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Wissenschaft und Fundamentalismus#

Glaube und Naturwissenschaften II#


Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 355/2020

Von

Heribert Franz Köck


Ein Ort, an dem das Problem „Glaube und Naturwissenschaften“ nach einer Lösung verlangt, ist die Frage, was die Evolution verursacht bzw. bestimmt. Diese Frage setzt bereits voraus, dass Evolution als Vorgang akzeptiert ist. Auf Seiten der Naturwissenschaftler kann man ohne weiteres von einer solchen Akzeptanz ausgehen, auf Seiten gläubiger Menschen ist das hingegen durchaus nicht sicher. Gerade bei jenen Religionen, die sich auf eine göttliche Offenbarung berufen, ist das keineswegs immer und überall der Fall. Der Grund dafür ist, dass sich diese Offenbarung mehr oder weniger lange zurückliegt, anfangs oft auch erst mündlich überliefert und erst später auch schriftlich festgehalten wurde. Nicht nur die mündliche Überlieferung, sondern auch dieser Vorgang der Verschriftlichung war vom jeweiligen Weltbild des Verfassers bestimmt; und dieses Weltbild war an sich ein statisches. Veränderungen gab es darin nur im Bereich der menschlichen Geschichte, sei es durch das Handeln der Menschen selbst, sei es durch das Eingreifen einer höheren Macht. Erst die modernen Naturwissenschaften konnten aufzeigen, dass Veränderungen nicht auf den Bereich der menschlichen Geschichte beschränkt waren, sondern das gesamte Universum in seiner Geschichte einer dauernden Veränderung unterworfen war, die freilich in solchen Zeiträumen ablief, dass es für die Menschen im Laufe ihrer Geschichte nicht greif- und erfahrbar war – nicht in der persönlichen Geschichte des Einzelnen, aber auch nicht in der Menschheitsgeschichte, von der damals nicht mehr bekannt war, als was man sich aufgrund eigener Erfahrung selbst vorstellen konnte oder durch Erzählungen tradiert wurde. Und was die Erzählungen anlangt, so waren diese vom Weltbild des Erzählers geprägt.

Dieses Weltbild war nicht das unsere. Unser Weltbild ist durch die in den letzten zwei bis drei Jahrhunderten gemachten wissenschaftlichen Erkenntnisse – vor allem jenen der Naturwissenschaften – stark, fast grundstürzend, verändert worden. Wir wissen jetzt, dass es eine Geschichte des Universums gibt, eine Geschichte unseres Sonnensystems, eine Geschichte unserer Erde, eine Geschichte ihrer Lebewesen, in welcher der Mensch als Individuum mit Körper und Geist, also mit Verstand und Willen, erst vor vergleichsweise ganz kurzer Zeit aufgetreten ist. Wir wissen, dass dies alles im Laufe fast unvorstellbar langer Zeitläufte geschehen ist; aber diese Erkenntnis haben wir eben auch erst seit den Entdeckungen der Naturwissenschaften. Dabei hat das neue („moderne“) Weltbild das alte Weltbild nur schrittweise abgelöst; und dieses lebt in vielen unserer Redeweisen weiter. Wir wissen zwar heute, dass Tag und Nach dadurch zustande kommen, dass sich die Erde innerhalb von 24 Stunden einmal um die eigene Achse dreht; aber wir sprechen noch immer vom „Sonnenaufgang“ und vom „Sonnenniedergang“ und nicht etwa von der Zeit des Hindrehens zur, oder des Wegdrehens von, der Sonne. Diese Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Auch unser Bewusstsein ist noch vom alten Weltbild mitgeprägt. Die Erzählungen aus der Zeit des alten Weltbildes müssen daher für die Menschen, die ein neues Weltbild haben, fremd sein, und daher entsprechend neu erzählt werden. Das ist kein Unglück, sondern einfach eine Aufgabe, der man sich unterziehen muss. Das gilt auch für den Bereich der Religion. Auch dort muss das, was dem alten Weltbild entsprach, durch das, was dem neuen Weltbild entspricht, ersetzt werden. Richtiger muss man vielleicht sagen, dass die alten Erzählungen so interpretiert werden müssen, dass sie unter dem neuen Weltbild wieder verstanden werden können. Betrüblicherweise hat die Theologie besonders lange gebraucht, um das einzusehen. So wissen wir jetzt, dass die Erde nicht in sechs Tagen geschaffen wurde und dass ihre Lebewesen einen langen Entwicklungsprozess durchgemacht haben. Je mehr aber die alten Erzählungen das alte Weltbild zum Ausdruck bringen, umso mehr müssen sie neu interpretiert werden. (Ich halte es daher auch vom Standpunkt der christlichen Verkündigung aus für verfehlt, wenn in der Osternacht die biblische Revue der Großtaten Gottes in den Lesungen mit der Schöpfungsgeschichte der Genesis einsetzt, während man gleichzeitig frü den unbefangenen Hörer immer die gängige Erklärung zur Hand haben muss, dies sei alles nicht wörtlich zu nehmen und wolle nicht mehr sagen als „dass Gott die Welt in der Zeit aus dem Nichts geschaffen hat“.)

Wenn aber diese Scheidung von „Zeitbedingtem“ und „Nicht-Zeitbedingten“ dazu führt, dass auch die alten religiösen Texte neu interpretiert, ihre Geschichten neu erzählt werden müssen, dann haben natürlich jene damit Schwierigkeiten, denen man zu lange erzählt hat, dass diese religiösen Schriften von Gott derart inspiriert seien, dass sie seitens Gottes eine „allgemeine Wahrheitsgarantie“ besäßen. Noch das Zweite Vatikanische Konzil tat sich schwer, in der Bibel zwischen Glaubenswahrheiten – also Wahrheiten, die für den Glauben essentiell sind – und sonstigen Inhalten, die für den Glauben nicht essentiell und daher durchaus weltbildbedingt sind, zu unterscheiden.

Seither haben sich in allen drei monotheistischen Religionen zwei Gruppen herausgebildet: jene, welche am Buchstaben der alten religiösen Erzählungen festhalten wollen, und jene, welche bereit sind, den Inhalt der alten Erzählungen in eine neue, für den Menschen von heute passende und daher verständliche Form zu bringen.

Die Mitglieder der ersten Gruppe vermeinen, dass das Preisgeben des Buchstabens auch ein Preisgeben des Fundaments des Glaubens bedeute, an dem sie aber ohne Abstriche festhalten wollen. Daher hat sich für sie auch die Bezeichnung „Fundamentalisten“ herausgebildet, während sie die anderen, welche die religiöse Botschaft in einer der modernen Zeit angemessenen Weise verkünden, als „Modernisten“ verurteilen.

Am stärksten sind die Fundamentalisten im Bereich des Islams zu finden, was wohl damit zu tu hat, dass die Masse dessen Anhänger die geistigen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte, insbesondere die Aufklärung, nicht mitgemacht hat und auch mit den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften wenig vertraut ist. Auch eine historisch-kritische Exegese des Korans und der Tradition, soweit diese schriftlich festgehalten ist, gibt es dort – außer in kleinen kritischen Gruppen – nicht. Das hat dazu geführt, dass der Islam, obwohl die jüngste der drei monotheistischen Religionen, durch seinen bis heure beherrschenden Fundamentalismus, von allen die erstarrteste ist und sich in Lehre und Kultus am wenigsten weiterentwickelt hat.

Im Judentum gibt es verschiedene Strömungen, von denen jene der Ultraorthodoxen zwar nicht die Mehrheit darstellt, aber doch in der Lage ist, zumindest im Staate Israel das politische Geschehen zu beeinflussen. Am verbreitetsten ist heute freilich das Reformjudentum, das in Lehre und Kultus die größten Änderungen vorgenommen hat und damit den Ansprüchen des modernen Menschen zu genügen sucht.

Am weitesten fortgeschritten ist in dieser Hinsicht das abendländische Christentum, wo sich die Theologie in zunehmendem Maße als Teil der modernen Wissenschaften betrachtet und daher jedem Fundamentalismus ablehnen gegenübersteht. Dazu kommt, dass die Theologie schon immer, also auch in Zeiten des alten Weltbildes, um eine innere Widerspruchslosigkeit bemüht war, die sie als ein Kennzeichnen wissenschaftlicher Theorien ansah. Das gilt sowohl für die katholische wie die evangelische Theologie, während die sog. Orthodoxie, lange Zeit aus historischen Gründen von der geistigen Entwicklung des Abendlandes abgeschottet und daher auch nicht mit den Gedanken der Aufklärung vertraut, seit Jahrhunderten in ihrer vom alten Weltbild geprägten Tradition erstarrt ist, dies aber in fundamentalistischer Weise als Vorzug gegenüber den abendländischen Christen ansieht.

Natürlich gibt es auch in Europa und in den sog. „europäischen Staaten in Übersee“, also in den sog, „westlichen“ Industriestaaten, zu denen auch Australien und Neuseeland gehören, kleinere oder größere fundamentalistische Gruppierungen, insbesondere im Bereich der sog. Freikirchen, die sich aber immerhin in der bisherigen westlichen Führungsmacht, den Vereinigten Staaten, politisches Gewicht verschafft haben. Ihre Erfolge dienen wiederum den Fundamentalisten in der Katholischen und den Evangelischen Kirchen als Anknüpfungspunkt, sodass sie sich und ihren Einfluss auch in diesen „Großkirchen“ bewahrt haben. Ihrem Bemühen, das religiöse Rat der Zeit wieder um hundert oder noch mehr Jahre zurückzutreten, jedenfalls aber jeden weiteren Fortschritt zu sabotieren, kommt der Umstand zu Hilfe, dass sie gerade in den zentralen Verwaltungsapparaten der Kirchen überproportional vertreten sind und auch reformgeneigte Päpste wie Johannes XXIII. oder Franziskus ihrer nicht Herr zu werden vermochten. – Aber halten wir uns da lieber an die im Allgemeinen weit aufgeschlossenere Theologie!

Diese hat nicht nur die modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse integriert, sondern auch, von diesen Erkenntnissen ausgehend, selbst neue Ansätze gefunden, sodass ihr von Seiten der Naturwissenschaft nicht einmal der Vorwurf gemacht werde kann, sie würde deren Einsichten nur schleppend und aus der Not eine Tugend machend integrieren. Freilich – der Erkenntnisge genstand der Theologie überschreitet die selbstgezogenen Grenzen der Naturwissenschaften; und daher darf es nicht überraschen, dass sich die Theologie (im Besonderen, wie schon die Philosophie im Allgemeinen) mit Fragen befasst, zu deren Beantwortung sich die Naturwissenschaft selbst für unzuständig erklärt hat, soweit sie nicht aus dem Rahmen ihrer eigenen Methoden „fällt“, also bewusst oder unbewusst diesen Rahmen überschreitet.

Das ist der Punkt, an dem sich zeigt, dass auch die Naturwissenschaften ihre Fundamentalisten haben. Das sind jene Naturwissenschaftler, die meinen, allein ihre Wissenschaft genüge für die Beantwortung aller menschlichen Fragen; und wo sie nicht genüge, handle es sich nicht um wissenschaftliche Fragen, die allein es wert wären, beantwortet zu werden. Dieser naturwissenschaftliche Fundamentalismus treibt manchmal sogar sonderbare Blüten wie das quasi-religiöse Sendungsbewusstsein, mit dem sie etwa Atheismuskampagnen betreiben, wie dies um die Jahrtausendwende vor allem in Europa der Fall war.