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Wolkenkratzer und Tiller-Girls#

In den 1920er Jahren entdeckte Österreich Amerika als faszinierendes Gegenbild zur eigenen Kultur. Die Geschichte einer ambivalenten Annäherung.#


Von der Wiener Zeitung (Sa./So., 9./10. Jänner 2016) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Anton Holzer


Skyline von Manhattan
Die berühmte Skyline von Manhattan war um 1930 für viele Europäer das unerreichbare Wunschbild einer wirklich modernen Stadt.
© Foto: Archiv Anton Holzer

Ganz Österreich blickt nach Amerika. Ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Ein junges Wiener Mädchen, zwanzig Jahre alt, hat den sagenhaften Aufstieg über Nacht geschafft. Ihr Name: Lisl Goldarbeiter. Ihre Geschichte ist schnell erzählt: Die Tochter eines Wiener Ledergalanteriewarenhändlers, geboren 1909, Absolventin eines Realgymnasiums, entschließt sich in den späten 1920er Jahren auf Zureden eines Freundes, sich bei einem Wiener Schönheitswettbewerb zu beteiligen. Sie wird eingeladen und gewinnt die Miss-Wahl. Als Siegerin fährt sie nach Paris und wird dort Zweite.

Dann kommt die Einladung nach Galveston, Texas, USA. Hier findet im Juni 1929 die Wahl zur Miss Universe statt. Elf Konkurrentinnen aus aller Welt sind versammelt. Von sieben Preisrichtern stimmen sechs für die Österreicherin. Sie ist die erste Ausländerin, die den Preis gewinnt. Mit einem Schlag ist die junge Wienerin ein begehrtes Fotomodell - und weltberühmt.

Gegenbild zur Realität#

1929 ist die Amerika-Faszina- tion in Österreich auf einem Höhepunkt angekommen. Amerika, das ist in diesen Jahren ein traumhaftes Gegenbild zur harten Realität im eigenen Land. Sehnsüchtig blickt man aus dem verarmten Kleinstaat, der gerade die Monarchie abgeschüttelt hat, in die unerreichbare Ferne, wo Unmögliches möglich erscheint. In Gestalt von Lisl Goldarbeiter ist dieser Traum für einen Augenblick Wirklichkeit geworden. Im Oktober 1929, wenige Monate nach dem österreichischen Triumph in Galveston, kommt es in New York zum Börsenkrach. Der amerikanische Traum hat Risse bekommen. Die Schockwellen machen sich bald auch in Österreich bemerkbar.

Die Amerikafaszination der späten zwanziger Jahre ist ein spannendes Kapitel österreichischer Kulturgeschichte. Amerika galt als gelobtes Land des Wohlstands, Forschritts und der Freiheit.

Importiert wurde alles, was noch wenige Jahre zuvor hierzulande unbekannt oder gar geächtet war: Luftgefüllte Autoreifen und leicht bekleidete Tiller-Girls, Jazz und Boxkämpfe, imposante Hollywoodstreifen und in den Himmel wachsende Hochhäuser, also vor allem Populärkultur.

Und dennoch: Der reale Kulturimport hat weit weniger Spuren hinterlassen als der vorgestellte. Amerika war in diesen Jahren in erster Linie eine große Projektionsfläche, die weit mehr über die kollektiven Sehnsüchte und Ängste im eigenen Land erzählt als über die Wirklichkeit am anderen Ende des Ozeans. Faszination und Widerwillen, Amerikataumel und Amerikatadel gingen in diesen Jahren Hand in Hand. Ja, man kann sogar sagen, dass der Amerikafetischismus im Kern den Antiamerikanismus in sich trägt.

Der eine ist ein verzerrtes Spiegelbild des anderen. Es lohnt sich, diese Projektionen etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, denn sie haben sich als haltbar erwiesen: Den amerikanischen Traum gibt es, in aktualisierter und veränderter Form, noch immer. Und auch heute geht mit diesem Traumbild das Schattenbild des Antiamerikanismus einher. In der gegenwärtigen wirtschaftlichen Umbruchs- und Krisenzeit macht sich jenes wieder deutlicher bemerkbar.

Auswanderungsland#

Bis zum Ersten Weltkrieg war Amerika aus österreichischer Sicht weit entfernt. Man hatte zwar von den ersten spektakulären Hochausbauten in New York gehört, aber wenige hatten diese mit eigenen Augen gesehen. Amerika war das unbekannte Wunderland, ein begehrtes Auswanderungsziel, in das hunderttausende verarmte Menschen aus dem Osten der Monarchie reisten, um ein besseres Leben aufzubauen.

American-Style-Girls in der Revue 'Wien lacht wieder' von Fritz Grünbaum und Karl Farkas mit Musik von Ralph Benatzky
American-Style-Girls in der Revue "Wien lacht wieder" von Fritz Grünbaum und Karl Farkas mit Musik von Ralph Benatzky.
© Foto: Archiv Anton Holzer

Nach dem Krieg änderte sich die Situation sehr schnell. Amerika, vor Kurzem noch übermächtiger Kriegsgegner, war den Österreichern mit einem Schlag nahe gerückt: 1919 begann die amerikanische Kinderhilfsaktion ihre Arbeit in Österreich. Sie bot über 200.000, vor allem Wiener Kindern kostenlose Ausspeisungen an. 1922 eröffnete sie die Kinderheilanstalt am Tivoli in Wien-Meidling. Bald danach zogen sich die amerikanischen Spender zurück. Das öffentliche Sozialfürsorgenetz funktionierte wieder einigermaßen, der junge Staat war dabei, sich zu erholen.

Shows und Filme#

Mitte der 1920er Jahre war das karitative Bild Amerikas schon wieder vergessen. Nun war man an ganz anderen Dingen interessiert, an amerikanischen Shows, an Musik und vor allem an Filmen. Die großen Hollywoodproduktionen hielten unaufhaltsam Einzug in den Wiener Kinos. Die Marken Paramount, MGM, Fox oder Goldwyn Meyer garantierten flotte Unterhaltung.

Im Herbst 1929 rüstete das Wiener Apollo als erstes Wiener Großkino auf den Tonfilm um. Am Tag der Wiedereröffnung des Etablissements trafen, gewiss nicht zufällig, Wiener Tradition und amerikanische Gegenwart direkt aufeinander: Vor den 1500 Besuchern wurde ein Festmarsch von Richard Strauss gespielt - und danach der amerikanische Monumentalstreifen "Lady Hamilton" gezeigt.

Amerika-Bilder generierten sich in Österreich vor allem über Kinosäle. Es waren populäre, leicht verdauliche Hollywoodproduktionen, die den Nerv der Zeit trafen. Aber auch amerikanische Dokumentationen stießen auf großes Interesse. 1927 etwa zeigte die Wiener Urania den Streifen "Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten", in dem die USA als Land der Superlative vorgestellt werden. Neben kalifornischen Goldwäschern, die es im Handumdrehen zu Reichtum bringen, war ein New Yorker Hochhaushotel mit 3000 Zimmern zu sehen.

Der Wolkenkratzer: In den 1920er Jahre ist er zum zentralen Symbol für den unbegrenzten Aufstiegswillen Amerikas geworden. Am 28. Mai 1930 wurde in New York das Chrysler-Building eingeweiht. Der spitz nach oben zulaufende Bürohausturm mit seinen 319 Metern Höhe war nun das höchste Gebäude der Welt. Und zugleich erhob sich der Bau markant über der imposanten Skyline Manhattans mit ihren zahlreichen Wolkenkratzern.

In Wien, das zu dieser Zeit noch kein Hochhaus hatte, wurden die neuesten amerikanischen Wolkenkratzerbilder in den Illustrierten aber auch auf Postkarten begierig aufgenommen. Und sehr zaghaft wurde diese neue Architektur auch hierzulande in die Praxis umgesetzt. Als man 1931 mit dem Bau des ersten Wiener Hochhauses in der Herrengasse begann, war das Ziel freilich bescheiden: 16 Stockwerke und 50 Metern Höhe, das sollte in einer Stadt, die eben noch habsburgische Residenz gewesen war, vorerst reichen.

Amerikanische Studentinnen nach der Feldarbeit, Ötz in Tirol, 1935
Amerikanische Studentinnen nach der Feldarbeit, Ötz in Tirol, 1935.
© Foto: Archiv Anton Holzer

Dennoch wurde das Emporwachsen des Stahlskelettbaus in der Öffentlichkeit gebührend gefeiert. Otto Skall, ein Vertreter der fotografischen Moderne, hält auf einer seiner Aufnahmen einen Arbeiter inmitten der entstehenden Stahlträgerkonstruktion fest. Ein amerikanisches Bild - mitten in Wien.

Die moderne amerikanische Baukultur sickerte nur sehr langsam in Wien ein. Aber diskutiert wurde sie hier wie auch anderswo in Europa äußerst intensiv. Keinen geringen Anteil daran hatte der Wiener Richard Neutra, der 1923 in die USA zog und dort als Architekt und Architekturpublizist bekannt wurde. Seine ersten Bücher veröffentlichte er noch auf Deutsch und auf dem alten Kontinent. Bekannt wurde er 1927 mit seinem Band "Wie baut Amerika?"

Wenn in Wien "amerikanisch" gebaut wurde, dann in kleinem Rahmen. 1929 etwa wurde in der Mariahilferstraße ein modernes Schnellrestaurant (mit Büffetanlage, Drehsesseln und Tellerwaschmaschine) nach amerikanischem Vorbild eröffnet. Betreiber waren die "Wiener Öffentlichen Küchen" (WÖK), die ärmeren Bevölkerungsschichten ein billiges Speiseangebot lieferten.

Das österreichische Amerikabild der 1920er Jahre ist zum guten Teil ein Wunschbild. Es spiegeln sich darin vor allem die Ausbruchssehnsüchte einer gebeutelten Nachkriegsgesellschaft. Der Blick nach Amerika, oder was man dafür hielt, sollte Krieg und Wirtschaftskrise, Hunger und Entbehrungen vergessen lassen. Amerika stand für Optimismus und Überfluss - wenn auch nur einen Kino- oder Revueabend lang.

Als im Herbst 1926 eine Formation "amerikanischer" Tiller-Girls im Wiener Stadttheater auftrat, huldigte man genau diesem Zeitgeist. Es fiel dann auch nicht weiter ins Gewicht, dass die im Gleichschritt tanzenden jungen Frauen nicht aus Übersee kamen, sondern echte Wienerinnen waren. Ihre Revue, sie stammte von Fritz Grünbaum und Karl Farkas (Musik: Ralph Benatzky), hieß "Wien lacht wieder".

Die üppig ausgestattete Show traf den Nerv der Zeit, hunderte Male wurde sie in den folgenden Monaten gespielt.

Josephine Baker#

Wenn es ums "Amerikanische" ging, schielte man nicht ausschließlich nach Übersee, sondern beispielsweise auch nach Berlin - die berühmten Tiller-Girls des Admiralspalastes tanzten auch in Wien - oder nach Paris, die Wahlheimat von Josephine Baker. Am 1. März 1928 trat sie nach heftigen Protesten erstmals in Wien auf. Schwarze Exotik, rhythmische Musik und perfekte Bühnenshow: das sind die Ingredienzien ihres beispiellosen Erfolges. Die Baker ist eine Kunstfigur, die nicht zufällig in Europa populär wurde. In ihr entdeckten die Zeitgenossen Amerika, wie sie es sich vorstellten: die enthemmte Sexualität ebenso wie den modernen Jazz, Dschungel und Wolkenkratzer, das Primitive und die Kunst, das Animalische und das Leben der Großstadt.

Josephine Baker verkörperte wie kein anderer Bühnenstar der Zwischenkriegszeit diese scheinbaren Gegensätze. Auch der Jazz ist von dieser Ambivalenz zwischen Primitive und der Moderne gekennzeichnet. Er ist nicht nur Musik, sondern ein Lebensgefühl. In Ernst Kreneks Jazz-Oper "Jonny spielt auf", die 1927 Premiere hat, kommt dies deutlich zum Ausdruck. Die rasante Handlung endet mit dem Siegeszug des Jazz, der "schwarzen" amerikanischen Musik, die nicht nur den europäischen Kontinent, sondern gleich die ganze Welt erobert.

Amerikanismus in Wien: Hier der Bau des ersten Hochhauses in der Herrengasse. Ein Foto von Otto Skall, 1932
Amerikanismus in Wien: Hier der Bau des ersten Hochhauses in der Herrengasse. Ein Foto von Otto Skall, 1932.
© Foto: Archiv Anton Holzer

Ende der zwanziger Jahre mehrten sich die amerikakritischen Stimmen. Man kreidete der amerikanischen Kultur Seelenlosigkeit, Oberflächlichkeit und leeres Glitzern an. Die politische Rechte brachte rassistische Slogans in Stellung. Nationalsozialistische Parteigänger störten in Deutschland etwa Kreneks Opernaufführungen.

Aber auch auf Seiten der Linken wurde nun zunehmend mit "Amerika" abgerechnet. "Amerika", heißt es im August 1929, in der österreichischen sozialdemokratischen Illustrierten Der Kuckuck, "das bedeutet Kapitalismus reinsten Wassers. Das heißt: Mammutvermögen in einigen Händen vereinigt, heißt bisher höchste, vollendete Zusammenballung des Nationalreichtums in wenigen, den Staat und die Wirtschaft beherrschenden Trusten. Gigantische Fabrikanlagen, die ihre Arbeiter nach Zehntausenden berechnen, werden bündelweise aufgekauft, zentral dirigiert und zu höchster arbeitsteiliger Nutzung angetrieben." Das Fazit lautet: "Dieses Amerika der Truste und Kartelle, der Morgan, Rockefeller und Ford muss man kennen, wenn man das Amerika der Wolkenkratzer verstehen will. Die Wolkenkratzer sind nicht nur eine Folge, sie sind der sichtbare Ausdruck für die Zusammenballung des Reichtums in wenigen Händen."

Das Ende vom Boom#

Anfang der 1930er Jahre war der Amerikaboom vorläufig zu Ende. Börsenkrach und Weltwirtschaftskrise setzten dem optimistischen Amerikabild zu. In Österreich trat die heimische ländliche Idylle an die Stelle der urbanen amerikanischen Sehnsuchtslandschaft. Die Wolkenkratzer wichen den heimatlichen Bergen. In der konservativen Heimatideologie, die der Ständestaat ab 1934 mit großem Aufwand kultivierte, war für Amerika kein Platz mehr. Verirrten sich doch einmal Amerikaner in den kleinen Alpenstaat, tauchten sie, so wollte es die Regierungspropaganda, in eine entrückte, heile Gebirgswelt ein. So geschehen etwa 1935 in Ötz in Tirol.

Im August dieses Jahres wurden auf Initiative der österreichischen Behörden 155 amerikanische Studentinnen in den entlegenen Bergort zu einem Melk- und Landwirtschaftskurs eingeladen. Auf einem der Fotos, die bald darauf veröffentlicht wurden, sehen wir einige der jungen Damen von der Feldarbeit heimkehren: lachend, in sauberen Kleidern, den Rechen auf der Schulter, schreiten sie zwischen einheimischen, in Tracht gekleideten jungen Männern dahin. Die ländliche Idylle war perfekt. Aus den Amerikanerinnen waren - fast - Österreicherinnen geworden.

Anton Holzer, geboren 1964, Fotohistoriker, Ausstellungskurator, Herausgeber der Zeitschrift "Fotogeschichte", lebt in Wien. 2010 erschien sein Buch "Ganz Wien in 7 Tagen. Ein Zeitreiseführer in die k.u.k. Monarchie" (Primus Verlag).

Wiener Zeitung, Sa./So., 9./10. Jänner 2016