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Hans Haider in der Wiener Zeitung#


Von der Wiener Zeitung (31. Dezember 2009) freundlicherweise zur Verfügung gestellt


Wiens bekannteste Stiegenanlage wird 100 Jahre alt. Pünktlich zum Jubiläum leuchtet wieder kalkweiß der Stein, der die dunkelgrün lackierten Gusseisengeländer trägt. Die Wasserspeier – Löwenkopf und Fischmaul – sind instand gesetzt. An den Kandelabern wurden milchweiße Kugeln durch Lampenschirme alter Façon ersetzt. Auf den Gehrampen und Treppenabsätzen liegt jetzt rutschfester Waschbeton; bei der letzten Renovierung 1962 wurde dort glatter Asphalt aufgebracht. Die Strudlhofstiege hat prominente Nachbarn: das Sommerpalais Liechtenstein, Franz Schuberts Taufkirche, das Palais Zuckerkandl, heute schwedische Residenz, das Palais Clam-Gallas, heute Lycée Français, die k. k. Konsularakademie, heute US-Botschaft. Die nach dem Barockmaler (und Gründer der Kunstakademie) Peter Strudel benannte Stiege ist ein vertikaler Ziergarten und voller Rätsel. Rational betrachtet, stellt sie sich als Ergebnis eines Optimierungsprozesses dar. Auf geringster Grundfläche wurde eine elf Meter hohe Geländestufe überwunden. Mit Treppen, Schrägen, Wendeplatten.

Wir sind in der späten Gründerzeit. Überall in Europa verdichten sich die Städte rasant. Innerstädtischer Boden wird intensiv genutzt. In Neapel und Lissabon helfen Lifts und Schrägaufzüge beim Erschließen neuer Bauplätze in unebenem Terrain. Hier am Hang des Lichtentals schuf Ingenieurkunst einen Lift für Selbergeher. Der geniale Konstrukteur, Johann Theodor Jaeger, war Brückenbauexperte in der Stadtbaudirektion unter Bürgermeister Karl Lueger. Seine Stiege wurde im November 1910 eröffnet. Lueger war schon im März 1910 im Amt gestorben.

Oben und unten werden die Passanten in symmetrischen Einstiegen aufgefangen, ihnen bleibt, wie auf einer zweischenkligen Gartentreppe in den Barockschlössern, die freie Wahl, links oder rechts zu beginnen. Dem ringsum regierenden Stilgemisch von Barock und Historismus wurden die steinernen Dekoration angepasst: zwei klassizistische Begrüßungspfeiler oben mit schlanken Vasen als Krönung, Rundbogenfelder an den Seiten, Brunnen wie in den Schlünden künstlicher Grotten.

Geführt und doch frei?

Der Stiegengeher wird oben wie unten konservativ-manierlich begrüßt, dann im Zickzack über den Steilhang geleitet, und zuletzt konservativ-manierlich verabschiedet. Er kann sich bergan wie bergab gehend geführt – und dennoch frei fühlen. Weil er vier bis sechs Mal die Richtung und ebenso oft seine Perspektive wechselt. Geführt und dennoch frei? Die Strudlhofstiege ist ein petrifiziertes Memento an das Lebensgefühl des hochbürgerlichen Wiens unter Habsburgs Doppeladler. Schon hat sich die kapitalistisch beschleunigte Moderne von der klassischen Treppenform verabschiedet. Zweckrationalität erzwang neue Schlaumeierlösungen. Respektlos vor dem Alten höhnte man damals: Symmetrie ist die Ästhetik der dummen Kerle.

Die Originalform von 1910 ist nicht völlig konsequent wiederhergestellt. Eine Steintafel stört. Doch diese Sünde ist durch ihren Zweck geheiligt. Darauf ist ja das Gedicht eingemeißelt, das Heimito von Doderer 1951 seinem Roman "Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre" vorangestellt hat: "Wenn die Blätter auf den Stufen liegen/herbstlich atmet aus den alten Stiegen/ was vor Zeiten über sie gegangen/.. .Viel ist hingesunken uns zur Trauer/ und das Schöne zeigt die kleinste Dauer." Wann, wenn nicht während der drückenden Winterdüsternis, werden hier nostalgische Seelen liebevoller gestreichelt? Gemma Stiagn schaun!

"Pirouettierende" Treppe

Heimito von Doderer schrieb in seinem Roman, etwas sulzig, vom "Genius loci", der sich hier "entschleiert". Die Stiege sei "das entdeckte und Form gewordene Geheimnis dieses Punktes hier". Er sah die Treppen "pirouettieren" und die Rampen als "Bühnen" und meinte, "durch einen verborgenen Eingang in die schattige Unterwelt des Vergangenen" zu steigen. Friedrich Achleitner, der Dichter aus der Wiener Gruppe und heute Doyen der Architekturgeschichte der österreichischen Moderne, fand heraus, dass Doderer die Strudlhofstiege nicht exakt beschrieben, sondern mit eigenen Sprachbausteinen dargestellt hat. Achleitner nennt Doderers Konstrukt "Erfindung eines Ortes mit allen nur erdenklichen Attributen der Gesellschafts- und Kulturgeschichte einer Stadt". Doderer habe von nur sechs Kandelabern geschrieben. In der wirklichen Wirklichkeit sind es sieben.

Die Architekturstudenten verzweifeln an der Aufgabe, die Strudlhofstiege präzise abzubilden. Zu viele Achsen, zu viele windschiefe Linien. In der freien Zeichnung zerfließt die technische Strenge zu süßem Kitsch á la Wilfried Zeller-Zellerberg. Langsam nach unten schlendernde oder bedächtig nach oben steigende Flaneure gönnen sich eine Zeitreise zurück ins Zehnerjahr. Rechtzeitig zum 100-Jahr-Jubiläum ist der Zauber dieser Treppenkunst, dieser Kunsttreppe wieder losgelassen.

Wiener Zeitung, 31. Dezember 2009