Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!
unbekannter Gast

Barbara Frischling: Alltag im digitalen Panopticon#

Bild 'Frischling'

Barbara Frischling: Alltag im digitalen Panopticon. Facebook-Praktiken zwischen Gestaltung und Kontrolle (Band 17 der Grazer Beiträge zur europäischen Ethnologie. Hg. von Katharina Eisch-Angus). Jonas Verlag Marburg 2014. 96 S., ill., € 18,-

Der Titel leitet sich von einem Konzept des britischen Philosophen und Begründers des klassischen Utilitarismus, Jeremy Bentham, ab. Sein "Panopticon" sollte die gleichzeitige Überwachung von Gefängnisinsassen oder Fabriksarbeitern durch nur einen Aufseher ermöglichen. Während dieser den totalen Überblick bewahrt, wissen die Kontrollierten nicht, ob sie gerade gesehen werden. Die Wirkmacht des Panopticons beruht auf dem Bewusstsein, stets unter potentieller Beobachtung zu stehen. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde das Modell in mehreren Strafanstalten umgesetzt.

Im 21. Jahrhundert wird das Konzept - auf freiwilliger Basis - mit digitalen Medien verwirklicht. 2004 erschien das soziale Netzwerk Facebook. Im ersten Jahrzehnt seines Bestehens hat es weltweit 1,32 Millionen Mitglieder. Durchschnittlich sind 55 % der Europäer täglich dabei. Österreich liegt mit 43 % unter diesem Wert, die Türkei mit 79 % am weitesten darüber. (Meldung in "Weekend" Nr 14, Juli 2014). Die Grazer Kulturanthropologin Barbara Frischling forscht schwerpunktmäßig über Informations- und Kommunikationstechologien im Alltag. In ihrem jüngsten Buch über "Facebook-Praktiken zwischen Gestaltung und Kontrolle" schreibt findet sie Parallelen zwischen dem "idealen Gefängnis" und dem digitalen Panopticon. Doch während es beim Bentham-Modell nur einen Aufseher gibt, "finden wir bei Facebook ein multiples Verhältnis von BeobachterInnen und Beobachteten vor." Die Nutzer können sich gegenseitig beobachten bzw. beobachtet werden, ohne etwas davon zu bemerken. Es ist immer nur ein Teil der Inhalte sichtbar. Der Blick auf das gesamte "Bild" bleibt dem Betreiber vorbehalten, der Zugang zu allen Daten hat. "Die Aktivitäten, die das Unternehmen im Hinblick auf die Speicherung, Weitergabe und Verknüpfung von Daten unternimmt, bleiben jedoch im Verborgenen."

Barbara Frischling begann die vorliegende Arbeit 2010. Damals verfügten rund 70 % der österreichischen Haushalte über einen Internetanschluss (2013 waren es 81 %). 2010 waren 2,173.340 österreichische NutzerInnen bei Facebook registriert. Den größten Anteil hatte mit 31,39 % die Gruppe der 18- bis 25-jährigen, gefolgt von den bis 34-jährigen (23,78 %) und den 13- bis 17-jährigen (19,25 %). Zusammen waren dies fast drei Viertel der NutzerInnen. Daher führte die Autorin ihre Gespräche mit jungen Frauen und Männern dieser Altersgruppen, auch zwei Kinder (damals 10 und 12) waren darunter, obwohl die offizielle Altersgrenze bei 13 Jahren liegt.

Nach der Einleitung, die Forschungsstand und Methode erläutert, gibt das Kapitel "Begriffsbestimmungen" klare Basisinformationen. Hier erfährt man, was man schon immer über die undurchschaubare Welt der digitalen Netzwerke wissen wollte.

Grundsätzlich geht es der Autorin um die "Nutzungspraxen zwischen Gestaltung und Kontrolle". Im Social Web verschwimmen die Grenzen von privat und öffentlich - vom Historiker Richard Sennett als "Tyrannei der Intimität" bezeichnet. "Was machst du gerade?" will der Bildschirm wissen. Merkmale der medial vermittelten Öffentlichkeit sind "Beharrlichkeit" - einmal Mitgeteiltes bleibt für immer im Netz -, "Suchbarkeit" - es ist wieder aufzufinden - und Vervielfältigung. Digitale Daten können einfach kopiert und dadurch aus dem Zusammenhang gerissen, werden. "Das Sichtbar-Werden von sozialen Beziehungen, von Kommunikation und Selbstdarstellung durch (unter anderem) visuelle Mittel bestimmt die Funktionsweise von Social-Web-Angeboten." Fotografien gelten als Beweismittel des Wahrheitsgehalts, doch unterliegen sie der Deutung. Das zeigt das Beispiel eines Schnappschusses von einer Exkursion, bei dem ein Professor mit einer Studentin tanzt. Aus dem Zusammenhang gerissen, könnte er zu Peinlichkeiten und falschen Schlüssen Anlass geben. Er wurde ohne Zustimmung der Abgebildeten ins Netz gestellt, was eigentlich verboten ist.

"Im multiplen digitalen Panopticon" (so der Titel des vierten Abschnitts) ist die Interpretation von Fotos der Kontrolle der Nutzerinnen völlig entzogen. "Auf die Frage, was sie an Facebook störe, antworteten meine GesprächspartnerInnen oft, dass sie es nicht gut fänden, wenn jemand dort sein ganzes Leben dokumentiere," fand die Autorin heraus. Auch der Umgang mit Facebook-FreundInnen sei "in hohem Maße ambivalent", schreibt Barbara Frischling. Sie geht auf die historische Bedeutung des Freundschaftsbegriffes ein, wobei "Freund" oder "Freundin" im deutschsprachigen Raum eine andere Bedeutung hat, als im amerikanischen Englisch, wo er viel lockerer verwendet wird. Vielen kommt es auf die Quantität der "gesammelten" Freunde an, da dies den eigenen Status erhöht. "Facebook-Freunde" müssen keineswegs "wirkliche Freunde" sein. Ein weiterer interessanter Aspekt ist die Zeit, "Zwischen Zeitverschwendung und Zeitersparnis". Durchschnittlich verbringen NutzerInnen täglich eine Stunde im sozialen Netzwerk, aufgeteilt auf Fünf-Minuten-Portionen. Frischlings InterviewpartnerInnen kamen meist von selbst auf den Zeitfaktor zu sprechen: "Einerseits ist es eine Möglichkeit, mit Leuten in Kontakt zu bleiben, andererseits auch ein Stressfaktor … ich würde sagen, sehr zwiespältig". Sogar eine mögliche Suchtgefährdung wurde von ihnen thematisiert.

Abschließend fragt die Kulturanthropologin nach der gesellschaftlichen Einbettung des Phänomens. Anhand der Beispiele wird erkennbar, "dass das Handeln auf Facebook nicht allein dem 'freien Willen' unterliegt, weil den NutzerInnen durch die Sichtbarkeit sowie durch die Interaktionen mit anderen NutzerInnen Zwänge auferlegt sind." Einer dieser Zwänge ist das Leitbld "unternehmerisches Selbst", das permanente Streben nach Optimierung. "Alle Lebensbereiche sollen ökonomischen Maximen unterworfen werden". Dem entsprechend will (muss) man sich auf der sozialen Netzwerkseite zum eigenen Vorteil präsentieren.

"Gesehen werden - andere sehen - sich selbst sehen", die empiriche Studie verdeutlicht, in wiefern Facebook in Weiterführung von Bentham als multiples, digitales Panopticon verstanden werden kann. "Insgesamt lässt sich sagen, dass die Nutzung von Facebook im Spannungsfeld von Gestaltung und Kontrolle die Ambivalenzen spätmodernen Lebens widerspiegelt," schreibt Barbara Frischling und schließt: "Statt eine Entwicklung zu beklagen, die - wie so viele in der Geschichte der Medien - nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, gilt es, nach den gesellschaftlichen Bedingungen zu fragen, die erst ein so großes Bedürfnis nach einem Instrument wie Facebook entstehen lassen, das die Kommunikation … erleichtert."