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Brauch#

Erntedankfest. Foto: Doris Wolf, 2013

Persönliche Vorstellungen davon, was ein Brauch sei, sind von subjektiven Einstellungen und Erfahrungen geprägt. Die Europäische Ethnologie hat viele Erklärungen und Unterscheidungen gefunden. Andreas Bimmer definiert 2001 in einem Lehrbuch für Volkskunde: Ein Brauch erfordert eine bestimmte Regelmäßigkeit und Wiederkehr, eine den Brauch ausübende Gruppe, für die dieses Handeln eine Bedeutung erlangt, sowie einen durch Anfang und Ende gekennzeichneten Handlungsablauf, dessen formale wie zeichenhafte Sprache der Trägergruppe bekannt sein muss.

Der langjährige Wiener Volkskunde-Ordinarius Konrad Köstlin zählt den Begriff "Brauch" zu den Neologismen des 19. Jahrhunderts und nennt als ähnliche "Routine", "Ritual", "Konvention", "Usancen" oder "Gewohnheit". Er schreibt: Im akademischen Bereich gilt das Wort Brauch mittlerweile nicht nur als veraltet und unwissenschaftlich, sondern als missbraucht, als anrüchig. Dies habe mit seiner "besonderen Bedeutung als Baustein der nationalsozialistischen Ideologie und Politik zu tun".

Bräuche lassen sich nach dem Jahres- und Lebenslauf, nach den Brauchträgern, Altersgruppen oder Regionen einteilen. Man unterscheidet Arbeits-, Heische,- Umzugs-, Rüge-, Schwellenbräuche, Arbeitsbräuche, religiöse Bräuche, Brauch ohne Glaube (Leopold Schmidt) und vieles andere mehr. Vier Punkte erscheinen wichtig:

  • Menschen brauchen Bräuche. Das Zeitwort brauchen (mhd. bruchen) ist mit dem lateinischen Ausdruck für genießen (frui; fructus - Frucht, Ertrag) verwandt. Die Grundbedeutung war verwenden. Demnach wären Bräuche so lebensnotwendig wie das Essen: Beide befriedigen Grundbedürfnisse, beide zeigen sich in vielfältiger Gestalt, meist alltäglich, manchmal festlich. 
  • Bräuche fallen nicht vom Himmel und sie kommen nicht aus der "Volksseele". Sie werden von Einzelnen und Gruppen erfunden, wenn sich aus ihrer Sicht die Notwendigkeit dazu ergibt. Bräuche kommen, wandern, entwickeln sich dynamisch weiter, vergehen, werden revitalisiert. Bräuche sind flexibel und hybrid.
  • Kein Brauch hat sich von mystischer Vorzeit bis in die Gegenwart erhalten. Bräuche kommen nicht in ungebrochener Kontinuität von den Germanen oder Kelten. Die Ursprungsfrage, obwohl sie oft gestellt wird, ist weit weniger interessant als die Frage, wie man brauchbare Bräuche für Lebensfreude und Lebenshilfe erfindet. Sie ist "wie die meisten Herkunftsfragen besser nicht zu stellen, sondern dem Streit der 'Originalisten' zu überlassen, das heißt denjenigen Interessierten, denen es bis an die Grenzen des Dilettantismus und darüber hinaus um Ursprünge, Herkunft und Anfänge geht." (Herwig Wolfram) 
  • Alle Grenzen fließen. Es gibt alte Bräuche, neue Bräuche und Antibräuche. Die Schriftsteller der Aufklärung kritisierten Missbräuche. Heute hört man oft von Ritualen, wo früher von Festen oder Feiertagen die Rede war. Häufig wurde zwischen Sitte und Brauch unterschieden oder "echtes Brauchtum" von Folklore abgegrenzt. Diesen Ereignissen, die sich wiederholen, stehen Events gegenüber, von denen immer etwas Neues erwartet wird, doch auch Events können zum Brauch werden. Fazit: In einer Zeit, in der alle Grenzen fließen (Stichwort: Crossover, Weltmusik) sind strikte Einteilungen fragwürdig geworden. Lediglich die Extreme lassen sich einordnen.

Tendenzen bei der Brauch-Einführung#

Braucherfinder können aus allen Milieus kommen, nur wenige sind namentlich bekannt, wie der Dichter Matthias Claudius (1740-1815). Er schrieb 1782 eine Reihe "Briefe an Andres": "Hab eine neue Erfindung gemacht, Andres, und soll dir hier so warm mitgeteilt werden. Du weißt, daß in jeder gut eingerichteten Haushaltung kein Festtag ungefeiert gelassen wird, und dass ein Hausvater zulangt, wenn er auf eine gute Art und mit einigem Schein des Rechtes einen neuen an sich bringen kann. So haben wir beide außer den respektiven Geburts- und Namenstagen, schon verschiedene andre Festtage an unsern Höfen eingeführt, als das Knospenfest, den Widderschein, den Maimorgen, den Grünzüngel wenn die ersten jungen Erbsen und Bohnen gepflückt und zu Tisch gebracht werden sollen, und so weiter…. gestern als ich im Garten gehe und an nichts weniger denke, schießen mir mit einmal zwei neue Festtage aufs Herz, der Herbstling und der Eiszäpfel, beide gar erfreulich und nützlich zu feiern."

Innovation

Neue Bräuche werden nach eigenen Ideen - wenn jemand den Bedarf danach erkennt -, Modellen aus Publikationen oder dem Internet eingeführt. Hierher gehören auch Brauchimporte wie Halloween oder der St. Patricks-Day, den irische Vereine in Wien seit 2005 feiern. Ältere Beispiele: Tierschutztag (1931), Osterbaum (1960er Jahre).

Die Akteure gegenwärtiger Religiosität schaffen neue Rituale, die sie für sich und ihre Klientel im kleinen Kreis abhalten. Die Religionswissenschaftlerin Nadja Miczek schreibt, dass es dafür in zahlreichen Büchern und im Internet Do-it-yourself-Anleitungen gibt. "Der Innovationsfaktor ist dabei insgesamt hoch … Es werden beispielsweise Vorlagen geliefert, die dann entsprechend den individuellen Präferenzen ausgestaltet werden können. … Das Kreieren von Ritualen wird als selbstverständliche Handlungsoption im Diskurs von verschiedenen Seiten lanciert. Ein wesentliches Merkmal von Ritualausarbeitungen ist, dass sie individuell gestaltet bzw. angepasst werden können und dass die Akteure selbst die Handlungsmacht zu gestalterischen Prozessen besitzen." Hier liegt der große Unterschied zu traditionellen Bräuchen, deren Verlauf in großen Zügen vorgegeben ist und von den Teilnehmern wenig beeinflusst werden kann.

Revitalisierung

Man erinnert sich an alte (eigene oder fremde) Bräuche und erfüllt sie mit neuem Leben, indem man Formen und Inhalte aktualisiert, z. B. Kindelwiegen, Misereor-Hungertücher.

Restauration

Althergebrachte Formen werden - meist mit dem Anspruch der "Echtheit" - wieder eingeführt. In der Kirche handelt es sich oft um Zeichen gegen Säkularisierungstendenzen der Gesellschaft. Doch auch dabei gibt es innovative Elemente. Fußwallfahrten, z.B. nach Mariazell oder auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela in Spanien.


Quellen:
Andreas C. Bimmer: Brauchforschun. In: Brednich, Rol W. (Hg.): Grundriß der Volkskunde. 3. Aul. Berlin 2001
Harvey Cox: Das Fest der Narren. Stuttgart 1972
Alois Döring: Rheinische Bräuche durch das Jahr. Köln 2006
Konrad Köstlin: Brauchtum als Erfindung der Gesellschaft. In: Historicum. Herbst 1999. S. 9-14
Konrad Köstlin: Brauch. In: Brigitta Schmidt-Lauber, Manuel Liebig (Hg.): Begriffe der Gegenwart. Wien - Köln 2022. S. 39-48
Nadja Miczek: Biographie, Ritual und Medien. Bielefeld 2013
Martin Scharfe: Brauchforschung. Darmstadt 1991
Ingeborg Weber-Kellermann: Saure Wochen - Frohe Feste. München - Luzern 1985
Herwig Wolfram: Die Germanen. München 2000. S. 24

Bild:
Das ländliche Erntedankfest wird in der Großstadt zum Event. Foto: Doris Wolf, 2013


Siehe auch:
--> Monatskalender
--> Essay Verschwundene Bräuche?
--> Buch Hybride Events