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Ilse König: Wien für Fortgeschrittene#

Bild 'König'
Ilse König: Wien für Fortgeschrittene. Fotografien von Christian Fürthner. Styria Verlag Wien - Graz, 208 Seiten, ill., € 28,00

Es ist wohl ein Zufall, dass zwei fast gleichzeitig in verschiedenen Verlagen erschienene Bücher sehr ähnliche Titel tragen. Bei Amalthea schrieb Arik Brauer "Wienerisch für Fortgeschrittene", bei Styria Ilse König "Wien für Fortgeschrittene". Da erhebt sich die Frage, was jemanden als "fortgeschritten" in Sachen Wien qualifiziert. Oder wollten die Verlage mit dieser Titelwahl einfach ihre Produkte aus der Menge ähnlicher Werke hervorheben? Das Besondere an Königs Wien-Buch ist, dass es die jüngsten Stadtentwicklungen einbezieht. Historisches - wie man es erwartet und anderswo lesen kann - spielt eine geringere Rolle als die "Lieblingsorte" der Autorin, meist Restaurants oder Delikatessengeschäfte.

Wer glaubt, diese Stadt schon gut zu kennen, wird im neuen Stadtführer "Wien für Fortgeschrittene" noch einmal richtig überrascht, verspricht der Werbetext. Auf den ersten Blick überrascht das Layout, mit unkonventionellem Cover, der klaren Gliederung mit gelben Seiten ("Nachschlag" samt Karte, Informationen und Tipps sowie "Stories" zu Spezialthemen) und fantastischen Fotos von Christian Fürthner, der sich auf Architektur, und Stadtreportagen spezialisiert hat. Überraschend ist auch der Einstieg (im wahrsten Sinn des Wortes): Quer durch Wien mit der Linie D. Der D-Wagen fährt in einer knappen Stunde die elf Kilometer lange Strecke von der Absberggasse in Favoriten bis zu den Nussdorfer Weinbergen. Das erste Kapitel stellt die Umgebung von elf der 32 Haltestellen kurz vor. Ausführlicher beschrieben findet man sie später wieder.

Die erste Spezialtour für Fortgeschrittene ist dreigeteilt. Sie führt in die Innenstadt, mit der Straßenbahn über die Ringstraße und nach Hietzing. So erkundet man Anfängerzonen von der Maschekseite, "der anderen, unüblichen, hinteren Seite, a másik, wie es im Ungarischen heißt." In der Stadt, wie WienerInnen ihre City nennen, flaniert man am besten, wenn keine Touristen da sind, oder auf verschlungenen Pfaden. So entdeckt man, auch wenn das keine Geheimtipps sind, das Blutgassenviertel, eines der ältesten Wiens, den Heiligenkreuzerhof oder die Blumenstock- und Ballgasse. In Hietzing ist "nobel herumstreunen" angesagt. Auf dem Schleichweg nach Schönbrunn kommt man am alten Ortskern, dem Friedhof und interessanten Jugendstil-Villen vorbei.

Ein Aufschwung im Vierteltakt führt von der Seestadt Aspern zum Viertel Zwei, zu den denkmalgeschützten Resten der Trabrennbahn Krieau bis zum WU-Campus und dem Toboggan im Wurstelprater. Für Wien vielleicht überraschend, berührt die Tour berührt moderne Superlative: Die Seestadt Aspern zählt zu den größten Städtebauvorhaben Europas, ihr Holzhochhaus ist das zweithöchste weltweit. Nicht minder rekordverdächtig ist der Campus der Wirtschaftsuniversität: Mit sechs Gebäuden auf rund 90.000 Quadratmetern ist es eines der größten universitären Bauprojekte Europas, mit der in Wien wohl dichtesten Mischung spektakulärer Architektur von Weltrang. … Rund 30.000 Menschen studieren und arbeiten heute dort.

Faktenreich ist auch Eine sagenhafte Mischung im Nibelungenviertel. In einer Dreiviertelstunde erkundet man die Hauptbücherei am Gürtel, Stadthalle, Kleingärten auf der Schmelz, Heimhof und Meiselmarkt. Für die Markthalle wurde in den 1990er Jahren ein Wasserreservoir der Hochquellenleitung umfunktioniert. Die HQL ist das Spezialthema auf der gelben Seite.

Apropos Wasser, darüber kann man in den nächsten Kapiteln viel erfahren. Aus der Vielfalt schöpfen führt vom Stadterneuerungsgebiet Town Town in Erdberg u. a. nach St. Marx, durch den biedermeierlichen Sünnhof und in den Stadtpark. Die wilden Bäche Wiens sind hier Inhalt der Story. Weiter geht es zu Wien an der Donau. Einige Stationen sind Alte Donau, Donauinsel, Donaucity und das innovative Nordbahnviertel. Der zweite Bezirk erscheint als Insel mitten in der Stadt, durchzogen von Wegen zwischen dunkler Vergangenheit und Neubeginn. Seit der Zeit Kaiser Leopold I. - nach dem das Gebiet des ehemaligen Ghettos später benannt wurde - ist der Untere Werd untrennbar mit der Geschichte der Wiener Juden verbunden.

Ihr zweiter historischer Siedlungsschwerpunkt war der Obere Werd, die Rossau. In diesem Teil des 9. Bezirks besteht der älteste jüdische Friedhof Wiens. Er findet im Buch ausführliche Würdigung. Man liest über Sigmund Freud, das Gartenpalais Liechtenstein oder die Strudlhofstiege. Doch bei diesem Spaziergang für Leib und Seele liegt der Fokus auf dem Servitenviertel, die Namen gebende Kirche wird nur am Rand erwähnt. Im Mittelpunkt stehen - wie allgemein in diesem Stadtführer - die "Gourmandisen". Drei Seiten sind der Kulinarik von "Klein-Paris" gewidmet. Auf dem "Servitenplatz", der diesen Namen offiziell gar nicht trägt, war keineswegs eine Hinrichtungsstätte. Der berüchtigte Rabenstein befand sich von 1707 bis um 1850 an der Kreuzung Türkenstraße - Schlickgasse. Ein Galgen vor der Kirche wäre undenkbar gewesen.

Man verlässt den 9. und wendet sich dem 10. Bezirk zu, wo neuerdings Hauptbahnhof, Sonnwendviertel und Quartier Belvedere entstanden sind. An die alte Zeit erinnern das übel beleumundete Viertel "Kreta" nächst der Ankerbrotfabrik und der Böhmische Prater, einst das kleine Vergnügen der Ziegelarbeiter an der Peripherie. Ein "grüner Spaziergang mit Fernblick und Weinbegleitung" führt in stadtnähere Gefilde. In Ottakring gibt es Mischkost in der Vorstadt, beispielsweise auf dem Brunnenmarkt, in der Ottakringer Brauerei, Kaffeerösterei Meinl und beim Heurigen. Kulinarisch klingen die Erzählungen aus: Rund um den Naschmarkt findet man Hippes auf der Wieden und ein stiegenreiches Viertel in Mariahilf. Trotzdem bleiben Desiderate, Kirchen etwa kommen selten vor. Schließlich ist (wie von der Autorin zitiert) dem Stadtrat und Schriftsteller Jörg Mauthe (+ 1986) zuzustimmen: Man lege den Stadtplan aus der Hand und sei sich klar darüber, dass diese hoch differenzierte, vielgesichtige Stadt niemals ganz zu erforschen und zu erkunden sein wird - selbst dann nicht, wenn man ein ganzes Leben in ihr zubrächte.

hmw