!!!„Communismus“ unter Habsburg

!!Im Jahr 1893 veröffentlichte Josef von Neupauer seinen utopischen Roman „Österreich im Jahre 2020“ – der heute, im Nachhinein gelesen, unfreiwillig komisch wirkt.

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''Von der Zeitschrift [Wiener Zeitung|http://www.wienerzeitung.at] (Samstag, 13. September 2008) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.''



von

__Rudolf Teltscher__ 



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Zwei Amerikaner besuchen im Jahr 2020 Österreich. Der Erzähler hat die Zwischenzeit seit 1887 auf geheimnisvolle Weise verschlafen und wird jetzt plötzlich mit den Ergebnissen der Entwicklung konfrontiert. Josef von Neupauers „social-politischer Roman“ steht formal in der von Thomas Morus begründeten Tradition utopischer Reiseschilderungen, deshalb sieht die Gegenwart des Jahres 2020 in seinem Buch so aus: Die österreichisch-ungarische Monarchie existiert noch immer, auf den (im Roman 1918 verstorbenen) „Franz Joseph den Standhaften“ sind weitere Habsburger-Kaiser gefolgt; die Monarchie und 200 Familien des Hochadels spielen zwar eine wichtige Rolle im Staat – zugleich aber ist der „Communismus“ Realität geworden. Offenbar brachte „der fürchterlichste Krieg, den die Welt gesehen“, noch zu Zeiten Franz Josephs einen historischen Umschwung – denn erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts erreichte Österreich wieder die Bevölkerungszahl des Jahres 1890! Als Folge des Krieges brach die alte Gesellschaftsordnung zusammen und der Communismus wurde eingeführt. Geldwirtschaft spielt nur noch im Bereich des staatlichen Außenhandelsmonopols eine Rolle; innerstaatlich und in den Beziehungen zu den übrigen Mitgliedsstaaten, die in einer Art „erweiterter Europäischen Union“ verbunden sind, spielt Geld überhaupt keine Rolle mehr – es ist ebenso abgeschafft wie die Herrschaft der „Classen“; die Volkssouveränität ist verwirklicht.

!Ein Leben ohne Politik

Die Europäische Union umfasst auch Russland bis zu dessen Ostgrenze, nicht aber England, das seine Besitzungen im Mittelmeer verloren hat. Dieses ist ein mare nostrum der Union geworden, desgleichen die Ostsee. Die Mitgliedsstaaten sind Monarchien oder Republiken, die Türkei, Arabien, die Südküste des Mittelmeers sind unter den europäischen Mächten aufgeteilt, die vier Balkanstaaten unterstehen österreichischer Oberhoheit; neue Mitglieder aus Asien und Afrika sind der Union willkommen. In diesem Umfeld hat das „Ende der Geschichte“ bereits eingesetzt, und Österreich kann sein Paradies ungestört verwirklichen: „Alle politischen Fragen haben an Bedeutung verloren“. Denn „in drei Generationen ist der Charakter des Volkes verändert worden . . .“: in diesem Satz wird der utopische Charakter des Entwurfs klar: der „neue Mensch“ ist die Voraussetzung für das Funktionieren jedweder Utopie. Die Geburtsvorrechte sind abgeschafft, „die natürliche Ungleichheit soll zur vollen Entfaltung kommen“, alle „künstliche und aus Knechtung entstandene Ungleichheit“ ist abgeschafft! Jeder wird nach Verdienst geehrt und entlohnt – nicht wie bei Marx „nach seinen Bedürfnissen“. Die Wirtschaft – nach Abschaffung des Geldes – ist nun eine reine zentralisierte Staatswirtschaft. Der Staat bestellt die Fabriksleiter, die Fabriken führen nur Staatsaufträge aus, die Zuteilung der nötigen Materialien erfolgt ausschließlich durch die Centralverwaltung. „Das Verrechnungswesen selbst verursacht große Arbeit und der Nutzen ist ein geringer.“ Daher dürfen sich nach Gewohnheitsrecht die Ziffern „ein wenig unterscheiden“; trotzdem wird betont, dass Korruption („Unterschleife“) durch Beamte aufgrund genauer Verrechnung ausgeschlossen ist. Die Verwaltung produziert ein gewaltiges Statistik-System, das je nach Gegenstand täglich, wöchentlich etc. publiziert wird. Da der Mensch „eigentlich arbeitsbedürftig“ ist, wird in der Freizeit nützliche Arbeit in Vereinen geleistet. Die gesamte Wirtschaft ist von Sparsamkeit geprägt, Damenmode wird nur „geschürzt und drapiert“, was die weitere Verwendung durch andere Trägerinnen erlaubt; es gibt auch ein Recycling aller Abfälle. Die technische Seite der Produktion bleibt allerdings unerörtert, die gesamte Technologie ist auf dem Niveau des ausgehenden 19. Jahrhunderts stehen geblieben, nur die Straßenbahnen in Wien werden pneumatisch betrieben. Die Gesamtschule vom 6. bis zum 18. Lebensjahr ist eingeführt, das Bildungsziel heißt Allgemein- und Berufsausbildung. Bis zum Pensionsantritt mit 65 Jahren gilt allgemein Arbeitspflicht, jedoch sind Frühpensionierungen für einzelne Berufsgruppen (Ärzte, Lehrer, leitende Angestellte) möglich, späterer Pensionsantritt kann als Strafe verhängt werden. Behinderte werden nach Möglichkeit in den Produktionsprozess eingegliedert.

!Die „Frauencurie“

Für die Stellung der Frauen in der Gesellschaft wurde eine originelle Lösung gefunden: die „Frauencurie“, der alle Bürgerinnen ab dem 18. Lebensjahr angehören. Sämtliche Angelegenheiten, welche Frauen betreffen, können nur mit Zustimmung der Curie geregelt werden; allerdings dürfen Frauen weder Staatsbeamte, Tribunen noch leitende Ärzte werden; es stehen ihnen aber eigene medizinische Schulen offen, wo alles Personal weiblich ist, nur weibliche Leichname seziert und Forschungsergebnisse in einer Frauenzeitung publiziert werden. In der Wirtschaft und in allen öffentlichen Bereichen sind die Frauen den Männern gleichgestellt. Für Ehefrauen gelten strikte eugenische Beschränkungen: nur die gesündesten Mädchen werden im Kleinkinderalter als künftige Ehefrauen ausgewählt. Bei „Fehltritten“ haben sich die Sitten gelockert: wenn uneheliche Geburten nicht zu zahlreich werden, setzt es nur einen Verweis. Der Volksgesundheit dient auch die Tatsache, dass nach mehrjährigen Kampagnen die Österreicher sich das Rauchen abgewöhnt haben, es gilt aber kein Rauchverbot. Die Gleichheit aller Bürger ist durchgesetzt (im Roman heiratet ein Holzarbeiter eine Prinzessin), die Rolle des Monarchen als Stabilitätsfaktor und der 200 Adelsfamilien als Repräsentanten des Schönen im gesellschaftlichen Bereich ist so anerkannt, dass eine Volksabstimmung über ihre Abschaffung „kläglich scheitert“. Die Hauptfunktion des Monarchen und die Aufgabe des Adels ist die Pflege der „höchsten idealen Interessen des Volkes“, während „der Communismus die Quelle des Reichtums ist, weil jede Sache allen dient“. Der ökonomische Zustand dieses Paradieses: rund 10 Prozent des BNP für Staatsaufgaben, davon ein Prozent für Krone und Adel, vier Prozent für Gehälter von Beamten, Lehrern und Ärzten und fünf Prozent für Wissenschaft und Kunst. Außer der Staatswirtschaft existieren keine anderen Wirtschaftsformen; alle Produktionsmittel wie auch alle Produkte (geistige und künstlerische) sind staatliches Eigentum. Diese Struktur führt dazu, dass der Staat auf die Ansiedlung der Bevölkerung Einfluss nehmen kann (auch wenn sich rund um Wien ein Speckgürtel gebildet hat), dass die Wohnverhältnisse geändert werden konnten (Wohnblocks, keine Einzelhäuser) und in zentralen Gemeindepalästen öffentliche Dienste, Gemeinschaftsverpflegung etc. angeboten werden. Damit ist auch das allgemeine Wecken um fünf Uhr morgens realisierbar. Für Ausländer sind eigene Geschäfte vorgesehen, die Valuta annehmen, vergleichbar den ehemaligen sowjetischen Beriozka-Läden. Den vom Kaiser ernannten Beamten, denen größere Wohnungen in den Gemeinde- oder (in Wien) Quartierspalästen zustehen, stehen als Kontrollorgane gewählte Tribunen auf allen Verwaltungsebenen zur Seite.

!Schauplatz Tullner Feld

Der größte Teil dieses kuriosen communistisch-monarchistischen Romans spielt im Tullner Feld, mit Ausflügen nach Wien und zum Semmering; kürzere Reisen erfolgen zu Pferde oder in der Kutsche, längere mit der Bahn, zu der der Autor offensichtlich kein großes Vertrauen hat (jährlich hundert Unfälle). Hauptperson und Berichterstatter in diesem epischen Werk ist Julian West, der in zwei Romanen (Edward Bellamy „Looking Backward: 2000-1887“, 1888, und Richard Michaelis, „Ein Blick in die Zukunft, Antwort auf: Ein Rückblick von Edward Bellamy“, 1890) als Zeitreisender nach hypnotischem Schlaf schon Bekanntschaft mit dem Land gemacht hat; beim dritten Mal kann er von hier also aus der Zukunft berichten. Für uns Nachgeborene ist es faszinierend zu sehen, welche Anziehungskraft „socialistische und communistische“ Gesellschaftsentwürfe damals ausübten. Dabei wird aber nicht auf Karl Marx Bezug genommen, der sich von anderen utopischen Autoren des 19. Jahrhunderts dadurch unterscheidet, dass er seine Utopie nicht romanhaft gestaltet, sondern mit dem Anschein von Wissenschaftlichkeit ausgestattet und ihre baldige Realisierung erwartet, ja auch aktiv angestrebt hat. Dieser „social-politische“ Roman Neupauers unterscheidet sich vor allem in einem Punkt wesentlich von ähnlichen literarischen Produkten und vom Werk Marx’: er hat eine religiöse Basis. Das Christentum existiert zwar als institutionalisierte Religion nicht mehr (nach dem letzten Konklave wird verkündet: „papam non habemus“), in Wien existieren nur mehr drei Kirchen (Stephansdom, Votivkirche, Kapuzinerkirche – diese ausdrücklich wegen der Kaisergruft), dem Roman liegt aber eine ausdrückliche, mit Fußnoten des Autors und einem Nachwort bekräftigte, christliche Motivation zu Grunde. Sein Verständnis von Christentum ist jedoch höchst unkonventionell (das Matthäus-Evangelium wird als einziges in „gereinigter“, gekürzter Fassung im Unterricht verwendet und als Legende vorgetragen), aber das von ihm beschriebene Habsburgerreich sieht er als das verwirklichte Reich Gottes an, da dort jeder Hungrige gespeist, jeder Durstige getränkt, jeder Nackte bekleidet, jeder Fremdling beherbergt und jeder Kranke besucht wird. „Mein Roman zeigt“, erklärt Neupauer, „dass, wer alles verlässt in dem Sinne, wie es Christus versteht, nämlich zur Begründung des Collectivismus, reicher wird.“

''__Rudolf Teltscher__ lebt in Wien und ist als Unternehmensberater in Russland und der Slowakei tätig.''


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[Wiener Zeitung,|http://www.wienerzeitung.at] Samstag, 13. September 2008''
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