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Helga Maria Wolf

Benehmen und Brauch#

Bild 'Benehmen'

„Menschen, die Anstand wahren, befolgen die vielen ungeschriebenen Gesetze, die den Umgang mit ihnen angenehm machen“, schrieb vor einem halben Jahrhundert der ehemalige Offizier und legendäre Tanzschul-Inhaber Willy Elmayer-Vestenbrugg (1885-1966). „Die Formel für Anstand und gutes Benehmen heißt aber: Wahrung der eigenen Grenzen und Respektierung der Mitmenschen und daraus ergeben sich die Regeln des guten Tones.“ (Elmayer 1957:7)

Das Stichwort „Ton, guter“ findet sich - anders als „Anstand“ oder „Benehmen“ - im 1974 erschienenen Wörterbuch der Deutschen Volkskunde. Hier erfährt man, dass die Bezeichnung - wie das Wort Takt - um 1800 aus der Sprache der Musik entlehnt wurde, und zwar als Übersetzung des französischen „bon ton“. (WDV 1974: 819) Das wiederum erinnert an eine Definition von Schönheit in der Kunst: Schönheit hat mit Ordnung und Regelmäßigkeit zu tun. Die Sonate, deren Komposition gewissen Regeln unterliegt, ist demnach schön, die chaotische Katzenmusik (die es bei manchen Bräuchen gibt) nicht.

Beim „guten Ton“ geht um von Anstandsregeln bestimmte, „eher oberschichtliche Umgangsformen“. Diesem höflichen (höfischen) Benehmen steht der Brauch - meist assoziiert mit „Volksbrauch“ oder „ländliches Brauchtum“ - geradezu diametral gegenüber. Einerseits sind dabei Spielregeln einzuhalten, andererseits charakterisiert gerade die „kontrollierte Entgrenzung“ brauchmäßiges Tun. Sigmund Freud schrieb 1912: „Der Exzess liegt im Wesen des Festes; die festliche Stimmung wird durch die Freigebung des sonst Verbotenen erzeugt.“ (Freud 2006: Bd. 2, 312) Gleiches stellte der Tübinger Kulturwissenschafter Utz Jeggle fest: „Bestimmte Termine sind Anlass für einen in Regelmäßigkeit und vorgegebenen Formen praktizierten Ausnahmezustand. Die von der Öffentlichkeit beklagten Ausschreitungen bezeugen, dass direkt in der Nachbarschaft der Riese der Anarchie schlummert, der aber so weit gebändigt ist, dass er sein Erwachen an bestimmte Termine und Formen hält. So ist das Reglement der Bräuche eine Art doppelter Boden, der hinter den Alltagsregeln wirkt und sowohl die Enthemmung wie ihre Regelmäßigkeit garantiert.“ (Jeggle, in Handbuch der Schweizerischen Volkskultur: Bd. 2, 616) Mit Anstand und gutem Ton im Sinne der adeligen Autoren Adolf Freiherr von Knigge („Über den Umgang mit Menschen“, 1788) und des Offiziers Willy Elmayer von Vestenbrugg („Gutes Benehmen wieder gefragt“, 1957) haben solche Bräuche wenig zu tun.

Am ehesten sind Benehmen und Brauch bei kirchlichen Zeremonien verbunden, von denen die Hochzeit wohl die repräsentativste des Lebenslaufes ist. Als Rites de passage betonen die sieben Sakramente, wie sie das Konzil von Trient 1547 festlegte, Knotenpunkte des Lebens. Zudem haben sie ausgesprochen profane Aspekte, die sich in Gaben, Gastfreundschaft oder Geselligkeit ausdrücken. Im Lebens- wie im Jahreslauf kommen kirchliche Bräuche nicht ohne weltliche Elemente aus, ob Hochzeitstafel oder Leichenschmaus, Polterabend oder Trauerjahr. Von der Feier der Firmung bleiben bei vielen eher das Geschenk und das sprichwörtlich übermäßige Essen im Gedächtnis als die Sakramentenspendung. Bei Hochzeiten gewinnt man oft den Eindruck, dass die feierlichen Atmosphäre wichtiger ist, als der kirchliche Segen.

Intensive Hochzeitsfeiern

Über Hochzeitsbräuche geriet Benimm-Meister Elmayer nahezu ins Schwärmen: „In der seit Jahrhunderten festgelegten Ordnung des Hochzeitszuges lebt ein geheimnisvoller Sinn, den man deutlich empfindet, auch wenn man nicht gerade ein zünftiger Volkskundler ist. Das Hinausschreiten von Braut und Bräutigam aus elterlichem Behütetsein ins selbständige Leben spiegelt sich in der uralten, schönen Ordnung des Brautzuges.“ (Elmayer 1957: 174) Aus dem Anstandsbuch lernt man auch: „Für gewöhnlich tragen katholische Ehepaare die Eheringe auf dem rechten Ringfinger, evangelische auf dem Linken.“ Vom Unterschreiben der Dokumente nach der Trauung, dem Verlassen der Kirche, Geschenken, Tafel und Trinkspruch ist die Rede, nicht aber von augen- und ohrenfälligen neuen Bräuchen wie Hupen des Konvois oder mit Reis bewerfen des jungen Paares. Dagegen verwahrt sich das Standesamt in Wien-Währing. Am Tor des Amtshauses kündet eine Tafel: „Das Reisstreuen ist wegen Verletzungsgefahr im und vor dem Amtsgebäude verboten.“

Eine Generation früher stellte der langjährige Direktor des Österreichischen Museums für Volkskunde, Leopold Schmidt (1912-1981), einen Trend zur „Intensivierung der Hochzeitsfeier“ fest: „Obwohl auch die Standesämter eine musikalische Begleitung anbieten, ist kirchlicher Orgelsang und Glockenklang noch besonders erwünscht.“ Er beobachtete zunehmend den Wunsch, die Hochzeit nicht in der Heimatpfarre abzuhalten und erklärte die Entwicklung: „Das römische Recht brachte den Ehekonsens, und die Kirche fügte zur Erklärung der Partner ihre Zustimmung, im weiteren ihren Segen. Die allmähliche Durchsetzung der Konsensehe lässt sich im Hochmittelalter gut verfolgen. Ab dem 12. Jahrhundert erfolgt die Eheschließung ‚in facie ecclesiae’, die Dome bekommen ihre Brauttüren. Im 15. Jahrhundert wird die Trauung durch den Geistlichen vollzogen, an den Domkirchen durch den Bischof, sonst durch den Pfarrer. Aber erst das Konzil von Trient bringt das Dekret ‚tametsi’, die Konsenserklärung vor dem Pfarrer des Ortes wird zwingend vorgeschrieben. Was vor dem Ersten Weltkrieg noch so gut wie selbstverständlich gewesen war, begann von den verschiedensten Seiten her aufgeweicht zu werden. Der Adel hatte so seine Vorliebe für die Hofburgkapelle in Wien, die katholische Studentenschaft heiratete gern prunkvoll aufwendig in der Wiener Karlskirche. In den Großstädten zeigt sich, dass der Wunsch nach einer ‚Galahochzeit’ mindestens dem Verlangen nach der ‚schönen Leich’ gleichzusetzen ist.“ (Schmidt 1976: 31)

Das „achte Sakrament“

Bild 'Friedhof'

Die den Wienern nachgesagte „schöne Leich“ zählt nicht zu den sieben Sakramenten, doch ist das inoffizielle „achte Sakrament“ häufig der Grund, nicht aus der Kirche auszutreten. (Zauner, in Redtenbacher 2006: 210) Wenn der Verstorbene ein kirchliches Begräbnis ablehnte, besteht auf Wunsch der Angehörigen die Möglichkeit einer katholischen Trauerfeier („Feier mit Tröstung der Hinterbliebenen“). Ein Begräbnis ist wahrscheinlich der Anlass, bei dem man am meisten froh ist, dass es bestimmte Rituale und Benimmregeln gibt, wie sie der Anstandslehrer beschreibt: „Zur Bestattung erscheinen die nahen Angehörigen in schwarzer Kleidung oder, wo deren Beschaffung nicht möglich ist, wenigstens in dunkler. Fernerstehende brauchen sich nicht in Schwarz zu hüllen, werden aber natürlich bunte Kleidung vermeiden. Die Fernerstehenden treten auch zuletzt ans Grab, um drei Schaufeln oder drei Hände voll Erde nachzuwerfen. Nach erfolgter Beerdigung treten alle Anwesenden zu den nächsten Leidtragenden, drücken ihnen die Hand und sagen ein paar kurz gehaltene Worte des Beileids. Bei der Bestattung wird sich das gute Benehmen der Trauergäste darin erweisen, dass sie das traurige Geschehen nicht als Schaustellung und aufregendes Ereignis betrachten.“ (Elmayer 1957: 225 f.)

Empfehlungen und Verbote

Rituale brauch(t)en Spezialisten, um sie nach tradierten Regeln zu „zelebrieren“. Schließlich soll(te) eine bestimmte Wirkung erzielt werden. Religion, mit fließenden Grenzen zur Magie, spielt(e) beim Ritual eine besondere Rolle. Vor einem Jahrzehnt nannte der Zukunftsforscher Matthias Horx unter den neuen Dienstleistungsberufen „Ritualisten“, von denen es inzwischen schon etliche gibt. Zu ihren Aufgaben gehört es auch, die Teilnehmer über das erwünschte Benehmen zu informieren. So treten neue Experten an die Seite oder an die Stelle von Repräsentanten geistlicher und weltlicher Obrigkeiten, die - oft mit Mühe - Brauchträger in die Schranken wiesen.

„Das Brauchtum des festlichen Jahres hat seit jeher unter der Kontrolle der Obrigkeit gestanden. Diese schritt besonders dann ein, wenn überschäumende Lebenslust Gesundheit und Habe bedrohte. So sind Ordnungen und Verbote geradezu Hauptquellen für Sitte und Brauch vergangener Tage“, schrieb der Hamburger Volkskundler Herbert Freudenthal vor fast 50 Jahren. Interessant und aktuell erscheinen seine Überlegungen, Manifestationen des Benehmens in die Brauchforschung einzubeziehen: „Nach den Jahren der bloßen Lebensbehauptung, wo sich jeder erst einmal mit beiden Ellenbogen eines harten Daseins zu erwehren suchte, regt sich heute überall das Bestreben, dem Leben wieder äußere Form zu geben, so wie ‚die gute alte Sitte’ es getan hat. Wir verzeichnen aus den Zeitungsgesprächen, dass uns eine Geschichte und Geographie des gesellschaftlichen Zeremoniells und der guten Manieren noch immer fehlt und stimmen dem Urteil bei, dass man daraus mehr über den wirklichen Menschen erfahren könnte als aus manchen anderen historischen Spezialwerken.“ (Freudenthal 1958: 140 f)

Masken und Manieren

Besonders ausgeprägt sind gesellschaftliches Zeremoniell und gute Manieren auf Ballveranstaltungen. Tanzschulen, wie der berühmte „Elmayer“, die darauf vorbereiten, sind zugleich Anstandsschulen. Für beide Unterrichtsgegenstände galt das Prinzip des „Früh übt sich“ (wie er 1959 ein Benimmbuch betitelte): „Schon bei einer Kinderjause kann man die kleinen Teilnehmer dazu verhalten, einander höflich zu begegnen, zu begrüßen, sich zu bedanken und sich ordentlich zu verabschieden.“ (Elmayer 1957: 155 f.)

Um die Jahrhundertwende fand in den Redoutensälen der exklusive „Ball bei Hofe“ für 800 Auserwählte statt, der nach Meinung der Zeitgenossen „einen lebendigen Ausschnitt aus dem jeweiligen Trachtengemälde des Highlife der Welt“ bot. Nach dem Einzug des Kaisers mit der ersten Dame des Hofes, der Erzherzoge und -innen, weiterer Adeliger und Diplomaten spielte die Hofkapelle den ersten Walzer. Der Monarch nahm Vorstellungen entgegen, pflegte dem Tanz zuzusehen und Cercle zu halten, ehe er sich in den Neuen Saal zurückzog, „wo an neun Tafeln für die Hofgesellschaft gedeckt ist, während in den anstoßenden Gemächern rund 70 Tafeln für die übrigen Gäste aufgestellt sind, die je zehn an einer Tafel speisen. Das Souper dauert eine halbe Stunde, dann wird noch ein letzter Walzer und eine Schnellpolka getanzt und punkt zwölf Uhr ist das Fest zu Ende.“ (Petermann 1908: 379 f.) Ein Jahrhundert später gilt der Opernball der „Ball der Bälle“. Bei der ersten Opernsoiree, 1877, spielte Johann Strauß. Ab dem folgenden Jahr veranstaltete die Direktion eine Opern-Redoute, die nach längerer Unterbrechung 1924 wieder stattfand. Der erste „echte“ Opernball ging 1935 über die Bühne, nach dem Zweiten Weltkrieg seit 1956. Trotz wechselnder „Ballmütter“ und zeitgemäßer Adaptionen sind die wesentlichen Elemente des Zeremoniells die gleichen geblieben: Bundeshymne, Einzug des Jungdamen und -herrenkomitees, Eröffnung und das Kommando „Alles Walzer!“, traditionell gegeben vom Leiter der Tanz-und Benimmschule Elmayer. Seit 2003 ist Thomas Schäfer-Elmayer Zeremonienmeister.

Von den einst zahlreichen noblen Maskenbällen besteht nur noch die - 1912 erstmals durchgeführte - Rudolfina Redoute, eine couleurstudentische Ballveranstaltung. Sie findet am Traditionstermin Faschingmontag in allen Sälen der Hofburg statt. Seit der ersten Rudolfina Redoute in der Burg (1927), darf dort „modern“ getanzt werden. Doch es gab Ausnahmen: kein Charleston und nicht im Festsaal (dort blieben lateinamerikanische Tänze bis in die Nachkriegszeit verpönt). Bis heute erscheinen Damen nur im großen Abendkleid und mit einer Maske a la „Fledermaus“ bei der Rudolfina Redoute. Ihr zweites Charakteristikum ist die Damenwahl. Nach der Demaskierungsquadrille um Mitternacht herrscht dann bis 5 Uhr früh Damen- und Herrenwahl. Die Kleidungsvorschriften für Herren sehen schwarzen Frack mit Dekorationen, schwarzen Smoking oder Uniform vor. Historische und sonstige Anzüge wie bei einem Kostümfest sind ebenso unerwünscht wie Plastikmasken für die Damen.

Heischerecht und Halloween

Bild 'Halloween 2010_2'

Maskierungen spielen nicht nur im Fasching eine Rolle, sondern auch bei einer Vielzahl von Bräuchen, wie Nikolaus und Krampus oder Heischebräuche. Das sind solche, bei denen Gruppen von Haus zu Haus umziehen und um Geld oder Gaben bitten. Die Gegengabe besteht in der Darbietung von Liedern oder Sprüchen, mit denen die Besucher Glück wünschen.

Sammelumgänge sind Bräuche rechtlichen Charakters. „Sie bettelten nicht, sie heischten nur", schrieb Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832) anlässlich der Kaiserkrönung in Frankfurt. Der Lehrbuch-Klassiker „Deutsches Privatrecht" betont, dass das germanische Recht eine Schenkung stets als Schuldvertrag behandelte: Jede Gabe mußte durch eine Gegengabe gelohnt werden, um bindend zu werden. (Mitteis 1978:145) Das galt auch für künstlerische Leistungen. So erhielt Walther von der Vogelweide (um 1170-1230 ?) von seinem Dienstherrn einen Pelz, später ein Lehen geschenkt.

Der britische Sozialanthropologe Bronisław Malinowski (1884-1942) betonte den Aspekt der Kommunikation bei Heischebräuchen. Er sprach von der Gegenseitigkeit solcher Transaktionen: Wer ein Geschenk erhält, fühlt sich moralisch verpflichtet, es zu erwidern. Dieses Gefühl ist für beide Teile ein Ausdruck, dem gleichen sozialen System anzugehören. Eine Gabe, die durch ein genaues Äquivalent erwidert wird, drückt Statusgleichheit aus. Heischebräuche aber sind durch Ungleichheit charakterisiert. Sie waren geradezu ein Teil der Versorgung ärmerer Schichten durch die Wohlhabenden. Um ihre Unterlegenheit zu kaschieren, machten die Umherziehenden von Masken, Verkleidungen und verstellter Stimme Gebrauch. Ihr Auftreten hielt sich an überlieferte Termine, sie boten etwas dar, die Beziehungen blieben in der Balance. Die reicheren Hausbesitzer, die aufgesucht wurden, wussten, was sie ihrem Status schuldig waren. Die Ärmeren, vom Brauch geschützt, mussten sich ihres Tuns nicht schämen. Ihre Gegengabe, die Lieder und Sprüche, wurde oft als Segen umgedeutet. Es konnte sogar als schlechtes Omen gelten, wenn der Besuch der Heischenden ausblieb.

Hingegen ist ein anderer neuer Kinderbrauch, Halloween, ein Fest, an dem sich die „Geister scheiden“. Es wird seit langem in den USA mit Kürbis-Dekorationen, Parties und maskierten Heischegängen gefeiert. Um 1900 war Halloween eine gefürchtete Nacht der Zerstörung, in der Personen und Tiere verletzt wurden. Die Pfadfinder und andere Organisationen versuchten, dies einzudämmen. Um 1930 war die „beggars night" und der Spruch „Trick or treat" allgemein bekannt. In der Wohlstandsgesellschaft ist ein Wirtschaftsfaktor daraus geworden. Kostüme und Masken, Kürbisschnitzwettbewerbe und Partyveranstalter haben im Herbstfasching Hochsaison.

Durch massenmediale Vermittlung eroberte Halloween vor einigen Jahren auch Österreich. Allerdings kannte schon die Großeltern-Generation um diese Jahreszeit das Aushöhlen von Rüben, in die man eine Kerze stellte. 1957 kündigte die Programmzeitschrift „Radio Österreich" eine Bastelsendung zu Halloween an. Inzwischen kennt hierzulande jedes Kind den Spruch „Trick or treat”: Wer keine Süßigkeiten schenkt, muss mit Streichen rechnen. Die österreichische Variante nennt sich „Süßes oder Saures" bzw. „Schokolade oder Schabernack”.

Die kommerziellen Motive des Brauch-Imports zeigte 1997 ein Flugblatt der Kaufleute in Wien-Döbling: „Hallo Wien – Halloween, Wien beleben in toter Zeit”. Die Geschäftsleute wurden eingeladen, sich an einer Aktion zu beteiligen, „die Aufmerksamkeit, Aktivität und Kauflust der Kunden anregen wird.” Lokalbesitzer im „Bermuda-Dreieck" waren die ersten („Ma Pitom", 1995), die Halloween-Parties veranstalteten. Halloween ist nicht überall erwünscht. So schrieb der Bürgermeister der Vorarlberger Gemeinde Wolfurt 2005 seinen Bürgern in einem Brief, „dass Halloween absolut kein heimischer Brauch ist und sich auch auf Grund verschiedener Vorkommnisse in der Vergangenheit zu einer echten Unsitte hier zu Lande entwickelt hat , dass wir alle Verstöße dieser Art zur Anzeige bringen müssen und die Eltern für das Treiben ihrer Kinder verantwortlich sind. Sie haben demzufolge auch für allfällige Schäden aufzukommen, da die Versicherungen mutwillig angerichtete Schäden von vornherein ablehnen.“ 2005 kam die Problematik sogar ins Parlament. Aus der Anfragebeantwortung der Innenministerin geht hervor, dass es in Wien im Jahr zuvor 184 Anzeigen wegen Sachbeschädigung und 81 wegen Körperverletzung gab. Dazu hieß es: „An alle ‚Brauchtumspfleger’ geht der Appell, sich nicht aus Jux und Tollerei strafbar zu machen, da das Delikt ‚Sachbeschädigung’ nicht durch so genanntes ‚Brauchtum’ aufgehoben wird. Weiters wird die Exekutive ihre Streifentätigkeit zu ‚Halloween’ verstärken.“

Der Unterschied zum alten Heischerecht ist auffällig. Halloween wird nicht als Brauch empfunden, sondern als „Unsitte“. Die Umherziehenden haben kein Benehmen, sie verüben Sachbeschädigungen, wenn man ihrem Wunsch nicht entspricht. (Das bringt das Geschehen allerdings in die Nähe der Rügebräuche, die ländliche Burschenschaften denjenigen antaten, mit deren nonkonformem Verhalten sie nicht einverstanden waren). Es fehlt das „do ut des“-Prinzip, die Gegenseitigkeit. Bei traditionellen Heischegängen herrschte Einverständnis über diese spezielle Art des Bettelns. Die Besuchten gaben, vielleicht unwillig, aber weil es eben so Brauch war. Die Umherziehenden hatten keinen Grund zu Missfallenskundgebungen. Wahrscheinlich hätten sie diese gar nicht gewagt (wie wohl erzogene Kinder ja auch dem Nikolaus nicht die Maske vom Gesicht reißen).

Bräuche und Benehmen ändern sich. Die Klage älterer Menschen über die „heutige Jugend“ wiederholt sich von Generation zu Generation: „Leute und Land wo ich von Kind an aufgezogen worden bin, die sind mir fremd geworden, genau so als wäre alles erlogen. Die Welt ist überall voller Undank. Oweh, wie kläglich betragen sich die jungen Leute, welche früher unbeschwert und froh waren Oweh wie sind wir mit süßen Sachen vergiftet! Ich sehe die bittere Galle mitten im Honig schwimmen. Die Welt ist außen schön, weiß, grün und rot, innen aber von schwarzer Farbe, dunkel wie der Tod.“ So klagte Walter von der Vogelweide vor 780 Jahren. (Müller/Weiss: 1993). Bräuche wurden und werden erfunden, ebenso Antibräuche. Warum also nicht einen Antibrauch zu Halloween einführen, wie es ein kleines Mädchen beim Kürbisfest auf der Himmelswiese versucht hat: Statt zu heischen ging sie im Restaurant von Tisch zu Tisch und beschenkte die Erwachsenen mit Süßigkeiten.

Literatur:
Willy Elmayer-Vestenbrugg (1957), Gutes Benehmen wieder gefragt Hamburg/Wien, Paul Zsolnay Verlag.
Sigmund Freud (2006), Werkausgabe in zwei Bänden. (Hg. Anna Freud, Ilse Grubrich-Simitis), Frankfurt/M. S. Fischer Verlag.
Herbert Freudenthal (1958), Volkskundliche Streiflichter. In: Beiträge zur deutschen Volks- und Altertumskunde, Heft 2/3, Hamburg.
Utz Jeggle (1992), Sitte und Brauch in der Schweiz. In: Handbuch der schweizerischen Volkskultur (Hg. Paul Hugger), Basel, Offizin Verlags AG.
Heinrich Mitteis (1978), Deutsches Privatrecht (Bearb. Heinz Lieberich). Kurzlehrbücher für das juristische Studium, München, Beck Verlag.
Ulrich Müller / Gerlinde Weiss (1993), Deutsche Gedichte des Mittelalters. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Stuttgart Reclams Universalbibliothek. (Zitiert nach dem Booklet zur CD Eberhard Kummer).
Reinhard E. Petermann (1908), Wien im Zeitalter Kaiser Franz Josephs I. Wien Verlag R. Lechner.
Leopold Schmidt (1976): Hochzeitsbrauch im Wandel der Gegenwart (Mitteilungen des Instituts für Gegenwartsvolkskunde Nr. 4) Wien.
Helga Maria Wolf (2000): Das neue BrauchBuch. Alte und junge Bräuche für Lebensfreude und Lebenshilfe. Wien, Österreichischer Kunst- und Kulturverlag.
Wörterbuch der deutschen Volkskunde (Hg. Richard Beitl). Stuttgart, Alfred Kröner Verlag,1974
Wilhelm Zauner (2006),Tod und Trauer in der Stadt, In: Kultur der Liturgie. Grundfragen des Gottesdienstes heute. (Hg. Andreas Redtenbacher), Ostfildern, Schwabenverlag.

Aus dem Buch "Kulturen des Benehmens", hg. von Karl R. Wernhart und Helmut Wagner, Wien 2008. (gekürzt)