael Titze zusammen. Aus dieser Kooperation ist in Tuttlingen die Gründung eines Forschungkreises für Philosophie und Psychotherapie entstanden, in dem die Integration der Lebensphänomenologie Michel Henrys in die Tiefenpsychologie diskutiert wird.[2]

Seit 1992 hat Kühn drei Hauptwerke und zahlreiche Aufsätze Michel Henrys übersetzt. Hierdurch und durch zahlreiche eigene Veröffentlichungen und Herausgeberschaften zur Henrys Lebensphänomenologie sowie durch Vorträge und Seminare hat Kühn einen Beitrag zur Rezeption des französischen Philosophen im deutschen Sprachraum geleistet. Kühn hat auch Maine de Biran übersetzt.

Gemeinsam mit Günter Funke gibt Kühn im Verlag Karl Alber seit 2005 die lebensphänomenologisch orientierte Reihe Seele, Existenz und Leben heraus. Im selben Verlag erscheint in der Herausgeberschaft von Rolf Kühn, Jann E. Schlimme und Karl Heinz Witte seit 2006 unter dem Titel psycho-logik ein Jahrbuch für Psychotherapie, Philosophie und Kultur.

Rolf Kühn lebt als Privatdozent und freier Autor in Gundelfingen bei Freiburg im Breisgau.

Position

Am Anfang des philosophischen Denkwegs von Rolf Kühn stand die Auseinandersetzung mit dem Denken Simone Weils. Die von der französischen Denkerin am Ende ihres kurzen Lebens formulierte Aufforderung zwischen Leben und Wahrheit zu wählen,[3] forderte Kühn dazu heraus, das Leben zu wählen als jenes ursprüngliche Erscheinende, welches jegliches Für-wahr-Halten in einem radikal-phänomenologischen Sinne erst ermöglicht. Dabei war für ihn die „radikale Lebensphänomenologie“ Michel Henrys derart inspirierend, dass man sicher lange denken konnte, Kühn verstehe sich lediglich als ein Sprachrohr derselben. Doch haben die nach der Jahrhundertwende und dem Tod Henrys im Jahr 2002 sich rasch verändernden Verhältnisse vor allem in den miteinander zusammenhängenden Bereichen der Religion, Ästhetik und politischen Ökonomie in dem Maße ein Weiterschreiben des Henry’schen Ansatzes erfordert, dass im Zuge des Wahrnehmens dieser Aufgabe die philosophische Eigenleistung Kühns immer deutlicher hervorgetreten ist. So hat er nicht nur die Rolle der Mystik und insbesondere Meister Eckharts für die gegenwärtige Philosophie weiter hervorgehoben, sondern auch wichtige Bausteine zu einer kulturkritischen Ästhetik geliefert sowie Folgerungen für die Gegenwart aus der Politik- und Wirtschaftskritik Michel Henrys gezogen. Bei all dem setzt Kühn sich entschieden nicht nur von allen am Wissenschaftswissen orientierten Ansätzen der Philosophie ab, sondern auch von der klassischen Hermeneutik und der so genannten postmodernen Philosophie (bzw. dem Poststrukturalismus oder Dekonstruktivismus), insofern all diese Ansätze von Voraussetzungen ausgehen, welche aber ohne eine vorherige lebendige Selbstgegebenheit eines denkenden, sprechenden oder wahrnehmenden Ichs in einem radikalen Sinne nicht möglich wären.

Als einen (bereits bei Henry schon so verstandenen) radikal-phänomenologischen Denker "avant la lettre" arbeitete Kühn jüngst den gewöhnlich dem französischen Spiritualismus des 19. Jahrhunderts zugeordneten Philosophen Maine de Biran heraus.

Kritik erfährt Kühns Position vor allem von Phänomenologen wie Bernhard Waldenfels oder (in der sachlichen Auseinandersetzung intensiver) Hans Rainer Sepp, die Kühn bestreiten, dass es angemessen sei, von einer ursprünglichen "Selbstaffektion" (des inkarnierten Lebens) zu sprechen, ohne gleichursprünglich die Bedeutung von "Fremdaffektion" zu bedenken. Auf der Linie dieser Kritik bewegt sich auch die von der Theologin Saskia Wendel formulierte Warnung davor, dass Kühns Philosophie des Christentums in der Gefahr stehe, einem theologischen Monismus zu verfallen, der das freie personale Gegenüber von Gott und Mensch im Grunde negiert.

Mitgliedschaften

  • Beirat des Mitteleuropäischen Instituts für Philosophie (Středoevropský Institut Filosofie SIF), Prag.

Veröffentlichungen

Monografien

  • Leiblichkeit als Lebendigkeit. Michel Henrys Lebensphänomenologie absoluter Subjektivität als Affektivität. Alber, Freiburg im Breisgau/München 1992, ISBN 3-495-47738-1.
  • Französische Reflexions- und Geistesphilosophie. Profile und Analysen. Hain, Frankfurt am Main 1993.
  • Husserls Begriff der Passivität. Zur Kritik der passiven Synthesis in der genetischen Phänomenologie. Alber, Freiburg im Breisgau/München 1998, ISBN 3-495-47884-1.
  • Radikalisierte Phänomenologie. Lang, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-631-50390-3.
  • Geburt in Gott. Religion, Metaphysik, Mystik und Phänomenologie. Alber, Freiburg im Breisgau/München 2003, ISBN 3-495-48087-0.
  • Gabe als Leib in Christentum und Phänomenologie. Echter, Würzburg 2004, ISBN 3-429-02553-2.
  • Innere Gewißheit und lebendiges Selbst. Grundzüge der Lebensphänomenologie. Königshausen & Neumann, Würzburg 2005, ISBN 3-8260-2960-7.
  • Anfang und Vergessen. Phänomenologische Lektüre des deutschen Idealismus. Fichte, Schelling, Hegel. Kohlhammer, Stuttgart 2005, ISBN 3-17-018529-2.
  • Wort und Schweigen. Phänomenologische Untersuchungen zum originären Sprachverständnis. Olms, Hildesheim 2005, ISBN 3-487-12910-8.
  • Patho-genese und Fülle des Lebens. Eine phänomenologisch-psychotherapeutische Grundlegung. Gemeinsam mit Renate Stachura. Alber, Freiburg im Breisgau/München 2005.
  • Pierre Maine de Biran – Ichgefühl und Selbstapperzeption. Ein Vordenker konkreter Transzendentalität in der Phänomenologie. Olms, Hildesheim 2006, ISBN 3-487-13087-4.
  • Macht der Gefühle. Alber, Freiburg im Breisgau/ München 2008, ISBN 978-3-495-48313-8.
  • Praxis der Phänomenologie. Einübungen ins Unvordenkliche. Alber, Freiburg im Breisgau/München 2009.
  • Lebensreligion. Unmittelbarkeit des Religiösen als Realitätsbezug. Text & Dialog, Dresden 2013, ISBN 978-3-943897-02-9.
  • Französische Religionsphilosophie und -phänomenologie der Gegenwart. Metaphysische und post-metaphysische Positionen zur Erfahrungs(un)möglichkeit Gottes. (FeG 15), Herder, Freiburg i.Br. u. a. 2013, ISBN 978-3-451-34167-0
  • Leere und Aufmerksamkeit. Studien zum Offenbarungsdenken Simone Weils. Text & Dialog, Dresden 2014, ISBN 978-3-943897-10-4.

Herausgeberschaft

  • Michel Henry. Zur Selbsterprobung des Lebens und der Kultur. Gemeinsam mit Stefan Nowotny. Alber, Freiburg im Breisgau/München 2002, ISBN 3-495-48087-0.
  • Epoché und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phänomenologie. Gemeinsam mit M. Staudigl. Königshausen & Neumann, Würzburg 2003, ISBN 3-8260-2589-X.
  • Existenzanalyse und Lebensphänomenologie. Gemeinsam mit Günter Funke und Renate Stachura. Alber, Freiburg im Breisgau/München 2006, ISBN 3-495-48162-1.

Literatur

  • Sophia Kattelmann, Sebastian Knöpker (Hrsg.): Lebensphänomenologie in Deutschland. Hommage an Rolf Kühn. Alber, Freiburg im Breisgau/München 2012, ISBN 978-3-495-48520-0.

Einzelnachweise

  1. Sophia Kattelmann, Sebastian Knöpker (Hrsg.): Lebensphänomenologie in Deutschland. Hommage an Rolf Kühn. Alber, Freiburg im Breisgau/München 2012, S. 10.
  2. Michael Titze: Die Organisation des Bewusstseins. Strategien der Typisierung in "normaler" und schizophrener Weltauffassung. Alber, Freiburg im Breisgau/München 2011, S. 28.
  3. Vgl. dazu: Simone Weil, Ecrits de Londres et dernières lettres, Paris 1957, S. 210 f., 213, 255 f. aus dem Jahr 1942/43; vgl. dazu auch: Dies., Lettre aux Cahiers du Sud sur les responsabilités de la littérature vom April 1941, in: Dies., Œuvres Complètes, tome IV, volume 1 (Écrits de Marseille), Paris, 2008, S. 71, in Bezug auf Henri Bergson: "Au centre de la philosophie (de Bergson) se trouve une notion essentiellement étrangère à toute considération de la valeur, à savoir la notion de vie". (Anmerkung: Wenn das Leben in sich keinen begrifflichen, allgemeinen "Wert" birgt (ein Schlüsselbegriff bei Simone Weil), dann gilt im Umkehrschluss, dass das Leben keine "Wahrheit" impliziert, denn die Wahrheit ist bei ihr der Grundwert aller Axiologie, Erkenntnislehre, Ethik und Religion).