Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!
unbekannter Gast

Ilsa Barea: Wien. Legende & Wirklichkeit#

Bild 'Barea'

Ilsa Barea: Wien. Legende & Wirklichkeit. Übersetzt und herausgegeben von Julia Brandstätter und Gernot Trausmuth, mit einem Nachwort von Georg Pichler. Edition Atelier Wien. 464 S., ill., € 38,-

55 Jahre sind vergangen, seit die österreichische Journalistin Ilsa Barea (1902-1973) ihr Wien-Buch verfasst hat. Erstaunlich, dass es erst jetzt aus dem Englischen übersetzt wurde - und noch erstaunlicher, dass es sich noch immer erfrischend und spannend liest, obwohl sich in Wien seit 1966 viel geändert hat.

Aktuell geblieben ist der Einstieg in das Buch und in das Verständnis von Wien: Der einfachste Weg, ein Verständnis für Wien zu entwickeln, besteht darin, von einem der westlich der Stadt gelegenen Hügel aus den Blick über das Donautal schweifen zu lassen… Leopoldsberg, Cobenzl und Kahlenberg sind solche Aussichtspunkte. Der bekannte Stammbuchvers von Franz Grillparzer darf dabei nicht fehlen: Hast du vom Kahlenberg das Land dir rings beseh’n, So wirst du, was ich schrieb und was ich bin versteh’n. Franz Grillparzer, "der bedeutendste österreichische Dichter", ist eine der Leitfiguren, denen man im Buch immer wieder begegnet. Im ersten Kapitel, Die Anfänge Wiens sind es auch Adalbert Stifter, Arthur Schnitzler und die Habsburger. Man lernt das Werden der Stadt, ihrer Vorstädte und den vermeintlichen Charakter ihrer Bewohner kennen. Was machte die Wiener zu dem, was sie waren - und sind? , fragt die Autorin und nennt komplexe Zusammenhänge, wie die Stadt als Schmelztiegel, die Funktion als Grenzfestung gegen Osten, Reformation und Gegenreformation, Beeinträchtigung der persönlichen und kommunalen Freiheiten oder äußere Unsicherheiten. Keine dieser Erfahrungen ist spezifisch wienerisch. Aber unter besonderen historischen Bedingungen festigten sie die Einstellung der Wienerinnen und Wiener und lösten Reaktionen aus, die seither zum "Wiener Charakter" gehören.

Vieles davon zählt zum Erbe des Barock, etwa Paläste, die Karlskirche, Porzellan, aber auch künstlerische Werke wie Mozarts Kompositionen, Opern und Theaterstücke. Als Chronistin dieser Zeit fungiert die Diplomatengattin Lady Mary Montague, die 1716 nach Wien kam. Sie pflegte Kontakte zu Mitgliedern der obersten Gesellschaft und schrieb ihre Beobachtungen über die Stadt in hren Embassy Letters. Diese stellen heute eine, wenn auch nicht immer zuverlässige, Quelle des barocken Wien dar. Das barocke Fundament des Wienerischen überlebte im Vokabular und in der Sprachstruktur, schreibt Ilsa Barea, die auch als Übersetzerin arbeitete. Sie zitiert Maria Theresia, die gesagt haben soll: Wir Österreicher haben eine sehr schlechte Sprache.

Im dritten Kapitel, Biedermeier geht es um Napoleon, Emanuel Schikaneder, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert, Ferdinand Raimund und Johann Nestroy, die napoleonischen Kriege, den Wiener Kongress und die Bevölkerungsexplosion. 1810 lebten in Wien 225.000 Menschen, eine Generation später waren es 330.000. Dies war vor allem auf kinderreiche Arbeiterfamilien zurückzuführen, die in kleinen und mittleren Fabriken Beschäftigung fanden. Rückblickend verwundert es kaum, dass ihre elenden Lebensumstände zu Revolution und Konterrevolution führten, wie sie Kapitel vier beschreibt. Das Revolutionsjahr 1848, Hof und Regierung, Kaiser Franz Joseph, Johann Strauss Vater und Sohn sind einige der Schwerpunkte, die Ilsa Barea behandelt. Mit ihrem ausgewogenen Werk distanziert sie sich von zeitgenössischen (und jüngeren) Publikationen: Bücher über Wien erschienen mit der Zeit in immer größerer Zahl. Die Inhalte der im Land verlegten Bücher kamen aber mit wenigen Ausnahmen der Realität ungefähr so nahe wie die stark retuschierten Werbefotografien unserer Tage. Heimische Journalisten beschränkten sich darauf, die lokalen Legenden zu kultivieren.

Viele Mythen, die sie Legenden nennt, beschworen "Alt-Wien", in der Zeit vor dem Ringstraßenbau. Vom 20. Dezember 1857 datierte das kaiserliche Handschreiben, in dem Franz Joseph die Schleifung der Stadtmauer anordnete. Schon einen Monat später wurde ein Architektenwettbewerb für die Neugestaltung der freien Flächen ausgeschrieben, bei dem 85 Entwürfe eingingen. 1865 eröffneten Kaiser und Kaiserin mit einer Fahrt auf der Ringstraße den neuen Boulevard. Auftraggeber der Ringstraßenpalais war die neue Bourgeoisie, Bankiers und reiche Fabrikanten … die ihre Häuser mit bildhauerischem Schmuck und Fresken versahen. Die Finanzbarone förderten Künstler und Kunsthandwerker. Kultivierte Damen, wie Josephine und Franziska Wertheimstein versammelten geistreiche Gäste in ihren Salons. Neben dem "Salonlöwen" Eduard von Bauernfeld kamen der Schriftsteller Ferdinand von Saar oder das "heranwachsende Wunderkind" Hugo von Hofmannsthal in die Döblinger Villa der Wertheimstein. Er schrieb: Manche freilich müssen drunten sterben / Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen / Andre wohnen bei dem Steuer droben / Kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.

Diesem Bauvolk der kommenden Welt widmet die Autorin das letzte Kapitel. Ihre Betrachtungen über Geschichte, Gesellschaft und Kultur enden am Vorabend des Krieges, als Wien die drittgrößte europäische Hauptstadt war. Migrantische Arbeiter, von denen viele in Ottakring lebten, gehörten der Sozialdemokratie an. Der markanten Persönlichkeit von Adelheid Popp standen auf Seiten der "bei dem Steuer droben" Wohnenden berühmte Künstler wie Oskar Kokoschka und Egon Schiele gegenüber.

Ilsa Barea beleuchtet ihre Geburtsstadt ebenso kritisch wie freundlich. Eigene Erinnerungen der im Bezirk Landstraße geborenen Tochter eines Gymnasialdirektors wechseln mit soliden Archivrecherchen und Biographien. Die Herausgeber kommen zu dem Schluss, dass die Autorin die "Legenden" nicht als Lügen entlarven und einer wissenschaftlich belegbaren Wirklichkeit entgegenstellen wollte. Vielmehr habe sie die Mythen in ihrer Entstehungsgeschichte, sozialen Triebkräften, intellektuellen und politischen Traditionen erkannt. Die Autorin studierte an der Staats- und Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. 1922 heiratete sie ihren Mitstreiter bei der KPÖ, Leopold Kulcsar (1900-1938). Beide waren publizistisch tätig und traten der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei. Als Gegner des Ständestaates flohen sie in die Tschechoslowakei, wo sie ihre Tätigkeit fortsetzten aber privat bald getrennte Wege gingen. Während des Spanischen Bürgerkriegs kam Ilsa Kulcsar 1936 nach Madrid, wo sie in der Zensurstelle arbeitete. 1938 ehelichte sie den spanischen Schriftsteller Arturo Barea (1897-1957) und ging mit ihm ins Exil nach Frankreich. 1965 kehrte sie in ihre Geburtsstadt zurück und wirkte als Bildungsfunktionärin der SPÖ. Ein Kritiker verglich Bareas Wien-Buch mit einem goldenen Schlüssel zur Stadt. Der Verlag unterstreicht dies mit einem goldenen Umschlag und Vorsatz - welch passende Idee!

hmw