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Deborah Holmes: Langeweile ist Gift#

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Deborah Holmes: Langeweile ist Gift. Das Leben der Eugenie Schwarzwald. Residenz Verlag Salzburg 2012. 388 S. 28,90 €

„Gemeinschaftsküchen, Erholungsheime für Erwachsene, Kinderheime, Feriensiedlungen für Kinder, Altersgemeinschaft, Lehrmädchenheim, Bekleidungsaktion“. Die Institutionen, die Eugenie Schwarzwald auf ihren Briefkopf setzen ließ, beeindruckten in Vielfalt und Ausmaß. Ihre Gründerin war „ohne falsche Bescheidenheit“, meint Deborah Holmes. Die englische Literaturwissenschaftlerin, die auch in Wien lebt, widmet ihr eine umfassende und ausgewogene Biographie.

Schwarzwald, von ihren Zeitgenossen „Genia“ – weibliches Genie – oder „Fraudoktor“ genannt, wurde 1872 als Eugenie Nussbaum in einem Schtedtl in Ostgalizien geboren. Ihr Vater, ein Gutsverwalter, zog wenig später mit der Familie nach Czernowitz. Die Bewohner nannten die aufstrebende Universitätsstadt gerne „Klein-Wien“ und sich selbst „Bukowiener“. Leon Nussbaum betrieb dort ein Bureau für Werbung und Dienstvermittlung. Ein Sohn studierte Jus, wurde Magistratsbeamter, Zeitungsherausgeber, Universitätssekretär und schließlich Ehrenbürger der Stadt.

Die Tochter hatte diese Chancen nicht. Die einzige deutschsprachige Universität, die Frauen aufnahm, war die Hochschule in Zürich. Eugenie Nussbaum inskribierte dort 1895. Nach zehn Semestern wurde sie – als erste österreichische Frau – summa cum laude im Fach Germanistik promoviert.

Ein halbes Jahr später heiratete sie in Czernowitz. Ihr Bräutigam, Dr. iur. Hermann Schwarzwald, war im Staatsdienst tätig gewesen. Zwecks weiterer Studien zog er nach Wien und trat hier eine Stellung an. Die Frischvermählten, sie 28, er 29 Jahre alt, ließen sich in Wien nieder. Deborah Holmes erinnert an den Zeitgeist der Jahrhundertwende, „jenes gleichzeitige Auftreten revolutionärer Neuerungen in verschiedenen Bereichen - Literatur, Kunst, Philosophie, Psychologie und Politik“, und die kreative Spannung zwischen konservativen, alteingesessenen Bürgern und ehrgeizigen Einwanderern. „Die Schwarzwalds passen perfekt in dieses Schema … Aus diesen Kreisen kamen jene, die Villen bei Adolf Loos oder Porträts bei Gustav Klimt und Oskar Kokoschka in Auftrag gaben, die sich von Sigmund Freud analysieren ließen oder bei Ernst Mach und Arnold Schönberg studierten.“

1901 ergab sich für Schwarzwald die günstige Gelegenheit eine Privatschule zu erwerben. Sie legte Wert darauf, sie selbst zu leiten, bisher musste ein Mann Direktor sein. „Schon in diesem frühen Stadium begann sich das Muster herauszubilden, das für Schwarzwalds späteren Verkehr mit den Behörden typisch werden sollte. … Ihr Kampf darum, ihre Schulen so zu leiten, wie sie es für richtig hielt, glich bald einem Katz- und Maus-Spiel … Eine von Schwarzwalds Strategien bestand darin, die Unterlassungsaufforderungen des Ministeriums so lange zu verzögern oder schlicht zu ignorieren, bis sie irrelevant wurden.“ Das betraf die geforderte Zulassungsprüfung für Mittelschullehrer ebenso wie die Nostrifizierung ihres Schweizer Titels. Die positiven Ergebnisse der Inspektionen machten es den Behören schwer, gegen sie vorzugehen. Bald hatte sie 200 Schülerinnen, unterrichtet von Akademikerinnen, die als Rollenvorbild taugten. Auch Künstler und persönliche Bekannte, wie später Oskar Kokoschka, wurden engagiert.

Die Grenzen Schule und privat gestalteten sich fließend. Zum zentralen Schauplatz entwickelte sich das neue Domizil des Ehepaares. In der Josefstädter Straße 68 hatte es ein barockes Hinterhaus gemietet. Die Einrichtung hatte Adolf Loos für eine nach Amerika ausgewanderte Schauspielerin entworfen. Loos, Klimt, Kokoschka, die Schwestern Wiesenthal, die namhaftesten Musiker, Literaten und Schauspieler/innen waren Stammgäste des Salons. Ob in der Schule oder daheim, waren Feste ein wesentlicher Teil der „schöpferischen Bildung“, die Schwarzwald im Sinne der Lebensreformbewegung propagierte.

Ihr Ziel war „eine fröhliche Schule“, ihr Traum ein Internat auf dem Semmering. Mit 3800 m² Nutzfläche wäre sie Loos’ größtes Bauwerk geworden. Das Projekt regte ihn zur Abfassung seiner „Regeln für den, der in den Bergen baut“ an. Der Spatenstich war für 1. August 1914 geplant. Am 28. Juli erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Im und nach dem Ersten Weltkrieg gab es andere Prioritäten als die „Semmeringschule“.

Kurz vorher waren die Schwarzwald’schen Schulanstalten in die Wallnerstraße 9 übersiedelt. Loos hatte bei dem neuen Bürohaus die obersten Geschoße für ihre Zwecke gestaltet. Der Werbeprospekt aus dem Jahr 1915 zeigt eine „Dachgartenjause mit deutschen Verwundeten“. Die Not und Schwarzwalds „Gründerdrang“ führten zu einer Reihe neuer Projekte. Sie organisierte Ferienlager für Stadtkinder, Mädchenhorte, Kriegspatenschaften und Heime für Kinder von Kriegsgefallenen.

Besonders bemerkenswert erscheint die Aktion der Gemeinschaftsküchen, derer es in ganz Wien neun gab und die täglich 10.000 Personen verpflegten. Die Zentrale befand sich in der Thurngasse 11 im 9. Bezirk und war von Loos gestaltet. Die genossenschaftlich betriebenen Restaurants servierten ihren Mitgliedern dreigängige Mittagsmenüs zum Selbstkostenpreis. Die Gäste saßen an Vierertischen mit Tischtüchern und Blumen, alles „was irgendwie nach Ausspeisung aussieht“ wurde vermieden. Die Küchen, die mit Lesezimmern „zu Geselligkeitszentren veredelt“ werden sollten, bestanden bis 1927 und wurden dann vom Roten Wien übernommen. Nach ihrem Modell richtete Schwarzwald auch in Berlin Gemeinschaftsküchen als „Wiener Liebeswerk“ ein, die prominenteste war im Stadtschloss.

Wenngleich die Aktivitäten nicht ohne Kritik blieben (Ähnlichkeiten mit dem Ehepaar Schwarzgelber in Karl Kraus’ ‚Die letzten Tage der Menschheit“ drängen sich auf), charakterisiert die Biographin Eugenie und Hermann Schwarzwalds Haltung zum Krieg als „betont internationalistisch und pazifistisch“. Der Ehemann, der sich nach außen hin im Hintergrund hielt, aber seine Frau stets unterstützte, wurde in rascher Folge Oberfinanzrat, Hofrat und Sektionschef. In seiner Zeit im Finanzministerium hatte Hermann Schwarzwald an der Einführung der neuen österreichischen Währung und der Beendigung der Hyperinflation mitgewirkt. 1923 ging er als Beamter in Pension und wurde Präsident der Anglo-Austrian-Bank in Wien.

Genia Schwarzwald erfand wieder neue, zeitgemäße Schultypen wie „wissenschaftliche Fortbildungskurse“ und eine „Rechtsakademie für Frauen“. Von einer unkonventionellen Pädagogin entwickelt, zogen ihre Modelle andere unkonventionelle Pädagogen an. In den nachmittags leeren Klassen hatte schon Adolf Loos seine „freie Bauschule“ eingerichtet. Arnold Schönberg baute dort später ein Konservatorium auf.

Lebenslang setzte Genia Schwarzwald ihren „Kreuzzug für Lebensreform“ fort. Nach dem Modell der Gemeinschaftsküchen sollten „Verständigungsheime“ entstehen: ohne Alkohol, Trinkgeld, Kleiderpracht und „üble Nachrede“. Das Ideal war eine Gemeinschaft, in der soziale Unterschiede wegfielen und die Hochkultur gepflegt wurde. Im letzten Kriegsjahr mietete sie im slowenischen Thermalbad Topolschitz/Topolsica eine Ferienanlage. 1920 fand sie am Grundlsee im Salzkammergut die Liegenschaft „Seeblick“, in der sie ihre Version der Sommerfrische entwickelte. Das Gästebuch liest sich wie ein Who’s who europäischer Kulturschaffender.

Der Besitz musste in der NS-Zeit verkauft werden, der Erlös ermöglichte im September 1938 die Ausreise Hermann Schwarzwalds in die Schweiz. Seine Frau befand sich seit März auf einer Vortragsreise in Westeuropa. Es waren die „Kinder in aller Welt“ die ihnen das Leben retteten. Doch beide waren von schwerer Krankheit gezeichnet, Eugenie Schwarzwald vom Krebs, dem sie 1940 erlag. Ihr Mann war ziemlich genau ein Jahr davor an Hirnblutungen verstorben.

Genia Schwarzwald war fast 40 Jahre im Sozial- und Kulturleben aktiv. „Sie hat sich in vielen Herzen ein ewiges Denkmal gesetzt und viele Feinde gemacht“, erinnerte sich der Jurist Adolf Drucker. Deborah Holmes lässt Weggefährten und Widersacher zu Wort kommen, zeichnet Kontakte und Konflikte, Sozialaktionen und Selbstdarstellung, Netzwerke und Kontexte. Das war sicher nicht einfach bei einer Frau, die andere als „schillernde Figur“ oder „charismatische Persönlichkeit“ abtun. Aber Deborah Holmes hat ihre Aufgabe mit Bravour bewältigt.