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Plastikmüll im Meer bietet vielen Organismen neue Lebensräume und Reisemöglichkeiten#


Von der Wiener Zeitung (Donnerstag, 3. Oktober 2013) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Kerstin Viering


Plastikmüll
Kunststoffteile locken massenweise Bewohner an.
Foto: © corbis

Noch gibt es keine effektive Methode, den Müll wieder aus dem Meer zu holen. #

Berlin. Der Lebensraum ist kaum größer als ein Stecknadelkopf, und doch lockt er massenweise Bewohner an. Die unzähligen kleinen Plastikteilchen, die als Zivilisationsmüll in den Weltmeeren treiben, scheinen ein Dorado für Bakterien zu sein. Erik Zettler von der Sea Education Association im US-amerikanischen Woods Hole und seine Kollegen staunten nicht schlecht, als sie solche Partikel mit Netzen aus dem Nordatlantik fischten. Per Elektronenmikroskop und Erbgutanalyse fanden sie darauf mindestens tausend verschiedene Typen von Bakterienzellen. Offenbar hat eine vielfältige Crew von Mikroorganismen die winzigen Kunststoff- Flöße geentert und schippert nun damit über den Ozean. Und diese exzentrische Besatzung unterscheidet sich deutlich von den Lebensgemeinschaften des ringsum schwappenden Meerwassers.

Diese Erkenntnisse liefern ein paar neue Mosaiksteine für das Bild, das sich Forscher von den Folgen des Kunststoff-Booms im Meer machen. Von den weltweit rund 245 Millionen Tonnen Plastik, die derzeit pro Jahr produziert werden, sollen schätzungsweise mehr als zehn Prozent in den Ozeanen landen. Der Müll wird von Schiffsbesatzungen über Bord geworfen und an den Küsten achtlos im Gelände verteilt, er kommt mit Flüssen aus dem Inland und mit dem Wind von Mülldeponien.

Mit der Zeit wird das Material zwar oft zu winzigen Partikeln zerrieben, es verschwindet aber nicht. Stattdessen reist es mit den Meeresströmungen um die Welt. Auch Bilder aus der Tiefsee zeigen einen Meeresgrund voller Plastikmüll. Wie aber kommt der Abfall dort hinunter? „Plastik schwimmt zwar zunächst an der Wasseroberfläche“, erläutert Lars Gutow vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. „Doch mit der Zeit siedeln sich alle mögliche Organismen darauf an“. Dadurch wird das Kunststoff-Floß irgendwann so schwer, dass es in die Tiefe sinkt.

120 Quadratmeter groß #

Eines der spektakulärsten dieser künstlichen Flöße war ein zwanzig Meter langer und sechs Meter breiter Schwimmponton, den der verheerende Tsunami im März 2011 an der Küste Japans losgerissen hatte. Am 5. Juni 2012 hatte die Konstruktion 8000 Kilometer Pazifik überquert und trieb am Agate Beach im US-Bundesstaat Oregon an – beladen mit mehr als zwei Tonnen Schnecken und Muscheln, Seeigeln und Seesternen, Krabben und anderen Bewohnern der japanischen Küstengewässer.

„Ein erfolgreicher Rafter muss sich vor allem gut festhalten und auf dem Floß genügend Nahrung gewinnen können“, erklärt der Forscher. Letzteres ist auf einem Stück Plastik aber gar nicht einfach. Während treibende Algen oft vor Schnecken, kleinen Krebsen und anderen Vegetariern wimmeln, die ihr Floß als Reiseproviant nutzen, ist auf dem Kunststoff ein anderer Lebensstil gefragt. Dort finden sich eher fest am Untergrund verankerte Tiere wie Polypen oder Seepocken, die Nahrung aus dem Wasser filtern.

Eine Assel namens Idotea metallica hat sich sogar komplett dem Floßleben verschrieben und kommt offenbar nirgendwo anders vor. Während sich verwandte Arten am Meeresgrund größtenteils von Pflanzenkost ernähren, holt sie sich vor allem Fleischmahlzeiten aus dem Wasser. Seit den 1990er Jahren kommt diese wärmeliebende Art zunehmend auch in der Nordsee vor.

Bakterien zersetzen Material #

„Es gibt bisher keine Hinweise darauf, dass ihr Auftauchen negative ökologische Folgen hätte“, sagt Lars Gutow. In Konkurrenzversuchen haben er und seine Kollegen nachgewiesen, dass die neue Assel wohl keine angestammten Arten verdrängen wird. Das muss aber keineswegs für alle Passagiere gelten, die auf den Plastikflotten der Weltmeere unterwegs sind. „Niemand kann vorhersagen, welche Arten künftig wo auftauchen und welche Probleme sie machen werden“, betont der Experte. Es ist jedenfalls durchaus möglich, dass die Kunststoff-Flöße auch für den Menschen unangenehme Organismen verbreiten.

So haben Wissenschafter am Plastik-Treibgut schon giftige Einzeller aus der Gruppe der Dinoflagellaten entdeckt. Deren Gifte können sich etwa in Muscheln anreichern und für Meeresfrüchtefans gefährlich sein. Einer der untersuchten Kunststoff-Partikel war zudem voller Bakterien der Gattung Vibrio, zu der die Erreger von Cholera und anderen Durchfall- Erkrankungen gehören.

Jedoch sind die Forscher auch auf einen kleinen Hoffnungsschimmer gestoßen. Denn in den untersuchten Partikeln fanden sie mikroskopisch kleine Risse und Gruben, die ihrer Ansicht nach durch die Aktivitäten bestimmter Bakterien entstehen.

Das könnte bedeuten, dass die Mikroorganismen diese für ihre Langlebigkeit bekannten Materialien doch zersetzen. Solche Prozesse waren bisher nur an Land, nicht aber aus dem Meer bekannt. Die Forscher versuchen jetzt, die winzigen Müllbeseitiger zu kultivieren, um mehr über ihre Talente herauszufinden. Noch kann niemand sagen, wie schnell und effektiv diese Bakterien arbeiten.

Allein scheinen sie das Abfallproblem aber nicht lösen zu können. Und auch sonst gibt es bisher keine effiziente Methode, den Plastikmüll wieder aus dem Meer herauszuholen. „Die Müllsammelaktionen, die Behörden und Naturschützer rund um die Welt organisieren, sind zwar eine gute Sache“, sagt Gutow. Doch letztlich sei das ein Tropfen auf den heißen Stein. Er sieht derzeit nur eine Möglichkeit: Das Plastik darf erst gar nicht im Meer landen.

Wiener Zeitung, Donnerstag, 3. Oktober 2013