Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!
unbekannter Gast

Und ich sah ...#


Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 419/2022

Von

Herbert Kohlmaier


Als ich neulich die Bibel zur Hand nahm, stieß ich auf die Offenbarung des Johannes und las ein wenig darin. Eigentlich ist verwunderlich, dass diese Schrift, die überbordende Fan- tasie wiedergibt, in den Kanon aufgenommen wurde. Immer wieder fällt mir auch ein, was in der Bibel, die meine Frau im Gymnasium zu verwenden hatte, stand. Nämlich, dass Jo- hannes der Apostel, der Evangelist und der Verfasser der Offenbarung in einer Person gewesen wäre. Ein Musterbeispiel für die (einstige?) Naivität des Glaubens.

Immer wieder kann man in der Offenbarung lesen „Und ich sah“. Sie muss also im Zustand einer religiösen Meditation abgefasst worden sein, was sich auch aus der einleitenden Schil- derung der Aufforderung zum Schreiben ergibt. Sie ergeht direkt von Jesus, der aber höchst merkwürdig dargestellt wird. Nämlich wie ein gewaltiger Supermann, aus dessen Mund ein scharfes Schwert kommt. Ein seltsames Dokument des Glaubens also, diese Außenprojek- tion einer Innenschau.

Das veranlasste mich, die Augen zu schließen und zu probieren, was mir als Vision zuteil- würde, würde ich in mich gehen. (Mein Freund Franz Josef Weißenböck meinte unlängst scherzhaft, man müsse in so einem Fall zunächst sehen, ob man da überhaupt jemanden antreffe.) Aber es gelang mir doch ein Blick des Glaubens, der erbaulich war. Ich sah vor meinem geistigen Auge jenen Ort im Heiligen Land, wo Jesus die Bergpredigt gehalten haben soll. Vielleicht spielte dabei eine Erinnerung mit, die ich mir bewahrt habe. Als Mit- glieder einer Delegation der Europäischen Christdemokaten hatten wir diesen wunderschö- nen Ort aufgesucht. Dort nahm jeder eine vorbereitete Bibel zu Hand und wir trugen der Reihe nach die einzelnen Seligpreisungen in unserer jeweiligen Sprache vor. Es war eine sehr berührende Manifestation des gemeinsamen Glaubens.

Bei meiner Innenschau entstand also das Bild jener biblischen Versammlung von vielen Menschen, Männer und Frauen sowie auch Kindern. Manche lagerten auf dem Gras, an- dere standen aufrecht, um der Bedeutung des Ereignisses Rechnung zu tragen. In der Mitte jener, dessen Blick sich niemand entziehen und dessen Worte niemand vergessen konnte. Nicht ausgestattet mit eindrucksvollen Zeichen von Macht, aber einer unübersehbaren Hel- ligkeit, die von seinem Antlitz ausging.

Doch plötzlich wandelte sich das Bild. Eine große Zahl von Bulldozern näherte sich und begann, neben dem Berg einen weiteren aufzutürmen. Ein Techniker stellte sich mit seinem Mess-Gerät oben hin, um sicherzustellen, dass das hergestellte Gebilde höher als das vor- handene würde. Was sollte das bedeuten? Er erwies sich, als gleich darauf eine feierliche Prozession meist älterer Männer herbeikam und sich anschickte, den Hügel zu beschreiten. Sie hatten prächtige Gewänder an, den Kopf bedeckt mit Gebilden, die ihre Größe ein- drucksvoll erhöhen sollten. Manche trugen einen Kessel, dem Weihrauch entstieg, andere hielten ein Aspergill in der Hand und verteilten Weihwasser in die Umgebung.

Mich verwunderte, dass die Menschen, die sich zuvor auf dem Berg versammelt hatten, dieses Geschehen offenbar ignorierten. Auch die Dazugekommenen nahmen keine Notiz von der anderen Zusammenkunft. Doch das änderte sich schlagartig, als in ihrer Mitte einer begann, laut lateinische Texte zu rezitieren. Unter den um Jesus Versammelten entstand Unruhe, als sie die Sprache der verhassten Besatzer hörten. Fäuste ballten sich, manche drohten in die Richtung der seltsamen Gruppe, Kinder begannen zu schreien und in die Arme der Mütter zu flüchten. Der in ihrer Mitte aber blieb unberührt, er senkte nur sein Haupt und sah zu Boden.

Auf der anderen Seite reagierte man nun auch, aber ganz unterschiedlich. Manche blickten freundlich hinüber und machten eine Handbewegung, die teils einem freundlichen Winken und teils einer Geste des Segnens glich. Andere wandten sich ab, wirkten verlegen oder gar unangenehm berührt. Die Situation wurde immer verwirrender, eigentlich grotesk. Meine Fantasie schien an ihr Ende gekommen zu sein. Aber plötzlich merkte ich, dass sich die beiden Berge auseinander bewegten. Es entstand zwischen ihnen ein hässlicher dunkler Spalt, der immer mehr auseinanderklaffte. Mir kam vor, dass aus ihm ein boshaft krächzen- des Gelächter zu hören war.

So eine Innenschau wollte ich nicht. Ich öffnete wieder die Augen und mein Blick fiel durch das Fenster auf den Abendhimmel, über den der Wind eine leuchtende weiße Wolke be- wegte. Der Wind? Wird nicht der Geist Gottes als Luftstrom beschrieben, als Spiritus oder Pneuma? Ist er nicht Zeichen der steten Veränderung, die voranbringt, was stillsteht? Die helle Wolke lenkte meine Gedanken wieder zum Antlitz dessen, der zu den Menschen gesprochen hatte. Er trug nicht wie bei Johannes einen Gürtel aus Gold und seine Beine glühten nicht wie geschmolzenes Erz. Als Ergebnis meines Gedankenspiels der Fantasie war bei ihm nur dieses stille Leuchten, das „ich sah“.