!!!Explosion des Schreibens

!!Wer schreibt, der bleibt: Im Ersten Weltkrieg greifen viele zu Tinte und Bleistift - Schüler, Mütter, Generäle, Diener. Ein Bildband der Wienbibliothek gibt Einblick in private Tagebücher und Briefe.

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''Von der [Wiener Zeitung|http://wienerzeitung.at] (Sa./So., 28./29. Juni 2014) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.''

Von

__Manfred Tacha__

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[{Image src='Kriegsgefangenenkarte-1915.jpg' class='image_right' caption='Eine Kriegsgefangenenkarte von 1915 aus dem Lager Antipicha bei Tschita in Sibirien.\\Abbildung: Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung' alt='Kriegsgefangenenkarte von 1915 aus dem Lager Antipicha bei Tschita in Sibirien' height='400' width='255'}]


"Gestatten Sie bitte folgende Anfrage" - mit diesen Worten erreicht mich im Herbst 2013 folgendes Mail: "Im Zuge der Vorbereitung einer Publikation zum Ersten Weltkrieg bin ich auf Briefdokumente aus unserem Archiv gestoßen, die Schüler der 4. Klasse a der Knabenvolksschule Erdbergstraße im 3. Bezirk im Jahr 1914 an österreichische Soldaten an die Front geschickt haben. . . . wobei eine aus der Hand von Josef Tacha stammt, über den leider nichts bekannt ist. (. . .) Ich würde gerne über den Schreiber des Kinderbriefes mehr erfahren, vielleicht handelt es sich um einen Verwandten von Ihnen?"

Die Nachricht trifft mich unerwartet. Nie hatte mein Großvater mir gegenüber den Ersten Weltkrieg erwähnt, hundert Jahre Schweigen und jetzt die Stimme aus dem Archiv.

Das Mail stammte von Kyra Waldner, Mitarbeiterin der Handschriftensammlung der Wienbibliothek. Die Karte trägt folgenden Text: "An unsere tapferen Krieger!" heißt es in Lateinschrift auf rötlichem Papier: "Ir wießt das Weihnachten vor der Tür sind wollen wir unser Schärflein hervor bringen und etwas zu schicken, dann werden die Rußen und Serben viele Schläge bekommen." Hier wechselt die Schrift auf Kurrent: "Es wünscht von ganzem Herzen die ganze 5.c Volksschulglasse Wien II Bez. Erdbergstraße 76." Unterschrieben mit "Tacha Josef".

!Begleit-Propaganda

Die Karte ist tatsächlich von meinem Großvater; in der Vorweihnachtszeit 1914 war er zehn Jahre alt. Es gibt aus der Zeit kein Foto von ihm, auch sonst nichts; nur diese Zeilen. In den siebziger Jahren wird er mir grimmig von den Russen erzählen, die nach 1945 alle Maschinen aus seiner Buchbinderei abtransportieren. Und die Tschechen nennt er "Gfraster", weil sie dem deutschsprachigen Buben absichtlich die Auskunft am Bahnhof verweigern.

Die Karte, die mir so persönlich erschien, ist Teil einer Massenbewegung, Begleit-Propaganda für Liebesgaben an unbekannte Soldaten an der Front. Kyra Waldner hatte im Archiv 54 Schriftstücke dieser Art gefunden, etwa von einem Drittklässler: "Ihr braucht nicht böse sein, dass Ihr für uns Euer Blut geben müßt. Wir schauen auf Euch, daß es besser gehen wird." Und der Sohn des Amtsdieners formuliert: ". . . Ihr tapferen Helden. Geht nur tüchtig gegen die Russen und Serben! Wir singen recht oft das schöne Kaiserlied, und jedesmal, so oft wir es singen klopft das Herz freudig auf."

Die Inhalte zeigen gewisse Gemeinsamkeiten, sagt Waldner: "Es gibt da ähnliche Strickmuster - die sind von Kinderhand, aber nicht aus Kinderhirnen." Und sie berichtet von einer Liste mit - heute würde man wohl sagen "Textbausteinen".

Für das Anfang Juni erschienene Buch "Es ist Frühling und wir leben noch. Eine Geschichte des Ersten Weltkrieges in Infinitiven. Von Aufzeichnen bis Zensieren" haben Kyra Waldner und Marcel Atze eine Unzahl von Dokumenten gesichtet und verdichtet: Kriegstagebücher, Fotos, Briefe, Verwaltungsakten, Zeichnungen; es sind durchgehend sehr persönliche Notizen. Rund 28 Milliarden Briefe und Karten (sic!) sollen im Ersten Weltkrieg geschrieben worden sein. Der Krieg führt zu einer Explosion des Schreibens, denn wer schreibt, der bleibt - im Angesicht von Tod und Trennung bekommt der alte Juristenspruch eine andere, existenziellere Bedeutung. Einige nehmen Tinte, manche Tintenblei, aber ganz viele greifen zum Bleistift, denn an der Front ist es nass und Tinte würde zu schnell zerrinnen.

Marcel Atze meint, wer als Kriegsgefangener mit seinen Leuten zu Hause korrespondieren wollte, "sollte Lateinschrift wählen. Die italienische Zensur konnte zwar Deutsch lesen, nicht aber Kurrent. Und wenn die Zensur etwas nicht lesen konnte, dann vernichtete sie es."

Das Buch, das Waldner und Atze vorgelegt haben, ist vielgestaltig, sorgfältig zusammengestellt und lesenswert: tiefe Einblicke in persönliche Schicksale, in Eitelkeit, Sorge und Not, eine gelungene Kombination privater Fotos, Zeichnungen, Originaltexte mit versiertem Kommentar. Feldmarschall Franz Conrad von Hötzendorf beklagt den Tod seines Sohnes, Erzherzogin Stephanie von Lonyay, dass sie "wegen Mangels an Petroleum (. . .) elektrische Beleuchtung einführen" muss.

!Vater-Unser-Variation

Während Stefan Zweig und Roda Roda "kriegsberichterstatten", beschließt der junge Heimito von Doderer in sibirischer Kriegsgefangenschaft, Dichter zu werden, und Karl Kraus zittert - knapp 50-jährig - vor der Musterung. Es kommen aber auch - und das trägt viel zur Qualität des Bandes bei - zahlreiche "einfache" Menschen zu Wort: eine Frau, die ihrem fernen Mann Fehltritt und Schwangerschaft beichtet; eine Mutter, die nach dem Grab ihres Sohnes forscht; ein Bub, der brieflich seinen internierten Vater aufmuntert, wie etwa der junge Hans Weigel (1908-1991). 1919 ist sein Vater Oberstleutnant Eduard Weigel immer noch in russischer Gefangenschaft, also dichtet der Elfjährige: "Der Hochzeitstag ist gekommen/ Der Vater leider noch nicht da./ Wir hofften der Vater wär auch gekommen. Doch hoffentlich ist er nah./ Wem Gott will rechte Gunst erweisen/ Den schickt er wie den Vater in die Weite Welt./ Da macht er viele interessante Reisen./ Daß nachher es zu Hause besser ihm gefällt."

Zum Abschluss seines Gedichtes variiert dieser elfjährige jüdische Bub das christliche Gebet: "Vater unser, der Du bist in Rußland! Eduard ist Dein Name; komme bald nach Deutschösterreich; bezahle unsere Schulden, gib uns unser täglich Brot, führe uns nicht in Versuchung sondern erlöse uns vom Übel des Alleinsseins. Dein Sohn Hans".

Als der Vater 1920 nach sechsjähriger Trennung von Wladiwostok aufbricht und Monate später endlich in Prag eintrifft, bringt er 73 Schreiben seines Sohnes in die Heimat zurück. So wichtig sind sie ihm auf dieser Reise um den Globus. Aber als der Sohn kommt, um den Vater abzuholen, erkennt er ihn nicht ("ein unansehnlicher Soldat in schäbiger Uniform").

Jahrzehnte später wird Hans Weigel schreiben: "Er liebte mich, (. . .) aber mein guter Freund war und blieb meine Mutter, und für den Versuch, eine echte Vater-Sohn-Beziehung herzustellen, war es zu spät, womit ich mich an unseren allerhöchsten Kriegsherrn und allergnädigsten Monarchen, Seine Apostolische Majestät Franz Joseph I., wende. Er hat vielen anderen viel mehr genommen, aber mir immerhin die Chance, mit einem Vater jung zu sein und erwachsen zu werden."

Um genauer zu erfahren, wie der Sammelband zustandegekommen ist, besuche ich Marcel Atze, den Leiter der Handschriftensammlung in der Wienbibliothek.

''"Wiener Zeitung": Wie sind sie zu den Themen gekommen, die Sie in dem Buch aufarbeiten?''

Marcel Atze: Wir haben uns an den Beständen der Handschriftensammlung orientiert, zahllose Schachteln aus unseren rund tausend Nachlässen nach Materia-lien aus der Zeit des Ersten Weltkriegs durchforstet und Einzelautographen gesichtet. Das waren wohl wohl über 10.000 Dokumente; natürlich konnten wir nur einen Bruchteil verwenden. Aber es handelt sich ausschließlich um Unikate; die allermeisten davon werden nun erstmals publiziert.

''Sie haben viele Quellen aus Österreich, aber keine italienischen, russischen, englischen. . .''

Das liegt am Sammelauftrag der Wienbibliothek. Die Handschriftensammlung kümmert sich um die Wiener Kulturgeschichte seit 1750. So besitzen wir die Nachlässe von Grillparzer, Raimund und Nestroy, haben aber auch etliche Bestände einfacher Leute.

''Wer arm ist, nicht schreiben und lesen kann, der hinterlässt wenig Spuren. . .''

In einem Handschriften-Archiv befinden sich üblicherweise Dokumente von Menschen mit einer gewissen Bildung. Aber dieser Krieg zwingt die Menschen zu schreiben. Da mobilisieren sie selbst bescheidenste Fähigkeiten des Aufschreibens."

Alois Urban aus Mährisch Weißkirchen ist dafür ein gutes Beispiel. Er korrespondierte viel mit seiner früheren Herrin Fanny von Schaukal, der Ehefrau des Dichters Richard von Schaukal. Diener bleibt Diener, selbst wenn er im Felde kämpft; in Italien soll er für die Herrschaften Wolle organisieren. "Schaf wolle kan ich hier haben (. . .) die frau (. . .) sagte mir unter 100 kr. vird sie 1 kg kaum bekomen. ist es nicht sehr viel?" Zu einer Leinen-Bestellung meldet Urban gehorsamst: "von dem starken Leinen es gibt verschidenen gvalitäten und stärken daher ist es chver ein muster zu schicken. (. . .) Ich bitte auch die Gnädige frau mir geld zu schicken damit ich nicht vieder in so ein verlegenheit rate vie diesmal. Es ist einem sehr beinlich."

Die Lieferung gibt Urban einem Gefreiten auf Heimaturlaub mit: "33 ½ m. veisen Leinvand, 5. par strümpfe, 3 par socken 1 Stück Solenleder, und veise und schwarze volle." Er schließt mit den Zeilen: "die sonne ist schon hier sehr heis. vie lange vir noch hier bleiben ist noch ganz unbestimt. Sonst veits ist hier nichts neues."

!Erfundene Geschichte

Was tun, wenn es keine Dokumente gibt, wenn kein Mail aus dem Archiv einlangt und die Nachgeborenen ein Bedürfnis nach persönlicher Geschichte haben? Peter Rosei versucht im Vorwort zu "Es ist Frühling und ich lebe noch" eine Annäherung an seinen Kärntner Großvater. Aus dem großen ersten Krieg erfährt er nur zwei Anekdoten: über dessen Zeit als Wachposten am Predil-Pass bei Raibl und wie die Großmutter den feschen Soldaten kennen gelernt hat. "Irgendwann", schreibt Peter Rosei, "habe ich mich hingesetzt und meinem Großvater die fehlende Lebensgeschichte hinzuerfunden."

!Informationen:

"Es ist Frühling, und ich lebe noch". Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs in Infinitiven. Von Aufzeichnen bis Zensieren." Hg. von Marcel Atze und Kyra Waldner. Mit einem einleitenden Essay von Peter Rosei. Residenz Verlag, St. Pölten 2014, 439 Seiten, 29,90 Euro.

--> [www.wienbibliothek.at|http://www.wienbibliothek.at]


''__Manfred Tacha__, geboren 1962, studierte Germanistik und Politikwissenschaften in Wien und New Media Management an der Donau Universität Krems. Er ist Onlineredakteur beim Testmagazin "Konsument".''


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[Wiener Zeitung|http://wienerzeitung.at], Sa./So., 28./29. Juni 2014
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