Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!
unbekannter Gast

Geiringer, Hilda #

Pollaczek, von Mises


* 28.9.1893, Wien

† 22.3.1973, Santa Monica (USA)


Mathematikerin mit Spezialgebieten Angewandte Mathematik, Wahrscheinlichkeitstheorie, Plastizität, Vererbundslehre


Hilda Geiringer
Hilda Geiringer

Hilda Geiringer war die erste der in Wien promovierten Mathematikerinnen, die weiterhin in der Forschung tätig war, und sie war im deutschen Sprachraum die zweite Frau nach Emmy Noether (Göttingen,1919), die sich habilitieren konnte.

Hilda Geiringer wurde als zweites von vier Kindern am 28. September 1893 in Wien geboren. Die Familie stammt aus Stampfen, der Vater, Ludwig Geiringer, war Textilerzeuger, der Name ihrer Mutter war Martha, geb. Weinheimer. Der ältere Bruder, Ernst, studierte Handelswissenschaften, Paul, geboren 1894 in Nove Mesto (in der Tschechoslowakei) studierte an der Technischen Hochschule in Wien Maschinenbau. Der jüngste Bruder Karl (geboren 1899) sollte ein bekannter Musikhistoriker werden. Alle mussten später Wien verlassen und sie fanden in den USA eine zweite Heimat. Die Tochter von Hilda, Magda Tisza, lebt mit ihrem Mann in der Nähe von Boston.

Hilda Geiringer besuchte ab dem Jahr 1904 die Vorbereitungsklasse des Privat Mädchen-Obergymnasiums des Vereines für erweiterte Frauenbildung in Wien und sodann ab dem Jahre 1905 das Gymnasium selbst, wo sie im Jahre 1913 das Gymnasialstudium durch die Ablegung der Reifeprüfung abschloss.

Über diese Schule, oft Schwarzwald-Schule genannt, und über die Geschichte der sozialistischen Bewegung in Wien in der Zeit um dem 1. Weltkrieg findet sich vieles in dem sehr interessanten Buch [Scheuch 1985]. Im Kreis um Genia Schwarzwald verkehrten Adolf Loos, Oskar Kokoschka, Rainer Maria von Rilke und viele andere Persönlichkeiten der nicht nur kulturell so bedeutenden Vorkriegszeit. Sicher wurde die Liebe zur Literatur, die Hilda zeit ihres Lebens begleitete, hier begründet. Dass sie während ihrer letzten Schuljahre und sicher noch in den ersten Jahren des Studiums aktiv in der Jugendkulturbewegung tätig war, ist hier belegt (Scheuch 1985, S. 26):

Unter den anderen Mitgliedern der Jugendkulturbewegung in der Zeit Siegfried Bernfelds befand sich auch Hilde Geiringer, ... als kühl, blond und gescheit beschrieben, die später Mathematikerin wurde.

Ihre mathematische Begabung zeigte sich schon früh, so fiel ihr die Wahl des Studiums leicht. In ihrer Dissertation behandelt Hilda Geiringer das schwierige Gebiet der Verallgemeinerung der Theorie der Fourierreihen auf zwei Dimensionen. In ihrer Arbeit - und sie betont später immer wieder, wie dankbar sie Wirtinger für die Stellung des Themas war - studiert und vereinheitlicht sie die unterschiedlichen Ansätze, die es damals zu dieser Problemstellung gab, und gibt eine übersichtliche Darstellung.

Neben der Mathematik hat sie auch Vorlesungen von Ernst Mach besucht - sie blieb ihr Leben lang treue Anhängerin der Philosophie Machs; das war auch eine Gemeinsamkeit, die sie von Anfang an mit Richard von Mises verbunden hat, der ebenfalls - einige Jahre früher - Mach gehört und bewundert hatte. Sicher hörte sie auch Sigmund Freud (dessen Theorien ja ebenso wie die Relativitätstheorie von Einstein zu den meistdiskutierten Themen der Zeit gehörten).

An Hilda Geiringer, der es gelungen war, ihr Mathematikstudium mit der Dissertation Über trigonometrische Doppelreihen, in nur vier Jahren abzuschließen, ist die entbehrungsreiche Zeit des 1. Weltkriegs natürlich nicht spurlos vorübergegangen. Sie hat in einem Kindergarten, der jüdische Flüchtlingskinder aufgenommen hatte, mitgearbeitet, sie hat Verwundete betreut, und sie war sehr aktiv im Akademischen Frauenverein, wo sie Vorträge über das Frauenstudium hielt, und in der Friedensbewegung, tätig.

Da es in Wien keine Möglichkeit gab, wissenschaftlich tätig zu sein verließ Hilda Geiringer 1918 Wien, um in Berlin als Mitarbeiterin von Leon Lichtenstein an der Redaktion des Jahrbuchs über die Fortschritte der Mathematik zu arbeiten. Diese Stelle hatte ihr Wirtinger vermittelt. Daneben unterrichtete sie auch an der Volkshochschule. Ein Ergebnis dieser Tätigkeit ist das Buch [Geiringer 1922], in dem sie den Versuch unternimmt, die gesamte Mathematik und ihre Entwicklung populär verständlich darzustellen. Sie zeigt darin große Reife und umfassende Kenntnisse. Ihre philosophischen Ansichten sind sehr von Mach beeinflusst, doch nimmt sie auch andere Anregungen, wie die Approximationsmathematik von Felix Klein, auf. Wie ihre Heirat mit dem Wiener Felix Pollaczek und auch die oftmalige Erwähnung einiger Freundinnen zeigt, gab es um diese Zeit in Berlin eine Gruppe von Wiener Naturwissenschaftlern, zu der auch Hilda gehörte. Durch diese Gruppe, und natürlich auch durch ihre bereits publizierten Arbeiten, kam sie dann in Verbindung mit Richard von Mises, der seit 1920 persönlicher Ordinarius am neu gegründeten Institut für Angewandte Mathematik an der Universität Berlin war, und sie wurde 1921 Assistentin an diesem Institut. Im gleichen Jahr heiratet sie Dr. Felix Pollaczek, der bei Schur dissertiert hatte, und später für seine Untersuchungen in der Theorie der Warteschlangen bekannt wurde. 1922 wird ihre Tochter Magda geboren. 1925 trennt sie sich von Felix Pollaczek.

Als Assistentin von Richard von Mises entwickelt sie eine reiche Forschungs- und Publikationstätigkeit. Sie beschäftigt sich, angeregt durch von Mises nun mit Angewandter Mathematik, hält zahlreiche Übungen und Praktika ab, und arbeitet in der Redaktion der Zeitschrift für Angewandte Mathematik und Mechanik, ZAMM mit. Sie nimmt an vielen Kongressen teil und hat enge Kontakte mit einer großen Zahl von Fachkollegen. 1928 gelang ihr die Habilitation (als erste Frau im Gebiet der Angewandten Mathematik), und 1933 wurde für sie eine außerordentliche Professur eingereicht.

Die Zeit von 1933 bis 1973 (immerhin ihr halbes Leben) hat Hilda Geiringer nicht mehr im deutschen Sprachraum verbracht. 1933 verliert sie die Lehrbefugnis und die Stelle in Berlin. Für ein Jahr lang kann sie in Brüssel am Institut für Mechanik arbeiten. Im Jahr 1934 erhält sie ein Angebot aus der Türkei, als Professorin für Reine und Angewandte Mathematik an der Universität Istanbul zu wirken. Von Mises war bereits seit 1933 Direktor dieses Instituts. Auch andere Kollegen wirkten bereits dort. Sie alle, inklusive ihrer Tochter, die die französische Schule besuchte, waren in Istanbul sehr glücklich, hatten ein ausgezeichnetes Arbeitsklima und wurden sehr gastfreundlich behandelt. Drei Jahre durften sie auf französisch vortragen, dann auf türkisch. 1939 müssen sie allerdings auch die Türkei verlassen. Über Portugal und England kommen sie in die Vereinigten Staaten von Amerika, wo Richard von Mises ein Angebot der Harvard University hatte. Hilda unterrichtet dann bis 1944 in Bryn Mawr, unterbrochen von Kursen in Swarthmore, Haverford und der Brown University.

Am 5. November 1943 heiratet sie Richard von Mises, 1944 wird sie Head of Department of Mathematics im Wheaton College, Norton, Massachusetts, nahe von Cambridge, wo von Mises inzwischen McKay-Professor geworden war. Obwohl sie immer gerne unterrichtet hat, hat sie sich doch bemüht, eine entsprechende Stelle an einer Universität in der Nähe von Boston zu finden. Ihre Untersuchungen über Plastizität (wo sie als eine führenden Persönlichkeiten galt) und Genetik (ihre Pionierleistungen auf diesem Gebiet sind noch nicht untersucht) führt sie all diese Jahre weiter.

Nach dem plötzlichen Tod von Richard von Mises am 14.Juli 1953 ändert sich ihre Situation. Sie beschäftigt sich nun, neben ihren eigenen Untersuchungen, hauptsächlich mit seinem Nachlass, gibt etliche seiner Arbeiten und Bücher heraus, als Beispiel sei hier nur das letzte, und am meisten Arbeit erforderliche Buch Mathematical Theory of Probability and Statistics, 1964, erwähnt, das völlig neu bearbeitet und erweitert wurde. Nach der Pensionierung in Wheaton, 1959, ist sie noch einige Zeit als Research Fellow in Harvard tätig. Neben vielen Reisen beschäftigt sie sich jetzt wieder mit den Grundlagen der Wahrscheinlichkeitstheorie und mit historischen und philosophischen Problemen. Am 22. März 1973 stirbt sie in Santa Monica (wo sie ihren Bruder Karl besucht hatte) an Lungenentzündung.

Ehrungen, Auszeichnungen (Auswahl]#

  • Professor emeritus Freie Universität Berlin
  • Mitglied der American Acadmy of Arts and Sciences
  • Ehrendoktor Wheaton College
  • Goldenes Doktordiplom Universität Wien

Publikationen (Auswahl)#

Trigonometrische Doppelreihen, Monatshefte f.Math.u.Physik 29, (1918), 65-144.
Die Gedankenwelt der Mathematik, Verlag der Arbeitsgemeinschaft Berlin/Frankfurt am Main, 1922.
Zur Gliederungstheorie räumlicher Fachwerke, ZAMM 12, (1932), 369 -376.
Zur Verwendung der mehrdimensionalen Normalverteilung in der Statistik I und II, Monatshefte f.Math.u.Physik 43/44, (1936), 425 - 439, 97 - 112.
Contributions to the heredity theory of multivalents, Journal of Math. and Physics 16 (1948), 246 - 279.
Richard von Mises, Probability, Statistics and Thruth, Second revised edition, prepared by Hilda Geiringer, London, New York, 1957.
Richard von Mises, Mathematical Theory of Probability ans Statistics, edited and complimented by Hilda Geiringer, Acad. Press, New York, 1964.

Vollständige Liste in C. Binder, Hilda Geiringer: ihre ersten Jahre in Amerika.

Quellen#

  • C. Binder, Hilda Geiringer : ihre ersten Jahre in Amerika, in S. Demidov, M. Folkerts, D. Rowe and C. Scriba (eds.), Amphora : Festschrift für Hans Wussing zu seinem 65 (Basel, 1992), 25-53.
  • C. Binder, Beiträge zu einer Biographie von Hilda Geiringer - Jugend und Studium in Wien, GAMM Mitteilungen 1995, 61 - 72.
  • J.L. Richards, Hilda Geiringer, in L.S. Grinstein and P.J. Campbell (eds.), Women of Mathematics (Westport, Conn., 1987), 41-46.
  • R. Siegmund-Schultze, Hilda Geiringer von Mises, Charlier Series, Ideology, and the human side of the emancipation of applied mathematics at the University of Berlin during the 1920s, Historia Mathematica 20 (1993), 364-381.
  • F. Scheu, Ein Band der Freundschaft, Schwarzwald-Kreis und Entstehung der Vereinigung Sozialistischer Mittelschüler, Hermann Böhlau Nachf., Wien - Kön - Graz, 1985.



Redaktion: Christa Binder