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Madalina Diaconu: Sinnesraum Stadt#

Bild 'Diaconu'

Madalina Diaconu : Sinnesraum Stadt. Eine multisensorische Anthropologie. Lit-Verlag Wien - Berlin 2012. (Reihe: Austria Forschung und Wissenschaft - Interdisziplinär Bd. 9), 264 S., € 24,90

Madalina Diaconu ist Dozentin für Philosophie an der Universität Wien. Der vorliegende Band beruht auf Vorträgen und Aufsätzen aus den Jahren 2006 bis 2010: "Das Spektrum spannt sich zwischen psychologischen und neurowissenschaftlichen Synästhesieforschungen einerseits und einer phänomenologisch gedeuteten Synergie der einzelnen Sinne andererseits, zwischen kulturhistorischen und sozialanthropologischen Betrachtungen, und nicht zuletzt stilistisch zwischen Feldforschungsberichten und Essays", schreibt die Autorin einleitend.

Es geht um das Erleben einer Stadt, wie Wien, mit allen Sinnen. Eine Stadt hat Flair, wenn alle Sinne angesprochen werden - und nicht nur das Stadtbild gesehen wird. Flaneure und ihr weibliches Pendant, die Passante, wissen das schon lange. Sie entstanden als literarische Figuren im ausgehenden 19. Jahrhundert. Flaneure lassen sich durch Stadtviertel treiben, spüren ihren Rhythmen nach und atmen ihren Geruch, streifen durch die Großstädte, reflektieren und erzählen. Ähnlich, wie es später Sozialreporter oder Stadtforscher tun.

Dem intellektuellen und physischen Wohlgefühl der Stadtspaziergänger des 21. Jahrhunderts geht das Buch nach. Dabei geht es zunächst um Themen wie Entschleunigung, Meditation oder Erfahrungsqualität. Auch "Sinnesgärten", die schon das Mittelalter kannte, fallen in dieses Kapitel. Der gelehrte Dominikaner Albertus Magnus beschrieb schon um 1260 Lustgärten mit duftenden Pflanzen, die das Auge erfreuten. Heute planen Landschaftsarchitekten Sinnesgärten, die Freiräume bieten und die Lebensqualität steigern.

Ein weiterer Abschnitt nennt sich "Hautstadt", es geht um Oberflächen und Materialstrukturen, Dachlandschaften und Patina - Qualitäten, die sich beim "Denken im Gehen" erschließen. Überhaupt wäre mehr Achtsamkeit zu empfehlen. Da könnten blinde Menschen zu Flaneuren werden, denen sich die Stadt nicht-visuell erschließt. Dem Stadtmobiliar käme größere Bedeutung zu. Schon Adolf Loos hatte bemerkte, dass man sich auf einem Sessel im öffentlichen Raum nicht nur ausruhen, sondern "sich schnell ausruhen kann." Heute beobachtet die Autorin, dass die Bequemlichkeit eines Sitzmöbels nicht im Sinn der Stadtverwaltung liegt, die aufgestellten Bänke sollen nicht zu einem dauerhaften Aufenthalt verführen.

Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit Stadtatmosphären. Gerüche, die auf Geruchslandkarten verzeichnet werden, markieren olfaktorische Landschaften, die in einzelnen Stadtteilen sehr verschieden sein können. Auch "Duftarchive" und "Schulen der Nasen" gibt es bereits. Allgemein bekannter dürften moderne Konsumtempel - auch dort wird mit typischen Düften gearbeitet - sein. Bei "Altwaren, Sammler und Vintage" werden sich wohl viele Leser an eigene Erfahrungen erinnert fühlen. Schließlich geht es hier um Vintage. Der Begriff stammt aus der Weinkunde und bezeichnete ursprünglich nur den Jahrgang, später kam die Bedeutung des Qualitätsanspruchs dazu. In den 1990er Jahren kam der Begriff bei uns, auch als Adjektiv, zur Charakterisierung alter Designerstücke auf. Gemeint sind Objekte, auch Kleidungsstücke, die in der Zwischenkriegszeit bis in die 1980er Jahre entstanden sind. Keine Antiquitäten im strengen Sinn und auch nicht "Retro"- Imitationen. "Die Weltanschauung des Vintage stellt sich nämlich gegen die neue schöne Warenwelt der Schaffung immer neuer Bedürfnisse für das stets Neueste des Neuen." Individualität und Nachhaltigkeit sind gefragt, "Vintage bleibt mehr Style als Geldanlage". Das wissenschaftliche Buch ist stellenweise sehr speziell und nicht leicht verständlich. Doch die Lektüre wird belohnt, weil man danach die eigene Wohnumwelt ganz anders, nämlich mit allen Sinnen, entdeckt.