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jeder Mann, jede Frau und jedes Kind #

Anthropologische Spurensuche am Residenzplatz in Salzburg#


Von

Silvia Renhart

Aus: Fundberichte aus Österreich. Materialhefte. Hg.: Bundesdenkmalamt Abteilung für Bodendenkmale. Reihe A, Sonderheft 10. Wien 2009. (Der Residenzplatz)


Historisches „Steckbild' der Salzburger Innenstadt mit dem Bauzustand von 1588. Spätromanischer Dom, Domfriedhof mit Friedhofsmauer.
Abb. 53: Historisches „Steckbild" der Salzburger Innenstadt mit dem Bauzustand von 1588. Spätromanischer Dom, Domfriedhof mit Friedhofsmauer.

Jeden Sommer hallt der mystisch-schaurig-schöne Ruf von Gevatter Tod nach dem ausschweifenden Edelmann über Salzburg. Plätze, die einst auch den „wirklich" Toten Platz boten, werden von buntem, jahrmarktähnlichem Treiben und einer Salzburg eigenen Geschäftigkeit überzogen. Heute trachtet man nur danach, einen guten Platz am Domplatz zu ergattern, um dem Tod ins recht „lebendige" Antlitz schauen zu können. Kaum jemand ahnt aber, dass in unmittelbarer Nähe „echte Tote" liegen. Vielen wird bei dieser Vorstellung wohl etwas mulmig, doch wurde inzwischen ja der Großteil der Bestattungen aus dem ausgehenden Mittelalter und der beginnenden Neuzeit am Residenzplatz ausgegraben und der wissenschaftlichen Bewertung zugeführt. Insgesamt handelt es sich um 261 Verstorbene aus 247 Gräbern. Nach der anthropologischen Analyse liegen 17 Doppel-, eine Fünffach- und 222 Einzelbestattungen vor.[1] Bezüglich einer „Familienzuordnung" sind leider keine verbindlichen Aussagen möglich. Die wahrscheinlichste Annahme ist, dass die Reihung je nach Sterblichkeit innerhalb einer recht kurzen Zeitspanne zustande kam. Bis in die heutige Zeit ist ja die Sitte belegt, auf christlichen Friedhöfen Früh- und Totgeburten bei gerade verstorbenen Erwachsenen und vor allem Getauften (!) mitzubeerdigen. Auch sind bei mittelalterlichen bis frühneuzeitlichen Friedhöfen die Beengtheit und vielfache Nachnutzung sowie das „praktische Denken" der damaligen Bestatter zu berücksichtigen.

Die anthropologische Geschlechtsbestimmung ergab, dass sich die 261 Individuen folgendermaßen verteilen: 67 (25,7 %) Subadulte (Kinder und Jugendliche), 98 (37,6 %) Männer und 96 (36,8 %) Frauen. Diese Geschlechteranalyse zeigt ein zwischen beiden Geschlechtern relativ ausgewogenes Verhältnis. Der Anteil der Subadulten ist gemessen an den in prähistorischen und historischen Friedhöfen angenommenen 50 bis 60 % um die Hälfte niedriger, wobei hier natürlich wieder festzuhalten ist, dass nicht der gesamte Friedhof am Residenzplatz ausgegraben wurde.

Die Sterbealtersanalysen zeigen, dass die Hälfte der Kinder vor dem 6. Lebensjahr und zwei Drittel zwischen 6. und 12. Lebensjahr verstorben sind, bei den Erwachsenen hingegen 37 (14,2 %) in der Sterbealtersklasse „adultus", 85 (32,8 %) in der Klasse „maturus" und 72 (27,6 %) in der Klasse „senilis". Dabei befindet sich der Sterblichkeitsgipfel der Männer in der Sterbealtersklasse „maturus" (41-60 Jahre; 54,1 %), jener der Frauen in der Klasse „senilis" (61-80 Jahre; 44,8 %). Aus den ermittelten Daten ergibt sich so für die Frauen eine durchschnittliche Lebenserwartung von 55,03 Jahren und für die Männer von 53,14 Jahren. Bezieht man die Sterblichkeit der Subadulten ein, ergibt sich eine durchschnittliche Lebenserwartung von 39,2 Jahren bei der Geburt.

Abb. 54: Geschlechts- und Altersverhältnisse der Bestattungen vom Residenzplatz.
Abb. 54: Geschlechts- und Altersverhältnisse der Bestattungen vom Residenzplatz.
Sterbealtersverteilung der Bestattungen vom Residenzplatz.
Abb. 55: Sterbealtersverteilung der Bestattungen vom Residenzplatz.
Verteilung der Körperhöhen bei den Bestattungen vom Residenzplatz.
Abb. 56: Verteilung der Körperhöhen bei den Bestattungen vom Residenzplatz.

Neben den Sterblichkeitsverhältnissen interessiert natürlich auch das äußere Erscheinungsbild der Menschen, die vor etwa 500 Jahren in Salzburg lebten. Im Durchschnitt waren die am Residenzplatz bestatteten Männer 169,3 cm groß gewachsen („übermittelgroß"). Die Beurteilung des Körperbaues zeigt, dass 42,5 % von „mittelkräftigem", 21,3 % von „kräftigem" und 36,2 % von „sehr kräftigem" Körperbau waren. Die Frauen waren ebenfalls eher groß gewachsen und von kräftigerer Statur (90,5 % „kräftig", 9,5 % „sehr kräftig"). Im Durchschnitt waren die am Residenzplatz bestatteten Frauen 159,6 cm groß gewachsen („groß"). Der Unterschied zwischen den Körperhöhen der Geschlechter (Geschlechtsdimorphismus) beträgt 94,4 % und ist damit um 1,6 % niedriger als der heute übliche Wert von etwa 96 %.

Knochen vermögen auch Einblick in sehr persönliche Bereiche eines menschlichen Lebens zu geben. So verraten etwa pathologische Veränderungen oft sehr viel über einen Menschen. Bei einigen wenigen -wohl eher privilegierten - Herren treten beispielsweise „Reiterfacetten" auf. Dabei handelt es sich um Abnützungsmerkmale am Oberschenkelgelenk infolge häufigen Reitens. Bei nur etwa 7 % der Männer ist dieses Merkmal - auch in Verbindung mit deutlichen Belastungsspuren an der Wirbelsäule - feststellbar.

Bestattung eines Mannes mit Rapier und Sporen (Grab 88).
Abb. 57: Bestattung eines Mannes mit Rapier und Sporen (Grab 88).

Wirbelsäulenveränderungen - heute umgangssprachlich auch „Kreuzschmerzen" genannt - treten dem relativ hohen Durchschnittsalter und einer sicherlich durch händische Arbeit geprägten Lebensweise entsprechend bei etwa 38 % der Männer und 25 % der Frauen in beträchtlichem Ausmaß auf. Auch Osteoporose und Arthrosen an den großen Gelenken wie Knie, Hüfte und Schulter sind vertreten. Knochenauflagerungen infolge von Weichteilverletzungen prägen ebenso das Bild wie Erscheinungen, die auf Mangelerkrankungen hinweisen. Bei je drei Subadulten und Frauen sowie zwei Männern ist starker Vitamin- und Mineralstoffmangel diagnostizierbar; bei einer jungen Frau kann man sogar von dem hinlänglich als Seemannskrankheit bekannten „Skorbut" sprechen. Der Zahnstatus zeigt Zahnausfall, Alveolarresorption und Zahnsteinbefall in beträchtlichem Ausmaß, während Karies nur mäßig auftrat. Auch Brüche sind nur in geringer Zahl feststellbar. Kampfverletzungen fehlen gänzlich. Insgesamt ergibt sich das Bild einer relativ friedlich und ohne große Nahrungsmittelengpässe lebenden städtischen Bevölkerung.

Einzig ein „ JederMann" scheint sich doch darunter befunden zu haben... Der in Grab 88 beigesetzte, mit 45 bis 55 Jahren verstorbene Mann war zu Lebzeiten das, was man heute unter einer „imposanten Erscheinung" verstehen würde: Kräftige Muskelmarken, robuster Körperbau und eine Körperhöhe von 182 cm sowie Reiterfacetten weisen auf seine Prominenz ebenso hin wie die Beigabe von Rapier und Sporen.[2]

Dazu kommt noch die Krankheit, die ihn wahrscheinlich mindestens 20 Jahre seines Lebens begleitete und einen hohen Pflegeaufwand bedeutete: Morbus Bechterew. Sie tritt meist im Alter zwischen 20 und 40 Jahren schleichend auf und ist bis heute nicht heilbar. Sie wird häufig vererbt und manifestiert sich in Form von Entzündungen am Knochengerüst und an den Gelenken mit nachfolgender Versteifung sowie an der Regenbogenhaut des Auges und anderen Organen. Eine völlige Verknöcherung des Brustkorbes kommt zustande, so dass dieser beim Atmen nicht mehr bewegt werden kann und nur mehr die Bauchatmung möglich ist. Ein Leben also, dessen Überleben nur durch große Sorgfalt und Rücksichtnahme der Umgebung ermöglicht wird. Vielleicht handelt es sich bei dem Toten gar um den „JEDERMANN"?

[1] Weiterführende Literatur zum Thema: Schmid und Künle 1958; Hengen 1971; Olivieru. a. 1978; Knussmann 1988; Renhart 1991; Renhart 1996; Renhart 2004; Renhart 2006; Renhart 2009.

[2] Vgl. den Beitrag von P. Höglinger.

Details der Skelettteile aus Grab 88 mit Spuren des Krankheitsbildes „Morbus Bechterew'.
Abb. 58: Details der Skelettteile aus Grab 88 mit Spuren des Krankheitsbildes „Morbus Bechterew".