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Aufklärung im Dämmerlicht#

Die Online-Enzyklopädie Wikipedia ist in Geldnöten, verliert an Autoren - und wird zum Spielball politischer Interessen.#


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung (Sa./So., 18./19. Jänner 2014)

Von

Adrian Lobe


Es ist vielleicht eines der größten Projekte der Menschheit: Ein Portal, das das gesammelte Wissen unserer Zeit aggregiert und allen zur Verfügung stellt - Wikipedia. Schüler und Lehrer informieren sich dort ebenso wie Professoren; Studenten recherchieren Referate; Journalisten schreiben davon ab. Der Enzyklopädist und Wegbereiter der Aufklärung, Denis Diderot, hätte sich wohl nicht im Traum vorstellen können, dass 300 Jahre nach seiner Geburt ein solch umfassender Wissensspeicher entstehen würde. Wer in den Urlaub fährt, konsultiert heute Wikipedia anstatt den Reiseführer, und wer etwas über Quantenmechanik oder ein Pornosternchen wissen möchte, erfährt es ebenfalls dort. Das 2001 von Jimmy Wales und Larry Sanger gegründete Online-Lexikon hat bewährte Nachschlagewerke wie den Brockhaus oder die Encyclopaedia Britannica in arge Existenznöte getrieben.

Wikipedia ist weltweit die Nummer sechs der meist besuchten Seiten, gleich nach den Internetgiganten Google, Facebook und Yahoo. Das erstaunt umso mehr, als Wikipedia von einer gemeinnützigen Stiftung, der Wikimedia Foundation, finanziert wird. Doch ist es wirklich ein neutrales Medium? Wer sind die Autoren? Und was haben sie für Meinungen?

Manipulationsgefahr#

Auf Wikipedia kann grundsätzlicher jeder Nutzer Einträge ändern oder erstellen. Mit wenigen Mausklicken lässt sich die Vita eines Politikers aufpolieren, aus einem Schriftsteller ein "großer Schriftsteller" oder eine Maus zum Elefanten machen. Die Wirkung ist gewaltig. Wenn man nach "Washington" oder "Angela Merkel" in Google sucht, sind die korrespondierenden Wikipedia-Artikel meist an vorderster Stelle der Trefferliste. Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Open-Source-Enzyklopädie anfällig für Manipulationen ist.

Man kann Fakten verfälschen, Dinge skandalisieren, Leute denunzieren. Der Journalist John Seigenthaler musste das leidvoll erfahren. Ihm wurde in einem Wikipedia-Eintrag vorgeworfen, an der Ermordung John F. Kennedys beteiligt gewesen zu sein. Natürlich stimmt das nicht. Die Lüge wurde rasch beseitigt, Seigenthalers Ruf ist inzwischen wieder rehabilitiert. Doch der Fall zeigt ein wesentliches Problem auf: Was einmal geschrieben wurde, kann nicht mehr vollständig gelöscht werden. Die Informationen verbreiten sich in Windeseile übers Netz, in Foren, auf Twitter, Blogs und Newsfeeds. Gerüchte machen schnell die Runde. Ob die Inhalte stimmen oder nicht - Wikipedia hat eine ungeheure Definitionsmacht. Der wiederkehrende Vandalismus, also das mutwillige Zerstören der Seite, ist dabei gar nicht das Problem. Das haben die Betreiber mittlerweile ganz gut im Griff. Es geht vielmehr um subtile Änderungen.

Nutzer Christian "b219" schrieb am 20. Oktober 2013 auf dem Wikipedia-Eintrag zum Atomausstieg: "Deutschland verbessert derzeit seine Klimabilanz." Einen Tag später wurde diese Version von "R.Schuster" revidiert. Er schrieb: "Deutschland verschlechtert derzeit seine Klimabilanz." Das Beispiel macht deutlich, wie hinter den Kulissen ein Kampf um Deutungshoheit tobt. Wer hat Recht? Die Versionsgeschichte dokumentiert die bisweilen ideologische Auseinandersetzung. Fast täglich werden Artikel modifiziert, ganze Absätze umgeschrieben oder kleinste Veränderungen vorgenommen. Präpositionen können die gesamte Stoßrichtung eines Artikels kippen. Ein Beispiel: In der aktuellen Fassung über den Atomausstieg heißt es: "Trotz Atomausstieg hat Deutschland im Jahr 2012 so viel Strom exportiert wie noch nie." In der Version zuvor begann der Satz mit "wegen". Wegen des Atomausstiegs habe Deutschland so viel Strom exportiert wie noch nie. Das ist natürlich ein himmelweiter Unterschied. Ist der Atomausstieg ein Bremser oder Beschleuniger der Stromproduktion? Immer wieder schleichen sich solche normativ konnotierten Elemente ein.

Am 9. August 2013 fügte der Nutzer "Jotzet" beim Artikel über die EU die Kategorie "Demokratiedefizit" hinzu, ein im Hinblick auf die politische Union zentrales Thema. Bearbeiter "Andropov" löschte die Kategorie sieben Minuten später mit der Begründung: "Nichts für ungut, aber wenn der Artikel sich schon differenziert und argumentativ mit dem Thema auseinandersetzt, dann braucht es kein plakatives Labeling durch eine POV-Kategorie mehr." Die drei Buchstaben POV - Point of View - umreißen das Problem: subjektiver Standpunkt. Ist es schon billige Meinungsmache, wenn man ein Problem hervorhebt?

Auf dem französischen Wikipedia-Eintrag des Front National wurde kurzerhand die ideologische Einordnung - souveränistisch, nationalistisch, rechtspopulistisch - durch eine weniger polarisierende Kategorie "Generalsekretär" geändert. So wurde das Profil geglättet (ganz im Sinne der Dediabolisierungsstrategie der Partei). Über Fakten kann man nun mal nicht streiten. Wohl aber über Inhalte. So gibt es auf der englischsprachigen Wikipedia-Seite der Präsidentschaft von George W. Bush eine Rubrik "Kontroversen". Beim Eintrag über Obamas Präsidentschaft findet sich keine solche Kategorie - obwohl seine Präsidentschaft nicht weniger kontrovers ist. Man denke nur an die umstrittene Gesundheitsreform. Ist Wikipedia das Instrument demokratischer Aktivisten?

In den USA wittern Beobachter schon länger eine parteipolitische Unterwanderung der Online-Enzyklopädie. Die Seite "Conservapedia", ein konservativ gefärbter Ableger von Wikipedia, der sich selbst als "vertrauenswürdige Enzyklopädie" darstellt, listet eine Reihe angeblicher Verzerrungen auf: etwa tendenziöse Artikel über Abtreibung, Sexualität und Klimaskeptiker, die lächerlich gemacht würden. Es sind klassische Tea-Party-Positionen, die dort vertreten werden. Die Forscher Shane Greenstein und Feng Zhu von der University of Southern California haben in ihrer Studie "Is Wikipedia biased?" untersucht, ob die Artikel tatsächlich inhaltlich verzerrt sind. Dazu kodierten sie Wörter und ordneten sie auf einer Links-Rechts-Skala an.

Keine Blattlinie#

Begriffe wie "Bürgerrechte" und "Handelsdefizite" sind eher im demokratischen Lager zu verorten, während Aussagen wie "Wachstum" oder "illegale Einwanderer" eher bei den Republikanern zu erwarten sind. Das Ergebnis: Von den 70.668 analysierten Artikeln auf Wikipedia waren 28.382 Artikel "gebiased", also inhaltlich verzerrt. Das sind 40,2 Prozent.

Natürlich sind Aussagen immer theoretisch gefiltert und entspringen einem genuinen Beobachterstandpunkt. Auch ein Bericht in der "Frankfurter Allgemeinen" oder "Süddeutschen Zeitung" kann eine Meinung suggerieren. Deshalb muss er aber qualitativ nicht schlecht sein. Vor allem: Der Leser weiß, wie er den Beitrag einzuschätzen hat. Ob er von einer konservativen oder liberalen Warte aus verfasst wurde. Bei Wikipedia weiß er das nicht. Es gibt es keine Blattlinie. Das kann eine Stärke, manchmal aber auch eine Schwäche sein.

Es spricht für die Betreiber, dass sie offen mit Kritik umgehen. Auf ihrer selbstkritischen (und selbstreferenziellen) Seite "Kritik an Wikipedia" listen sie in knapp 10.000 Wörtern die einzelnen Kritikpunkte auf: zweifelhafte Quellen, Urheberrechtsprobleme, Machtmissbrauch. Die Anfälligkeit gegenüber der Einflussnahme durch Interessengruppen nimmt dabei den größten Raum ein. Das ist die offene Flanke der Online-Enzyklopädie. Erst kürzlich hat Wikipedia in den USA 250 Nutzerprofile gesperrt, hinter denen kommerzielle Dienstleister steckten, die für ihre Auftraggeber Artikel schönten.

Das Projekt Wikipedia war angetreten mit dem aufklärerischen, ja geradezu revolutionären Versprechen, durch Schwarmintelligenz und kollaboratives Schreiben Fakten zutage zu fördern. Der Wissensschatz sollte gehoben und geteilt werden. Es war auch eine Wette gegen die tradierte, hierarchische Wissensvermittlung. Als Wikipedia 2001 an den Start ging, sollte es schnell Nupedia überflügeln, eine kostenlose Online-Enzyklopädie, die sich ausschließlich aus Expertenbeiträgen speiste. Nupedia hatte damals eine diffuse Sammlung von Vergil bis hin zu Streichtechniken von Violinen.

Wikipedia setzte auf Masse. Und verzeichnete nach einem Jahr 20.000 Artikel in 18 Sprachen. 2003 gründete Jimmy Wales die Wikimedia Foundation, um Server und Software zu finanzieren. Wikipedia wuchs exponentiell. Heute zählt die englischsprachige Ausgabe 4,4 Millionen Artikel. Darüber hinaus existieren 23,1 Millionen Einträge in 286 Sprachen - von Afrikaans bis Zaza. Sekündlich gibt es Änderungen zu laufenden Entwicklungen. Die Ereignisse zu den Bombenanschlägen von Boston waren schneller aktualisiert als in manchem News-Portal.

Solch eine gigantische Maschinerie braucht eine Armada an Autoren und Lektoren. Doch es sind nur ein paar Hundert Mitarbeiter, die in der flachen Hierarchie von Wikipedia arbeiten. 635 aktive Administratoren sind bei der Stiftung beschäftigt, daneben gibt es noch ein paar IP-Kontrolleure und Überwacher. Den Rest erledigt eine ausgefeilte Sichtungssoftware.

Unbezahlte Autoren#

Das Projekt wird im Wesentlichen von unbezahlten Autoren getragen: Studenten, Rentner, Beamte. Die freiwilligen Hilfskräfte feilen oft mehrere Stunden am Tag an Artikeln, merzen Fehler aus, ergänzen Aspekte oder schreiben neue Beiträge. Die überwiegende Mehrheit der Autoren sind Männer, fast 90 Prozent. So ging das die letzten Jahre.

Doch dem gemeinnützigen Projekt gehen die Schreiber aus. Gab es 2007 rund 51.000 aktive Autoren, sind es heute nur noch 31.000. Wer will schon für Gottes Lohn ein Online-Lexikon pflegen? Das können nur Idealisten sein. Die Zukunft des Online-Lexikons ist gefährdet. Kürzlich schrieb die Fachzeitschrift "MIT Technological Review" einen langen Artikel über den "Niedergang von Wikipedia". Um seine Unabhängigkeit zu wahren, hat Wikipedia einen Spendenaufruf initiiert, der gelb hinterlegt in jedem Eintrag erscheint. "Wikipedia ist anders. Sie ist ein besonderer Ort, wie eine Bibliothek oder ein großer Park: Hier gehen wir alle hin. Hier lernen wir. Hier denken wir nach. Um Wikipedias Unabhängigkeit zu schützen, gibt es keine Werbung. Wir finanzieren uns durch Spenden von durchschnittlich 20 Euro."

Wikipedia braucht dringend Geld. Vom Idealismus der ersten Jahre ist nicht mehr viel übrig geblieben. Die Gefahr besteht darin, sich durch Geldgeber käuflich zu machen und eine Art Gefälligkeits-Publizistik zu betreiben. Was würde passieren, wenn Google plötzlich eine Milliarde US-Dollar in das Online-Lexikon investierte? Würden die Artikel dann immer noch so kritisch ausfallen? Oder würde man wohlwollende Beiträge über Larry Pages Imperium lesen? Der "freien Enzyklopädie" Wikipedia wurde von der UNESCO der Titel "Welterbe der Kultur" verliehen. Niemand möchte das missen. Doch die Betreiber brauchen ein tragfähiges Finanzierungskonzept. Sonst könnte Wikipedia irgendwann einmal selbst Geschichte sein.

Adrian Lobe, geboren 1988, studiert Politik- und Rechtswissenschaft an der Universität Heidelberg; schreibt für Zeitungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Wiener Zeitung, Sa./So., 18./19. Jänner 2014