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Helga Maria Wolf

Verschwundene Bräuche ?#

Taufbrief, 19. Jahrhundert, gemeinfrei
Taufbrief, 19. Jahrhundert, gemeinfrei

Bräuche fallen nicht vom Himmel. Sie werden von Einzelnen, Gruppen oder Organisationen (Kirche, Herrscher …) erfunden. Die Gründe für die Entstehung sind vielfältig. Meist kommen einige zusammen, wie wirtschaftliche Notwendigkeiten, religiöse Gebote, ungeschriebene Gesetze oder psychologische Ursachen. Bräuche werden veränderten Gegebenheiten angepasst, einzelne Elemente verschwinden, verbinden sich mit anderen, es entsteht etwas Neues. Bräuche sind flexibel und hybrid. Die aktuelle Europäische Ethnologie sieht kulturelle Erscheinungen als Prozesse, die "ausgehandelt" werden. Damit ist auch der aus der Romantik stammenden landläufigen Meinung, Bräuche kämen aus der "Volksseele" eine Absage erteilt - so, wie man heute nicht mehr von einer "Nationalküche" sprechen kann. Bräuche sind nicht "ewig". Im Jahrhunderte dauernden Transformierungsprozess geht manches verloren, wenn es keine Grundlage mehr hat. Welchen Sinn hätte es, in einer demokratischen Gesellschaft Kaisers Geburtstag zu feiern ? Viele Bräuche hatten agrarischen Charakter, waren an hierarchische Strukturen gebunden oder wirkten diskriminierend. Mit der Welt von gestern, die nur für wenige eine "gute alte Zeit" war, sind auch Brauchelemente verschwunden - obwohl die Festtermine weiterhin bestehen.

Ein typisches Beispiel für Niederösterreich ist ein Rügebrauch in der Nacht vor dem 1. Mai, der so genannten Walpurgisnacht, der Maistrich oder Maisteig. Als es in der Dörfern noch fest gefügte Ordnungen gab und die Kirche über die Moral wachte, waren voreheliche Beziehungen verpönt. Dies bedeutete nicht, dass es sie nicht gegeben hätte. Das Fränkische Recht, das sich im 6. bis 9. Jahrhundert in Deutschland herausbildete, kannte Rügeverfahren, die auf die Verächtlichmachung der Angeklagten zielten. Für die außergerichtliche Konfliktaustragung waren bestimmte Tage im Jahr vorgesehen, wie die Nacht vor dem 1. Mai. In späteren Zeiten führten männliche Jugendgruppen das Rügegericht in brauchtümlicher Form durch. "Angeklagte" waren meist Frauen, die in beiderlei Richtung die Normgrenzen überschritten hatten, unverheiratete Liebespartnerinnen und ledige Mütter ebenso wie alleingebliebene alte. Im Weinviertel zogen die Burschen zwischen den Häusern unverheirateter Paare Kalkspuren, um geheim gehaltene Beziehungen sichtbar zu machen. Es war die, als selbstverständlich angesehene Pflicht der Frauen, die Maistriche wegzuputzen, bevor sie am nächsten Tag jemand sah. Dies mag bei - kurzen - Kalkspuren innerhalb des Dorfes wenn auch schwierig, aber doch machbar gewesen sein. Peinlicherweise kamen die Burschen in den 1980er Jahren auf eine Variante. Sie füllten ein Fass mit Kalk-Öl-Gemisch und entleerten dieses während einer Traktorfahrt. Mit der allgemeinen Mobilität hatten sich die Distanzen zwischen den Häusern der Partner/innen vergrößert. Und so überzog ein Netz von weißen Steigen die Weinviertler Straßen und Orte - worüber sich nicht nur die betroffenen Frauen ärgerten, sondern auch die Bürgermeister.

Bevorzugte Materialien zur öffentlichen Verächtlichmachung waren Abfallstoffe wie Stroh, Häcksel oder Sägespäne. Fand der Rügebrauch vor Allerheiligen statt, streute man diese auf und goss Wasser darüber. Gefroren blieben die Spuren dann lange sichtbar. Strohseile und Allerheiligenstriezel aus Stroh fanden sich im Waldviertel - mit positiver wie negativer Symbolik. "In der Nacht zum Allerheiligentag … bringen die Burschen des Ortes geflochtene Strohzöpfe … den heiratsreifen Mädchen ihres Ortes dar. Begehrten Mädchen mögen sie zur Ehre gereichen, den jenseits gewisser Ordnung und Verpflichtungen Stehenden zur Schande, was vielfach aus den Beigaben - Blumen oder Fruchtabfälle - ersichtlich wird."Dieser Brauch, den der Volkskundeprofessor Helmut Paul Fielhauer in den 1960er Jahren erforschte, ist inzwischen abgekommen.

So gut wie verschwunden sind die Ansingelieder zu bestimmten Terminen, wie Neujahr, Dreikönigstag, Lichtmesstag, Weihnachten, Tag der Unschuldigen Kinder) und Heiligenfesten (Georg, Florian, Johann Nepomuk, Luzia, Sebastian, Stephan). Der Aufbau der Lieder folgte dem Schema: Gruß, Glückwunsch mit Bezug zum Fest, Bitte um Gaben, Dank und Abschied. Ausführende waren Angehörige bestimmter Berufe, Burschen oder Mädchen, einzeln oder in Gruppen. Zum Jahreswechsel brachten junge Weinviertlerinnen dem "Herrn" und der "Frau" einen Glückwunsch mit zwölf Stophen dar. Dem Herrn sollte das Neue Jahr u. a. Hemd, Rock und Schuhe bescheren, der Frau Haube, Wiege "und den bekannten mythischen Tisch mit dem formelhaften Fisch und dem realer gemeinten Glas Wein", wie Leopold Schmidt schrieb.

Zugleich mit den Neujahrssängern waren die Sternsinger mit Liedern zum Dreikönigstag unterwegs, die sich vom 16. bis ins 20. Jahrhundert kaum veränderten. In den 1930er Jahren berichtete der geistliche Volksbildner Leopold Teufelsbauer (1886-1946), in Niederösterreich bemühten sich "heimatsinnige Priester und Lehrer, diese Sitte wieder aufleben zu lassen." Durchschlagenden Erfolg hatte ein Jahrzehnt später eine städtische Privatinitiative. 1946 ging der Wiener Beamte Franz Pollheimer (1900-1986) mit seinen Kindern für den Wiederaufbau des Stephansdoms und die Renovierung der Piaristenkirche sternsingen. Die positive Aufnahme ermutigte die Familie, sich über die Nachbarschaft hinaus zu wagen. Die Buben sangen beim Hochamt, das Kardinal Theodor Innitzer (1875-1955) zelebrierte und waren anschließend seine Gäste im erzbischöflichen Palais. Seit 1955 organisiert die katholische Jungschar die Dreikönigsaktion, die inzwischen an sechster Stelle der österreichischen NGOs steht.

Dominiert bei der Dreikönigsaktion der soziale Aspekt, so ist es beim Emmausgang oder Greangehen eher der kommerziell-touristische. Im Weinviertel machten die Winzer mit ihren Arbeitern und Dienstboten, mit Verwandten, Bekannten und Nachbarn am arbeitsfreien Ostermontag einen Ausflug in die Kellergasse. Beim Greangehen (ins Grüne gehen) kredenzten sie ihnen roten Wein, weißes Brot und schwarzes Fleisch (Geselchtes). Damit verband sich der Spruch "So mancher geht eben aus (em aus) und kommt schief heim". In den 1980er Jahren entdeckten Winzer im Pulkautal den Brauch wieder, wobei sie alle Gäste gratis bewirteten. Die Folge war ein enormer Ansturm aus Wien, dem sie sich nicht mehr gewachsen fühlten. Inzwischen organisiert die "Weinstraße Niederösterreich" das Greangehen unter dem Motto "Alte Bräuche und junge Weine". Sie wirbt: "Heute wird die Grean (gemeint ist damit das erste, zarte Grün des Frühlings) in einigen Gemeinden genutzt, um die Kellergassen-Saison zu eröffnen. Man trifft sich vor den Presshäusern, wird mit bodenständigen Schmankerln bewirtet und darf vom frischen Wein kosten. Spaziergänge in die erwachende Natur gehören natürlich auch dazu. … Ostergrean und Emmausgang werden zum Beispiel am 1. April in der Kellergasse am Beri in Hanfthal gefeiert …" ebenso in der Weinberggasse in Unterretzbach, am Galgenberg in Wildendürnbach, in der Kellergasse Stoitzendorf bei Eggenburg und in Stetteldorf am Wagram.

Der deutsche Volkskundler Günther Kapfhammer hat auf die "kontrovers zu diskutierende Innenansicht der Bräuche" hingewiesen. Er schrieb: "Mit Brauch verbinden wir konventionell die Vorstellung von Harmonie und heiler Lebenswelt, in der die überlieferten Ordnungen Stabilität und Orientierung schaffen. . … Wer sich mit Brauch beschäftigt, wird feststellen müssen, dass … (es) nicht immer dem verbreiteten Klischee entspricht, mit Brauch ließe sich besser und intensiver leben." Wenn Bräuche aber helfen sollen, besser und intensiver zu leben, sollen ruhig einige verschwinden (wie manche Rüge- oder Heischebräuche), und was bleibt, immer wieder neu "brauchbar" gemacht werden.

Erschienen in "Schaufenster Kulturregion" Sommer 2015


Weiterführendes:#

Verschwundene BräucheDas Buch der untergegangenen RitualeHelga Maria WolfBrandstätter VerlagWien2015jetzt im Buch blättern