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Wolfgang Schmale: Mein Europa#

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Wolfgang Schmale: Mein Europa. Reisetagebücher eines Historikers. Böhlau Verlag Wien, Köln, Weimar 2013. 278 S., € 24.90

Der Autor ist Professor für Geschichte der Neuzeit und Vizedekan der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät an der Universität Wien. Als Historiker lernte er Europa kennen, von Island im Norden bis Marokko, wo in römischer Zeit der südliche Limes verlief. Seine "Reisetagebücher" erstrecken sich über eine lange Zeit und weit über die geographischen Grenzen Europas hinaus. Sie umfassen das Wissen des Fachmanns, der überall die Spuren von Antike, Mittelalter oder Neuzeit zu lesen vermag und viele persönliche Eindrücke.

Die Reiseleidenschaft von Wolfgang Schmale begann 1974, als ihm seine Eltern die Wahl zwischen zwei Maturageschenken überließen: Führerschein oder Paris-Aufenthalt. Er entschied sich für Paris, für ihn "die Stadt an sich". Die Stadt, in der er Nietzsche auf Französisch liest und die er im Buch als "Erinnerungsort europäischer Männlichkeit" (kulturell Männern zugeschriebene Eigenschaften) charakterisiert. Er findet sie überall in der Stadt, deren Monumenten und wohl auch Mentalitäten. Von 40 angebotenen historischen Spaziergängen ist (anders als etwa in Wien) kein einziger Frauen gewidmet. In Paris geht es um die "Grands hommes". Übrigens bildet das Thema der Gender Studies einen Schwerpunkt in der Forschungs- und Vortragstätigkeit des Autors. Er kommt im vorliegenden Buch immer wieder darauf zurück.

Die "Reisetagebücher" sind keine solchen im herkömmlichen, chronologischen Sinn. Sie verbinden Mythen, Ursprungserzählungen, Gestalten, Kunst und Architektur, Naturräume und historische Schauplätze zu einem gesamteuropäischen Roman. Die erste Reise, "West-östlicher Diwan" übertitelt, widmet sich Usbekistan. Die ehemalige Sowjetrepublik, seit 1991 ein unabhängiger Staat, bildet den kulturell interessantesten Teil Mittelasiens, durch den einer der alten Haupthandelswege führte. Die Europäer benannten ihn im 19. Jahrhundert als Seidenstraße. "Kulturell unterschied und unterscheidet Mittelasien/Usbekistan sich deutlich von Indien und China oder anderen asiatischen Regionen, aber ebenso vom imaginären Orient."

Armenien erscheint als "der Ort, wo viele Pfirsichbäume wachsen" und "selbstverständlicher Teil der christlich-muslimisch-jüdischen Welt". Die ersten Mitteleuropäer kamen im 16. Jahrhundert nach Armenien, wie der Niederösterreichische Adelige Hans Christoph Teufel um 1590. Ein rundes Jahrhundert später gründete Mekhitar von Sebaste (1676–1749) den später nach ihm benannten Orden. Das Wiener Mechitaristenkollegium besteht seit 1805, es war zwischen 1811 und 1998 für seine Druckerei in mehr als 40 orientalischen Sprachen berühmt. "Armenien war und ist in der religiösen Überlieferung ein Land des Ursprungs: Euphrat und Tigris entspringen im armenischen Hochland … Die Arche Noah strandete am Berg Ararat…" Das Christentum kam um das Jahr 300, die ältesten Kirchenbauten stammen vermutlich aus der Zeit vor dem 7. Jahrhundert.

Die dritte Reise führt nach Jerusalem, als "Ort vieler Ursprünge Europas" apostrophiert. Sein Name wird mit "Wohnung des Friedens" übersetzt. "… Jerusalem ist ei besonderer Ort in der Welt. So ist es nicht sentimental, wenn der Blick von oben auf Jerusalem unmerklich zu einer Anwandlung von Trance führt. Schönheit und Tod liegen so nahe beinander … wie seit eh und je in diesem Land, an diesem Ort." Athen charakterisiert der Autor als "Ort vieler Ursprünge Europas" und "Steinbruch der Erinnerung". Weite Teile des Textes sind realen Steinen gewidmet, der Akropolis, archäologischen Funden und der verloren gegangenen Farbwelt der Antike. Seit dem 18. Jahrhundert galt das Ideal des weißen Marmors als Widerspiegelung antiker ästhetischer Vollkommenheit.

"Dorische Säulen" sind auch in Serbien keine Seltenheit, das der Autor "ohne Wenn und Aber europäisch" nennt. Hier führt ihn Fortuna zur Erstausgabe von 1868 von Felix Philipp Kanitz' (1829-1904) Serbien-Buch. Der österreichisch-ungarischer Naturforscher, Archäologe und Völkerkundler wurde zum Namensgeber eines Vereins, der Austausch und gegenseitiges Interesse unter jungen Leuten fördern soll. In seiner Ansprache zur Gründung des Kanitz-Vereins betonte der Autor, "dass Europa nur ist, wenn es 'von unten' ist, das heißt, wenn man wie Kanitz zum Beispiel reist, beobachtet, spricht … das Gesehene und Erfahrene in etwas selbst Geschaffenes umsetzt".

Das Kapitel "Die Mitte - Europa zwischen Berlin und Wien" bildet auch fast die Mitte des Werks, ehe die Reisen zu David und Herkules in die Toskana, ein "Bilderbuch der europäischen Geschichte", nach Burgund ("Christianisierung und Revolution"), Paris und Dänemark, ein "Land europäischer Vernetzungen" führt. Es folgt noch ein Abschnitt über das Grenzland Kanada - zwei am Eingang des St. Lorenz-Golfes liegende Inseln gehören zum EU-Mitglied Frankreich - und Marokko. Für die antiken Autoren war Marokko ein Teil der Region Mauretanien. Die ältesten Beschreibungen finden sich bei Homer, viele Mythen blieben unverändert.

Der Universitätsprofessor, der das Buch mit einem persönlich gehaltenen Prolog eröffnet hat, beendet es im Epilog mit Betrachtungen über die Hölle, Historiker und Heimat. Er schließt mit dem Gedanken, was es für ihn heißt, Europäer zu sein: "Du hast Verantwortung, du als Individuum. Im Guten wie im Schlechten. Du kannst dich dem nicht einfach entziehen, denn es ist deine Heimat. Keine Geschichte ist nur deine oder nur die der anderen. Auf die eine oder die andere Weise sind es immer die Geschichten aller."