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Wo liegt der Balkan? #

Der Balkan ist ein historisch gewachsenes, oft umkämpftes Gebiet mit undefinierten Grenzen – doch bis heute von politischer und kultureller Bedeutung. Eine Zeitreise. #


Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von: DIE FURCHE (Donnerstag, 11. Februar 2016).

Von

Wolfgang Häusler


Der Südosten Europas war stets von geografischer, politischer und kultureller Bedeutung sowie Schauplatz historischer Ereignisse und Konflikte. Die jüngsten Schreckensszenen an den blockierten Grenzen zeigen die Aktualität dieser Konflikte
Bedeutsam. Der Südosten Europas war stets von geografischer, politischer und kultureller Bedeutung sowie Schauplatz historischer Ereignisse und Konflikte. Die jüngsten Schreckensszenen an den blockierten Grenzen zeigen die Aktualität dieser Konflikte.
Foto: Wikipedia (1); David Rumsey Map Collection

Paul Lendvai nannte zu Recht „Westbalkan“ einen „Phantombegriff im politischen Jargon der Sinnlosigkeit“. Der EU-Gipfel 1998 bezeichnete damit den Raum des in Einzelstaaten zerfallenden Jugoslawien, unter Einbeziehung Albaniens, als Erweiterungsziel nach Rumänien und Bulgarien. Anfang Dezember 2015 wurde die NATO-Aufnahme Montenegros betrieben. Immer öfter wird fälschlicherweise Kroatien, gar Slowenien in die „Balkanroute“ der Flüchtlingsströme gepresst. Das groteske Spiel des FC EU gegen FC Future EU am Vorabend der Wiener Westbalkankonferenz am 27. August 2015, u. a. mit Außenminister Kurz und dem ehemaligen Anführer der kosovarisch- albanischen Freischaren und jetzigen Minister Hashim Thaçi, wäre besser unterblieben. Johannes Hahn, Nachbarschafts- und Erweiterungskommissar der EU, gab den Schiedsrichter: Future EU siegte 4:2. Man könnte darüber lachen, wären nicht zur gleichen Zeit die 71 Toten von Parndorf entdeckt worden.

Hegemonie der Großmächte #

1808 prägte der Berliner Geograf Johann August Zeune den Begriff Balkanhalbinsel für die in Bewegung geratene europäische Türkei. 1804 hatte die serbische Erhebung begonnen, Griechenlands Freiheitskampf folgte. Staatskanzler Metternich, der an der Ostflanke der Donaumonarchie Frieden durch Erhaltung des Osmanischen Reichs wünschte, wird das Wort zugeschrieben, dass der „Balkan auf dem Rennweg (hinter seinem Palais) beginne“. In der Tat durchbrach die von Leopold Ranke 1829 beschriebene serbische Revolution unter den rivalisierenden Fürstenfamilien der Karadjordje und Obrenovic die verordnete Ruhe. Österreich konnte den wachsenden russischen Einfluss nicht eindämmen, ebenso wenig die griechische Eigenstaatlichkeit nach der Seeschlacht von Navarino (1827).

Die Zersetzung der osmanischen Macht auf der „südosteuropäischen Halbinsel“ (Theobald Fischer 1893) nahm ihren unaufhaltsamen Lauf. Der Kontrast zwischen Rom und Byzanz, Katholizismus und Orthodoxie, die jahrhundertelange wechselvolle Konfrontation des christlichen Abendlands mit dem osmanisch-islamischen Vielvölkerreich wurde als Nationalstaatsbildung unter den Hegemonieansprüchen der Großmächte ausgetragen.

Bismarck machte mit seinem im Reichstag 1876 gesprochenen Wort den Balkan, der „nicht die Knochen eines pommerschen Grenadiers“ wert sei, sprichwörtlich – als Raum nationalistischer Konflikte bis zu ethnischen Säuberungen und Massakern, von Rückständigkeit und Korruption. Bald war vom „Pulverfass Balkan“ die Rede.

Karl Mays vielgelesener, in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts spielender Orientzyklus prägte dieses Klischee durch die „Schluchten des Balkan“ und das „Land der Skipetaren“, mit der international operierenden Verbrecherbande des „Schut“. Der Balkan als 2376 m hohes Gebirge bildet das Rückgrat Bulgariens; die erbitterten Kämpfe am Schipka-Pass im russisch-türkischen Krieg von 1877 / 78 verfestigten diesen erweiterten Balkanbegriff, der für die blutigen Balkankriege 1912 / 13 mit Selbstverständlichkeit gebraucht und überbeansprucht wurde. Immerhin: In Rumänien und Bulgarien sorgten deutsche Dynastien (Hohenzollern bzw. Battenberg und Sachsen-Coburg-Gotha) für zivilisatorischen Fortschritt und Modernisierung. Der „ehrliche Makler“ Bismarck vermittelte am Berliner Kongress dem österreichisch- ungarischen Partner die militärisch zu okkupierende Provinz Bosnien-Herzegowina. Rasch reifte der Plan, über den gleichfalls besetzten Sandschak Novipazar, unter Umgehung von Ungarn und Serbien, eine Bahnstrecke Wien- Saloniki zu bauen; sie gedieh 1881 bis Aspang. Die Grenzsteine ihrer Trasse tragen die Buchstaben WSB (Wien-Saloniki-Bahn).

Akute Kriegsgefahr #

In der gegen Russland zu bestehenden Annexionskrise von 1908 im Gefolge der jungtürkischen Revolution führte das parallel zur deutschen Bagdadbahn aufgegriffene Projekt (der Wechsel wurde unterquert) zu akuter Kriegsgefahr. Die Schüsse von Sarajewo am 28. Juni 1914 waren nicht die Ursache, wohl aber der Anlass zum Weltkrieg, mit dem paradoxen Bündnis der Mittelmächte (Österreich- Ungarn, Deutsches Reich, Bulgarien und Türkei – die Namen der Herrscher prangen auf vergoldeten Lorbeerzweigen am Äußeren Burgtor!). Im Niemandsland der Grenzübergänge (Igoumenitsa, Gevgelija, Preševo, Röszke, Šid, Tovarnik, Dobova) eskaliert die Situation, sofern nicht Stacheldraht und Tränengas eingesetzt werden. Halten wir von der Höhe der 50 km langen, 539 m hohen, wald- und weinreichen Fruška Gora („Frankengebirge“) hinter Novi Sad, mit den orthodoxen Klöstern des „serbischen Athos“, Umschau auf diese von den Flüchtlingsströmen erfassten und so oft vom Krieg heimgesuchten Regionen Slawonien, Wojwodina und Banat. Im Süden liegt Syrmien mit der spätantiken Metropole Sirmium (Sremska Mitrovica).

Die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgerpaars am 28. Juni 1914 war nicht Ursache, wohl aber Anlass für den Ersten Weltkrieg
Attentat. Die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgerpaars am 28. Juni 1914 war nicht Ursache, wohl aber Anlass für den Ersten Weltkrieg.
Foto: Wikipedia (1); ÖNB (1)

Die illyrischen Kaiser Diokletian, Konstantin (geboren zu Naissus / Niš), Galerius, Licinius hatten an der Save einen Machtmittelpunkt an der Ost-West-Achse des Reiches. Napoleon sollte westlich davon, von Südkärnten und Osttirol bis zur Adria, die Illyrischen Provinzen gründen: Sie wurden Ausgangspunkt der südslawischen Idee; auf das „Urvolk“ der Illyrer sollten sich auch die Albaner berufen. Im Ostreich begann bei Adrianopel /Edirne 378 die Völkerwanderung: Kaiser Valens verlor hier gegen die hungernden, rebellierenden Goten Schlacht und Leben. Auch in diesem verbliebenen Rest der europäischen Türkei herrscht gegenwärtig angesichts „dicht gemachter“ Grenzen verzweifelter Flüchtlingsandrang.

Eroberungen und Verluste #

Im Fruška-Gora-Kloster Krušedol finden wir das Grab des Patriarchen von Ipek / Peć Arsenije Crnojević, der 30.000 serbische Familien nach dem gescheiterten Vorstoß der kaiserlichen Truppen bis Sarajewo und Niš vor der Rache der Türken nach Ungarn führte; sie bildeten hier die wirtschaftlich und sozial bedeutende Volksgruppe der Raizen (immer noch erhalten das bekannte Städtchen Szentendre bei Budapest). Das serbische Subotica hieß einst Maria Theresiopel, in Erinnerung an die Förderin der deutschen Kolonisation des 18. Jahrhunderts. Im nordserbisch- südungarischen, 1920 geteilten Banat gewann Rumänien mit Temesvár / Timişoara eine wichtige Region an der Flanke Siebenbürgens; die Opposition der protestantischen Ungarn in Rumänien fand hier, bedeutsam für 1989, ihr Zentrum.

Die Etappen dieser Auseinandersetzung markieren als Eckpunkte historische Schlachtfelder, die auf der Linie des ungarischen Grenzverhaus liegen (mit NATO- „Widerhakensperrdraht“ „zur Rettung Europas“, so Viktor Orbán): Mohács an der Donau 1526, das mit dem Tod des Jagiellonenkönigs Ludwig II. die habsburgische Option auf Ungarn öffnete, Zenta (heute in Serbien) an der Theiß 1697. Zenta ist in Wien präsent: Am Deutschmeisterdenkmal ist die „Feuertaufe“ des Hausregiments dargestellt; das Heeresgeschichtliche Museum zeigt das erbeutete Siegel des Sultans Mustafa II., der den Untergang seiner Hauptarmee mitansehen musste; in der Ruhmeshalle des Heeresgeschichtlichen Museums huldigen die Fresken von Blaas dem Türkensieger Eugenio von Savoy, dessen Ruhm im Belvedere und Winterpalais und mit dem Heldenplatzdenkmal präsent ist. Die folgenden Siege Eugens bei Peterwardein und Belgrad 1716 / 17 sicherten Ungarn mit Siebenbürgen, Batschka und Banat eine Pufferzone und fruchtbaren Kolonisationsraum, in bunter Durchmischung der Siedler, die 1848 / 49 in einen „Völker- und Rassenkrieg“ gerieten. Durch Jahrhunderte wiederholten sich blutige Kämpfe in dieser Reibungszone zwischen den Großreichen; die Eroberungen und Verluste von Belgrad reichen vom Spätmittelalter über alle Türkenkriege bis zum „Kampfraum Südost“ der Weltkriege und zum NATO-Bombardement Belgrads und Serbiens 1999. Immer wieder seit der Katastrophe von 1389 wurde das Amselfeld (Kosovo polje) realer und symbolischer Kriegsschauplatz.

Der nach Nickelsdorf und vor Spielfeld stärkst frequentierte steirische Grenzort Heiligenkreuz liegt gegenüber von Mogersdorf / Szentgotthárd an der Raab – Schauplatz des ersten Abwehrerfolgs unter Montecuccoli gegen die osmanische Macht 1664. Den poetischen Hintergrund und das für alle Kriege gültige Schlusswort gab Rainer Maria Rilkes „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“: „Dort hat er eine alte Frau weinen sehen.“

DIE FURCHE, Donnerstag, 11. Februar 2016