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Nora Witzmann: Denk an mich!#

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Nora Witzmann: Denk an mich! Stammbücher und Poesiealben aus zwei Jahrhunderten. Österr. Museum für Volkskunde, Wien 2015, 109 S., ill. € 23,-

"Klein, aber fein" - wäre diese Redewendung nicht schon so abgegriffen, hier würde sie perfekt passen - sowohl für den Katalog als auch für die Exponate der Ausstellung. Mit der Reihe " Objekte im Fokus" rückt das Museum einen speziellen Teil seiner Bestände ins rechte Licht. Nach Judaica, Textilien und Waffen sind es rund 40 Stammbücher und Poesiealben aus dem 19. und 20. Jahrhundert.

Die liebenswürdigen Ausstellungsstücke sind nicht nur Objekte der Erinnerung, wie der Titel suggeriert, sondern auch beredte Zeugnisse der Alltagskultur. Originelle Ideen stehen neben sentimentalen Klischees und Stereotypen. Die Anfänge der Stammbuchkultur reichen bis zum 16. Jahrhundert und in das Umfeld der Wittenberger Reformatoren zurück. Besonders im Biedermeier spielten Poesiealben und lose Blätter in Kassetten eine Rolle als "Zeugnisse privater Beziehungen und historischer Netzwerkpflege von unterschiedlichen Kreisen". Kalligraphierte Verse, Zeichnungen, Malereien, Stickereien, Collagen und Haararbeiten erfreuten vor allem junge Damen. Die letzten Ausläufer der poesievollen, nostalgischen Kommunikationskultur waren die Kinderstammbücher des 20. Jahrhunderts.

Nora Witzmann, Kuratorin der Sammlungsbereiche Grafik, Malerei und religiöse Kleinkunst, hat die Ausstellung abwechslungsreich gestaltet und kompetent den Katalog verfasst. Einleitend schreibt sie: "Das Stammbuch war nicht für das kollektive Gedächtnis konzipiert. Abgesehen von einer gewissen Repräsentationsfunktion war es für die private Erinnerung der Besitzerin oder des Besitzers gedacht. Ihnen oblag es, wem sie Einblick gewährten oder wen sie um einen Eintrag baten."

Am Beginn, in dem 1540er Jahren, stimmten die Verfasser ihre handschriftlichen Einträge - oft in lateinischer Sprache - individuell auf die Empfänger ab. Die Alben des 16. und 17. Jahrhunderts hatten, vor allem in adeligen Kreisen, auch die Funktion von Gästebüchern. Frauenalben zeichneten sich durch Lieder und Gedichte aus. Andererseits pflegten gebildete Männer den Brauch. Bis ins 18. Jahrhundert entwickelte sich das akademisch-humanistische Stammbuch, das Studenten und Kavaliere auf ihren Reisen begleitete. So lässt Goethe im "Faust" den Schüler zu Mephistopheles sagen: "Ich kann unmöglich wieder gehen, ich muß Euch noch mein Stammbuch überreichen. Gönn' Eure Gunst mir dieses Zeichen!"

Im späten 18. Jahrhundert suchten die Bürger Empfindsamkeit und Verinnerlichung. Sie pflegten Seelenfreundschaften und teilten die Naturbegeisterung. Biedermeierliche Idylle und schwärmerische Liebe fanden Niederschlag im Poesiealbum, das nun seinen repräsentativen Höhepunkt erreichte. Daneben gab es Studentenalben, in denen man die Burschenherrlichkeit pries.

Ein "Album" musste nicht unbedingt ein Buch sein, auch kostbare "Schatzkästlein" für Loseblattsammlungen trugen diese Bezeichnung. Viele Blätter waren mit Goldschnitt versehen und bestanden aus festem, glattem Papier. Das verlangte schon der technische Fortschritt - um 1840 lösten Stahlfedern die Federkiele ab. Es gab immer mehr druckgrafische Widmungsblätter, obwohl das Repertoire an selbst angefertigtem Bildschmuck, gemalt, gestickt oder in anderen Techniken, unerschöpflich scheint. Sehr beliebt waren Scherenschnitte und eingeklebte, gepresste Pflanzen. Überhaupt spielte jene Symbolik eine Rolle, die sich in der "Blumensprache", einem geheimen Verständigungsmittel der Verliebten, fand. Eingeweihte konnten unter fast 700 Bedeutungen wählen. Klassisch - und in den Stammbüchern meist verbreitet - sind die Rose für die Liebe, Vergissmeinnicht für die Erinnerung, Veilchen für die Bescheidenheit und Stiefmütterchen als Zeichen des Andenkens. Geschrieben wurde, möglichst schön und ohne Tintenklecks, in Kurrent. Wer sich heute damit schwer tut, findet im Lesezeichen des Katalogs die einzelnen Buchstaben abgebildet, die Texte in der Ausstellung sind transkribiert.

Gegen 1900 wurde die Benutzergruppe immer jünger und das "Poesiealbum" immer mehr zur Sache der Schülerinnen. Oblatenbilder und Abziehbilder traten an Stelle der Aquarelle. Den Erwachsenen blieben Gästebücher und Fotos mit Widmungen, um Erinnerungen wach zu halten. Auch auf Fächern verewigten sich die Verehrer. Ende des 20. Jahrhunderts tauschten Kinder vorgedruckte Freundschaftsbücher mit Steckbrief und Passbild aus. "Poesie, selbst standardisierte Floskeln sind darin nicht mehr zu finden", schreibt Nora Witzmann. Das "historische Netzwerk der Erinnerung" sei ein Auslaufmodell. "Seine Wiederbelebung bleibt ungewiss."

Umso reizvoller ist die Lektüre des Katalogs mit seinem ebenso professionell wie liebevoll gestalteten Layout. Es stellt die einzelnen Bücher in informativen Texten und charakteristischen Bildern vor: Kalender als Stammbuch, Albumblattkassetten, Männeralben, Schatzkästchen, Klappkassetten mit Spiegel, Tanzfächer, Schülerstammbücher, in Leder gebundene Poesiealben. Darin fehlt selten der Klassiker "Ich schreibe mich auf's letzte Blatt, weil ich Dich am liebsten hab. Wer Dich lieber hat als ich, schreibe sich noch hinter mich".