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Märtyrer oder Arbeitermörder?#

Vor 75 Jahren, am 25. Juli 1934, wurde der erste Kanzler des Ständestaats, Engelbert Dollfuß, von Nazis ermordet. Der „Juliputsch“ der Nazis forderte 223 Todesopfer. Bis heute wird über Dollfuß’ Rolle heiß debattiert.#


Mit freundlicher Genehmigung der Wiener Zeitung vom Samstag, 25. Juli 2009

Von

Katharina Schmidt


Kanzler Engelbert Dollfuß

Für die einen ist er ein Sozialistenmörder, für die anderen ein Märtyrer im Kampf gegen den Nationalsozialismus: Am Samstag, 25. Juli 2009 jährte sich die Ermordung des ersten Kanzlers des Ständestaats, Engelbert Dollfuß, zum 75. Mal. Die Nationalsozialisten – in Deutschland seit Jänner 1933 an der Macht, in Österreich seit Juni 1933 verboten – erfuhren zu Beginn der 1930er Jahre auch hierzulande immer regeren Zustrom.

Am 25. Juli 1934 kam es zu einem blutigen Aufstand der österreichischen Nazis, der als „Juliputsch“ in die Geschichte eingegangen ist. Zwischen 12.53 und 12.55 Uhr fuhren die Aufständischen, in Militäruniformen gekleidet, in den Hof des Kanzleramts am Ballhausplatz ein. 20 Minuten später stürmten SS-Männer die Wiener Sendestation der Ravag (Radio Verkehrs AG) und zwangen den Sprecher, eine neue Regierung unter Anton Rintelen, einem Christlichsozialen, der mit den Nazis kooperierte, auszurufen.

Unterdessen hatten rund 150 Putschisten im Kanzleramt sämtliche Beamte gefangen genommen. Dollfuß versuchte über eine Wendeltreppe zu flüchten, wurde aber von einer Gruppe Nationalsozialisten gestellt und angeschossen. Wenige Stunden später, um 15.45 Uhr, erlag Dollfuß seinen Verletzungen – laut Zeugenaussagen sollen ihm ein Priester und ein Arzt verweigert worden sein. Auch ist die Rede davon, dass Dollfuß gebeten habe, Italiens Diktator Benito Mussolini möge sich um seine Frau und Kinder kümmern.

Während die Putschisten im Funkhaus schon am frühen Nachmittag überwältigt werden konnten, ergaben sich die Nazis im Kanzleramt erst am Abend. Auch in den Bundesländern gab es eine Reihe von Aufständen, die bis zum 28. Juli andauerten. Über die Opferzahl des „Juliputsches“ gibt es unterschiedliche Angaben, der Historiker Kurt Bauer kommt in seinem Werk „Elementar-Ereignis“ auf 223 Tote: 101 auf Seiten der Regierung, 111 auf jener der Aufständischen und 11 getötete Unbeteiligte.

Regierung ohne stabile Mehrheit im Parlament#

Getöteter Sozialist

Engelbert Dollfuß, 1892 als unehelicher Bauernsohn in Niederösterreich geboren, polarisiert bis heute. Für die einen gilt er als Märtyrer, der, wie Historiker Roman Sandgruber schreibt, Österreich immerhin für ein paar Jahre die nationalsozialistische Diktatur erspart hat. Für die anderen ist Dollfuß ein faschistischer Arbeitermörder, der erst den Nährboden für die NS-Machtübernahme im März 1938 geschaffen hat.

1932 demokratisch gewählt, verfügte er im Reichstag nur über eine äußerst instabile Mehrheit von einer Stimme. Über die Bewertung der Ereignisse am 4. März 1933 schieden sich die Geister: Lange Zeit hieß es, das Parlament habe sich selbst aufgelöst. Mittlerweile gilt es bei Historikern und Politikern aller Couleurs als erwiesen, dass dieses Ereignis als Verfassungsbruch durch die Regierung interpretiert werden muss. So sprach 2003 der damalige ÖVP-Nationalratspräsident Andreas Khol von einem „Staatsstreich“, der Ständestaat sei ein „autoritäres Regime, das sich auf eine juristische Notlüge gestützt hat“. Dollfuß ließ keine Neuwahlen ausrufen, sondern regierte autoritär – unter Berufung auf das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz aus 1917. Was folgte, war ein sukzessives Verbot aller anderer Parteien und Organisationen – neben den Nationalsozialisten wurden die Wehrorganisation der Sozialdemokraten, der Schutzbund, und die Kommunistische Partei aufgelöst.

Verbot aller Parteien und Organisationen#

Die aufgeheizte Stimmung zwischen Sozialdemokraten und dem austrofaschistischen Regime gipfelte in den Februarkämpfen 1934. Die Linzer Gruppe des Schutzbunds, der seit seiner Auflösung im Untergrund und defensiv agierte, entschloss sich am 11. Februar zum Widerstand gegen die Heimwehren, den bewaffneten Arm der Christlichsozialen – tags darauf begannen im ganzen Land Kämpfe zwischen Schutzbund und Heimwehr, die bis zum 14. Februar dauerten (nur im Karl-Marx-Hof hielten die Sozialisten bis 15. Februar durch), rund 300 Tote forderten und mit einer vernichtenden Niederlage der Schutzbündler endeten. Neun Aufständische wurden hingerichtet, Partei und Gewerkschaften wurden verboten, die Wiener Landesregierung entmachtet. Am 1. Mai wurde der „Ständestaat“ ausgerufen.

Verhältnis SPÖ-ÖVP nachhaltig beeinflusst#

Die Zeit des Austrofaschismus hat das Verhältnis zwischen den beiden Großparteien nachhaltig beeinflusst. So kommt es heute noch immer wieder zu hitzigen Diskussionen zwischen SPÖ und ÖVP darüber, dass das Porträt von Dollfuß im ÖVP-Klub im Parlament hängt. Laut einem Bericht des „Datum“ soll Khol Dollfuß 2001 – in der Zeit der schwarz-blauen Koalition – als „Märtyrer und Patrioten“ bezeichnet haben, worauf der damalige SPÖ-Abgeordnete Günther Kräuter konterte: „Also ich sage ihnen: Für mich und meine Fraktion ist Dollfuß ein schmieriger Faschist.“

Auf ein ganz anderes Phänomen ist der Wiener Historiker Oliver Rathkolb gestoßen: Laut einer Umfrage aus 2007 kann jeder zweite mit dem Satz „Dollfuß hat 1933 die Demokratie zerstört“ nichts mehr anfangen. Die Zeit des Ständestaats spiele „im öffentlichen Diskurs keine Rolle mehr“, sagte Rathkolb dazu. Vor derlei Entwicklungen warnt ÖVP-Generalsekretär Fritz Kaltenegger: „Wir dürfen auf keinen Fall vergessen, was damals passiert ist“, sagt er. Und: Die klare Abgrenzung der ÖVP davon sei „unbestritten“.

Wiener Zeitung vom Samstag, 25. Juli 2009