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Das Schwert von Mutter Heimat#

200 Stufen führen auf den Mamajew-Hügel, 200 Tage wurde die Stadt belagert, 200 Meter trennten die Wehrmacht von der Wolga. Symbolik, wohin man blickt. Wie gedenkt man der Schlacht von Stalingrad? Ein Winterbesuch.#


Mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt von: Die Presse (Samstag, 18. Februar 2012)

Von

Robert Streibel


Stalingrad. In nur wenigen Stunden bin ich dort, ein Nachtflug nach Moskau, ein Morgenflug. So einfach ist das. Stalingrad ist ein Symbol. Wie wird daran erinnert? Von wem? Wie kann man dieser Schlacht gedenken? Am Flughafen in Wien warten viele Russen, sie kommen vom Skifahren, sie kommen von ihrem Wienbesuch, sie sind nicht mehr die Armen, die Underdogs. Jetzt sind wir froh wenn sie kommen. Als sich eine Frau in der Warteschlange unabsichtlich vordrängt, macht sie ihr Mann darauf aufmerksam, sie entschuldigt sich bei mir. Vor mir eine Familie mit einem kleinen Buben, er spielt mit einer Holzpistole, ausgeschnitten. Ob es das schon fertig zu kaufen gibt? Oder hat der Papa da mit der Laubsäge gearbeitet?

Stalingrad. So weit kam die Wehrmacht, so weit, und dann haben nur mehr 200 Meter gefehlt bis zur Wolga, so viel blieb übrig, so viel von Stalingrad war nicht erobert und sollte nicht mehr erobert werden. 200 Meter. Im Museum in Wolgograd liegt der lithografische Stein, vorbereitet, Flugblätter auf Russisch zu drucken: „Stalingrad ist gefallen. Ergebt euch. Moskau ist das Hirn des Landes, doch Stalingrad das Herz.“ Etwas voreilig. Stalingrad ist nicht gefallen.

Ich habe eine eigene Methode entwickelt, um mich Stalingrad zu nähern, ich habe den Schlachtverlauf nicht kontinuierlich verfolgt, sondern bin knapp vor dem Zeitpunkt eingestiegen, als die Wehrmacht eingekesselt wurde, und habe dann die folgenden Monate studiert. Erst nach der Kapitulation habe ich die Kapitel vor dem September 1942 gelesen, das Davor, die Bombardements. Und dann erst den Roman von Wiktor Nekrassow, die andere Sicht. Die Geschichte des ewigen sowjetischen Rückzugs, der Hoffnungslosigkeit und der Brutalität, mit der auch die Rotarmisten gezwungen wurden zu kämpfen. Der Befehl Stalins „Kein Schritt zurück“ musste in die Tat umgesetzt werden. Immerhin wurden 13.000 Rotarmisten als Deserteure bei der Schlacht um Stalingrad von ihren Kommandeuren erschossen. Der erzwungene Heldenmut. 200 Meter haben gefehlt, dann wäre die Wehrmacht in Stalingrad an der Wolga gewesen.

Die Wolga. Der Don lag schon hinter den Deutschen. Die Schönheit der Landschaft hat viele verzaubert, nachdem Tausende Toten ihren Weg gepflastert hatten: Partisanen, Frauen, Kinder, Mütter, Soldaten. Und dann stehen die deutschen Kämpfer und haben Tränen in den Augen und hören Franz Lehár, das Lied aus dem „Zarewitsch“. „Es steht ein Soldat am Wolgastrand, / hält Wache für sein Vaterland. / In dunkler Nacht allein und fern, / es leuchtet ihm kein Mond, kein Stern . . .“ Dass der Soldat im „Zarewitsch“ ein anderes Vaterland meint, das störte 1942 niemanden.

Auf dem Weg in die Ruhmeshalle auf dem Mamajew-Hügel, auf dem zur Figur der Schwert schwingenden Mutter Heimat 200 Stufen führen, ist rechts vom Eingang ein Sgraffito zu sehen, es zeigt einen Zug von kriegsgefangenen deutschen Soldaten, der sich nach rechts bewegt, Richtung Osten. „Ihr wolltet die Wolga sehen, wir haben euch das ermöglicht.“ Verständlicher Zynismus als Begleiterscheinung eines Pathos, dem sich keiner entziehen kann.

Im Hotel wartet meine historisch fachkundige Begleiterin Tatjana. Morgen um 10 Uhr beginnt die Rundfahrt. Heute soll ich mir unbedingt das kleine Museum ansehen, gleich im Warenhaus neben dem Hotel Intertourist. Im Keller, da ist der Raum zu sehen, in dem sich Generalfeldmarschall Friedrich Paulus für einige Tage vor seiner Gefangennahme aufgehalten hat.

Das Reisebüro hat das richtige Zimmer für mich gebucht, direkter Blick auf das Mahnmal, den Obelisken und das ewige Feuer. Ich stehe nur kurz am Fenster und kann durch die von Reif verzierten Äste bemerken, wie Menschen die drei Stufen zum Feuer hinaufgehen und stehen bleiben, zuerst eine Frau, dann ein Mann, dann eine Familie mit einem Kleinkind. Der Obelisk erinnert an den Bürgerkrieg, er ist eines der drei Wunder von Stalingrad: Während kein Haus heil die Schlacht überstand, blieben der Obelisk, eine Platane und das Denkmal eines sowjetischen Fliegerhelden direkt an der Wolga unversehrt.

Das Warenhaus. Ein improvisierter Basar, Telefonstände, Glaspokale mit Gold, Geschirr, in einer Ecke kann man seine Rückenbeschwerden auf einer Massageliege kurieren. Der Weg in den Bunker führt vorbei an Schneewittchen, vollbusigen Frauen auf Kaffeehäferln, dazwischen Gnome, eine Giraffe, ein Putin-Bild. Bevor ich in den Gang mit den Relikten einbiege: ein offener Verkaufsstand für Militärkleidung und dann direkt davor ein Waffengeschäft, Pistolen, Gewehre, Pumpguns, automatische Waffen. Ich versuche, nicht zu fotografieren, der Security-Mann ist mit einer Schutzweste ausgestattet, schwingt begeistert seinen Schlagstock. Muss ja nicht sein.

Stalingrad ist die Wende des Krieges. Wie wird der Geschichte gedacht in diesem Keller? Improvisiert mit Puppen, ein Fahrzeug, eine Beiwagenmaschine, bemalte Wände, Dioramen. Im Natural History Museum in New York sind die ausgestopften Tiere vor solchen Gemälden platziert, hier Soldaten, auch mit Geräuschkulisse. Das Licht flackert, und damit man Paulus als Puppe erkennt, sind seine Umrisse mit Leuchtstreifen markiert. Ein improvisiertes Disneyland, gespenstisch. Ständig hört man Schritte von den Kauflustigen darüber, die Bretter im Boden, scheinen nur provisorisch verlegt und knarren beachtlich.

Die Rundfahrt beginnt. Was blieb von Stalingrad? Es sind bloß vier Gebäude, die so aufgebaut wurden, wie sie vor dem Krieg ausgesehen haben. Das Hotel Intourist, das Hotel Wolgograd und das Theater, das ehemalige deutsche Lazarett. Am Samstag sammeln sich einige Schüler und Schülerinnen, die Mädchen mit den weißen Schleifen im Haar, um vor dem Obelisken und der ewigen Flamme eine Mahnwache zu halten. 200 Stufen führen auf den Mamajew-Hügel, 200 Tage wurde die Stadt belagert und 200 Meter trennten die Deutschen von der Wolga. Symbolik, wohin man blickt. Der Platz des Kampfes mit dem Soldaten mit Handgranate und Panzerfaust, Kämpfen bis zum Tod. Obwohl er um ein Vielfaches kleiner ist als die Mutter Heimat, verdeckt er sie, wenn man vor ihm steht, alles eine Frage der Perspektive. Ein Einzelner kann die Heimat retten. Die 200 Stufen bewältigen an diesem Tag auch Mädchen in Stilettos und Minirock, den Freund an der Hand. Kein Platz für Verliebte, aber in Stalingrad gehen die jungen Familien auch mit den Kleinkindern ins Militärmuseum.

Zurück auf dem Hügel, auch Anhöhe 102 genannt. Jede Stunde ist Wachablöse mit preußischem Schritt. Früher durften die Gardesoldaten nur blond sein, mussten blaue Augen haben und Slawen sein. Jetzt wurde diese Bestimmung gelockert, auch Brünette und Braunäugige dürfen Fuß und Arm abwechselnd schwingen. Und dann der Blick auf die Mutter Heimat, eine der größten Skulpturen der Welt, mit Sockel und Schwert 85 Meter hoch, alleine das Schwert ist 33 Meter lang. Um zum Sockel zu kommen, muss man über das Massengrab von 38.000 sowjetischen Soldaten gehen. Am Fuß der Statue liegt auch Wassili Iwanowitsch Tschuikow begraben, der Befehlshaber der 62. Armee, die die Hauptlast der Verteidigung der Stadt getragen hat. Es war sein ausdrücklicher Wunsch, hier 1982 seine letzte Ruhe zu finden. Tropfen fallen von der Mutter Heimat, sie fallen lange, jeder einzelne kann verfolgt werden.

Veteranen beider Seite treffen sich zu den Gedenktagen, sie trinken gemeinsam und erinnern sich. Eine sonderbare Freundschaft. Sie verstehen sich besser, als sie verstanden werden. Vielleicht kommen die Deutschen und Österreicher auch deswegen so gerne nach Stalingrad, weil sie hier verstanden werden und hier so richtig auch Opfer sein können. An die Toten erinnern, aber ihre Taten nicht vergessen. Das ist die Mahnung. Meine Begleiterin Tatjana, die die Schlacht und die kämpfenden Einheiten ohne Zögern aufsagen kann, meint, es müsse doch Versöhnung geben, es sei doch schön, wenn die Veteranen heute so zusammenkommen. Friede und Verzeihen. Aber ohne die Taten der Wehrmacht aufgezählt zu bekommen? Sie wundert sich über meinen Zugang. Der Versöhnungsbund hat im kleinen Dorf Rossoschka die deutschen Toten der Umgebung in einem großen Friedhof zusammengeholt. Auf Granitblöcken sind die Namen der Vermissten eingraviert, 140 Blöcke sollen es sein. Um das Gräberfeld abzugehen, an den Namensplatten vorbei, dafür benötigt man schon einige Zeit. Der Wind bläst. Der Versöhnungsbund hat im Dorf eine Grundschule gebaut und ein Begegnungszentrum, hier wird geheiratet und gewählt und hier kommen die Jugendlichen zusammen, die im Sommer die Gräber pflegen. Die Deutschen pflegen die russischen Gräber, die Russen die deutschen Gräber. In der kleinen Ausstellung werden drei Einzelschicksale von Soldaten geschildert. Dass die Deutschen und Österreicher auch Täter waren, was sie auf ihrem Weg angerichtet haben, kommt hier nicht so richtig zur Sprache. Wäre es zu viel für die Angehörigen, dies hier lesen zu müssen?

Ein Tag in Stalingrad, und ich gehe über das Massengrab von 38.000 Russen auf dem Mamajew-Hügel und 52.000 Toten in Rossoschka und dann, auf der anderen Straßenseite, nochmals 18.000 Russen, und die, die nicht beerdigt wurden, die sind gar nicht mitgezählt. Dafür geht es mir am Abend gut, überraschend gut.

Der Volksbund hat eine Schule gebaut, und die Österreicher haben eine Stahlpyramide aufgestellt. Eine Pyramide im Schlamm,ein Erinnerungszeichen. Für wen eigentlich? Ein Zeichen, das die heute dort Lebenden erinnert, was hier geschehen ist? Wenn wir eine Schule, einen Kindergarten dort gebaut hätten, wäre das sinnvoller. Ist doch sonderbar, wir, die wir als Österreicher durch Jahrzehnte „Opfer“ waren, nicht so richtig dazugehört haben zur Wehrmacht, sind jetzt die Einzigen, die dort ein Denkmal haben.

An die Toten erinnern, aber ihre Taten nicht vergessen. Dies ist ein Ziel meiner Reise auf den Spuren von General Karl Eibl, der sich mit der 385. Infanteriedivision aus dem Kessel von Stalingrad absetzen konnte. Nach der Spurensuche im Rahmen des Projekts des Österreichischen Zukunftsfonds in der Ukraine nun das Finale in Russland. Auch mein Rückzug hinter den Don ist geglückt. Zehn Stunden Fahrt, fast ohne Pause, mit einem Navigationsgerät, einem Fahrer und zwei Beifahrerinnen. Ändert sich die Landschaft? Nach Wolgograd ist die Ebene noch von kleinen Schluchten durchsetzt, dann wird es flacher. Zeichen sind in die Landschaft geschrieben, als wäre Anselm Kiefer hier vorbeigekommen. Wir überqueren den Don. Die Sonne scheint fast auf den Hügelkuppen zu hüpfen. Rossosch, die Lichter der Stadt, kleine Häuser, maximal ein Stock, eine große Kirche, wir fahren über die Kalitwa, das ist der Fluss, über den sich die Deutschen und Italiener im Jänner 1943 abgesetzt haben.

Italiener kommen heute häufig nach Rossosch, erfahre ich. Familien auf der Suche nach den Vätern. Die Italiener haben im Ort auch einen Kindergarten gebaut. In der Nacht höre ich im Hotel viele Stimmen, nicht die Toten melden sich, die Fernsehgeräte der umliegenden Gäste kommen nicht zur Ruhe.

Ich bin im Mittelpunkt der „Ostrogoschsk-Rossoscher Offensive“ angelangt, die von 13. bis 27.Jänner 1943 dauerte. Lang wurde diese Schlacht auch von sowjetischen Historikern nicht besonders gewürdigt, später hat man diese Kämpfe als „Stalingrad am oberen Don“ bezeichnet. Die Bilanz der Operation, schreibt die Historikerin Svetlana Vasiljevna Markova aus Woronesch: 15 feindliche Divisionen vernichtet und 86.000 deutsche, ungarische und italienische Soldaten und Offizier gefangen genommen.

Direkt vom Hotel fahren wir ins Zentrum, als solches ist es nicht sofort zu erkennen. Ein Gebäude unterscheidet sich, ein wenig südländischen Charme versprüht es. Jener Kindergarten, den die italienischen Veteranen zwischen 1992 und 1993 gebaut haben. Rechts vom Gebäude ein Eingang, der Weg zum Museum, das sich im Keller befindet. Ailim Morosow, ein freundlicher älterer Mann mit leuchtenden Goldzähnen, empfängt mich, und gleich zu Beginn macht er eines klar: „Hier in Rossosch sind gleich drei deutsche Generäle gefallen. General Martin Wandl, General Karl Eibl und General Arno Jahr.“

Ailim ist in seinem Element und erläutert die Operation. Seit 30 Jahren betreibt er dieses Museum, sein Gehalt wird bezahlt, aber sonst bekommt er keine Förderung. Er möchte gerne Putin im Museum begrüßen, und er möchte ihm alles zeigen und glaubt fest daran, dass dieser dann zu dem Schluss kommt, dass die Geschichte dieser Stadt nicht weiterhin im Bunker gezeigt werden soll. Meine Begleiter aus Rossosch waren noch nie im Museum. Sie meinen, der Zeit des Kriegs werde nicht mehr richtig gedacht, wenn aber vergessen wird, dann beginnt der neue Krieg. Viele Kriege haben in der Zwischenzeit begonnen, das Vergessen ist sicherlich nicht daran schuld.

Als wir am Vormittag des 16. Jänner ankommen, ist alles für die Feier aufgebaut, die Befreiung von Rossosch, junge Soldaten stehen herum, werfen sich Mineralwasserflaschen zu, der Pope baut seinen mobilen Altar auf, aus dem Lautsprecher Soldatenlieder. Ein Soldat singt von der Schlacht in einem Dorf und er erinnert an alle, die gefallen sind.

In einer Stunde habe er Zeit, meint Ailim, dann könne er mich zum Platz führen, an den Fluss Kalitwa, wo Karl Eibl tödlich verwundet wurde. Die Bäume auf dem Weg von Rossosch nach Nova Charkowka sind alle unschuldig, keiner hat den Krieg erlebt, alle Bäume hier sind erst später gepflanzt worden. Die Sonne kämpft sich durch den Hochnebel, eine verschneite Winterlandschaft.

Die Geschichte des Karl Eibl, der von einer italienischen Granate getötet wurde, hätten alle Italiener immer bezweifelt und in Zweifel gezogen, Ailim tut es auch, alles sei unbewiesen.

Am Don und an der Kalitwa wurde das Ende des deutsch-italienischen Waffenbündnisses besiegelt, die gereizte Stimmung, die Vorwürfe und das Misstrauen haben sich während der Flucht auch in gewaltsamen Aktionen entladen.

Ich klettere den Abhang hinunter, der Baum neben der Brücke ist schnell ausgewählt der Draht entrollt, Erinnerungsplakate in Russisch und Deutsch sind schnell angebracht. Seit 16. Jänner 2012 hat General Karl Eibl einen Gedenkbaum an der Kalitwa.

Ich trage mich ins Gedenkbuch im Museum ein. Und wenn ich dann zu Hause bin, muss ich die Akten aus dem Militärarchiv Freiburg sichten, wie viele Partisanen die Einheit von Eibl auf ihrem Weg nach Stalingrad erschossen hat. ¦

Die Presse, Samstag, 18. Februar 2012