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Was man weiß, und was man lieber vergessen soll #

Wer bestimmt, was zum Stand des Wissens gehört, wie sicher ist dieser und auf wie lange Zeit? Eine Expertenrunde diskutierte die mögliche Zerstörung einer Säule der Zivilisation.#


Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Tageszeitung Der Standard (Sonntag, 6. April 2014)

Von

Michael Freund


Es wäre ein guter Stoff für ein Theaterstück: ein Professor, der seinen Studenten erzählt, was sie alles nicht wissen und was sie lieber vergessen sollten, weil es mit Wissen nichts zu tun hat.

Tatsächlich sprach der Soziologe Armin Nassehi von der Uni München auf der Bühne des Burgtheaters über seine Einführungsvorlesung, allerdings im Rahmen der Matineereihe "Debating Europe" am vergangenen Sonntag. "Zerstörung des Wissens?" lautete das Thema, und Moderator Nicholas Lemann, Journalismusprofessor und ehemaliger Dekan an der Columbia Journalism School, wollte von den Teilnehmern vorneweg wissen, ob das Fragezeichen überhaupt berechtigt sei. Ja, und es sei auch nicht neu, antwortete Cornelia Klinger von Institut für die Wissenschaften vom Menschen (das gemeinsam mit der Erste Stiftung, dem Burgtheater und dem STANDARD die Diskussion veranstaltete). Schon vor 80 Jahren habe Edmund Husserl in Wien von der Krise der Wissenschaften gesprochen, im Zusammenhang mit dem Fortschritt der Formal- und Naturwissenschaften. Der sei seither um einiges evidenter geworden bis hin zu einer Verselbstständigung wie beim Zauberlehrling. Die Frage bleibe also, ob hier nicht Wesentliches verlorengehe, nämlich Orientierung in unserer Lebenswelt.

Dem hielt Nassehi, wie schon im Interview vergangenen Samstag im STANDARD, entgegen, dass scheinbar gesicherte Kenntnisse jeweils neueren Platz machen würden und dass das gut sei - so komme Fortschritt zustande, und so zeige sich auch, dass der Unterschied zwischen akademischem und Alltagswissen so groß nicht sei.

Auch Lawrence Lessig, Jusprofessor an der Harvard Universität, wies darauf hin, wie viele Ansichten vor 100 Jahren als gesichert galten und wie wenige von ihnen es heute noch sind. Unabhängigkeit der Forscher und Zugang zu allen Daten seien die Voraussetzungen, um Pseudowahrheiten aus den Angeln zu heben.

Gesellschaftliche Veränderungen ebenfalls, ergänzte Klinger: Durch die Straße sei die Emanzipation der Frauen errungen worden, die Wissenschaft habe erst nachher ihre Auffassungen von der emotionalen Grundstimmung und daher politischen Unreife der Frauen revidiert.

Nur am Rande streifte die Diskussion den Themenkomplex der digitalen Suchmaschinen und der dadurch eventuell entstehenden Gefahr für Wissen, obwohl vier der Diskutanten an einer Tagung darüber teilgenommen hatten (siehe Beitrag rechts). Dafür ging es ihnen hier um so deutlicher um die Frage, wie wissenschaftliche Forschung gefördert wird und mit welchen Resultaten.

Für Sara Miller McCune ist es der traditionelle Prozess von Qualitätssicherung - Peer Reviews, entsprechende Veröffentlichungen -, die eine Kontinuität wissenschaftlichen Fortschritts gewährleistet. Als Gründerin und Chefin von Sage Publications konnte sie die Pendelbewegungen von Förderungen über fünf Jahrzehnte beobachten. Sie könne unterstützen, was sie für wertvolle Anliegen halte, aber sie sehe auch, dass Leute mit weit mehr Geld Gegenteiliges förderten.

Konkreter wies Lessig darauf hin, dass Ökonomen den Crash von 2008 nicht vorhergesehen hätten - weil sie in den Taschen von Goldman Sachs und der Wall Street insgesamt steckten. Die amerikanische Öffentlichkeit müsse einsehen, dass staatliche Förderung hier eine gute Alternative darstellen könnte.

Nicht so sehr, ob öffentliche oder private Förderung, sei die Frage, warf Klinger ein, vielmehr gehe es darum, für welche Ziele Gelder freigemacht würden. Und da unterscheide sich Europa leider nicht sehr von den USA. Und die Medien? Lemann war einerseits skeptisch - die Klick-Hörigkeit nehme zu Ungunsten gründlicher Recherche zu. Andererseits mache ihm Mut, dass seriöse Quellen auch im Netz immer noch gefragt sind. Was aber wir heute für gesichertes Wissen halten, so Lessig, würden unsere Enkel nur lächerlich finden. Das sollte uns bescheiden machen.

Der Standard, Sonntag, 6. April 2014