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Meer voller Gegensätze#

Der Mittelmeerraum, ein Ort der Sehnsucht, ist auch einer der Trennung entlang politischer, wirtschaftlicher, religiöser und sozialer Linien. Trotzdem lebt die Hoffnung, dass das Mittelmeer kein trennendes Meer, sondern ein Binnengewässer wird.#


Von der Wiener Zeitung (Sa./So., 9./10. August 2014) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Christian Hütterer


Aufnahme aus Opatija in Kroatien
Für uns Europäer wird das Mittelmeer, trotz aller Konflikte, immer ein Ort der Sehnsucht bleiben. Hier eine Aufnahme aus Opatija in Kroatien.
© Foto: Colin Dutton/Grand Tour/Corbis

Jeden Sommer machen sich unzählige Menschen auf den Weg, um an den Ufern des Mittelmeeres Erholung zu suchen. Sie suchen - und finden meist auch - eine entspannte Lebensweise, eine andere Einstellung zu Arbeit und Familie und das lebendige Treiben in den Straßen. Doch diese Idylle hat auch ihre Schattenseiten. Viele Nachrichten, die uns in den letzten Jahren aus den Staaten rund um das Mittelmeer erreichten, waren eher dazu geeignet, für Unruhe zu sorgen, denn sie berichteten von unzähligen toten Flüchtlingen, Revolutionen, bewaffneten Konflikten und Wirtschaftskrisen.

Das Mittelmeer ist ein Meer der Gegensätze: es ist groß genug, um eine Vielzahl von Völkern und Sprachen an seinen Ufern zu ermöglichen; anders als der Atlantik oder der Pazifik ist es aber auch klein genug, um all diese Kulturen eng miteinander zu verbinden. Es ist ein offenes Meer, zugleich aber auch eng von Land umgeben. Die Einheit des Mittelmeerraumes wird immer wieder beschworen, zugleich ist aber auch seine Trennung entlang politischer, wirtschaftlicher, religiöser und sozialer Linien offensichtlich. All diese Widersprüche und gegensätzlichen Entwicklungen haben dazu geführt, dass die Länder rund um das Mittelmeer in den Mittelpunkt des Interesses gerückt sind.

Wenn wir vom Mittelmeer sprechen, so meinen wir im engeren Sinn das Gewässer zwischen der Straße von Gibraltar, dem Suezkanal und den Dardanellen; zugleich steht der Begriff Mittelmeer aber auch für einen kulturellen Begriff, der über das eigentliche Meeresbecken hinausgeht. Dieses Konzept des erweiterten Mittelmeeres umfasst all jene Regionen, in denen man - wie es der französische Historiker Fernand Braudel definierte - im "Angesicht der gleichen Bäume, der gleichen Pflanzen, der gleichen Landschaften" lebt. Braudel vergaß nicht zu erwähnen, dass auch die oft gerühmte Mittelmeerküche, die seit 2011 sogar auf der Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO steht, zu diesen Faktoren zählt, die alle Anwohner des Mittelmeergebietes vereinen.

Nur einmal in der Geschichte war das Mittelmeer unter einer politischen Herrschaft geeint: das Imperium Romanum kontrollierte alle Küsten des Meeres und nannte es folgerichtig "mare nostrum", also unser Meer. Für Jahrhunderte herrschte im gesamten Gebiet zwischen der Straße von Gibraltar und dem Nahen Osten das gleiche Recht, wurde mit der gleichen Währung bezahlt, und eine effiziente staatliche Ordnung sicherte die Verkehrswege über das Meer und förderte dadurch den Handel.

Doch diese friedlichen Jahre waren die Ausnahme in der Geschichte des Mittelmeerraumes, und mit dem Ende des Römischen Reiches zerfiel auch diese politische und kulturelle Einheit. Das Mittelmeer wurde - wie schon in der Zeit vor den Römern - von einer Zone der Begegnung zu einer des Konflikts. In der langen Reihe von Auseinandersetzungen, die in den folgenden Jahrhunderten vor allem zwischen dem christlichen Europa und dem islamischen Orient tobten, war das Mittelmeer Kriegsschauplatz, diente aber weiterhin auch als Bindeglied für den Handel und den kulturellen Austausch.

All dies änderte sich mit der Entdeckung Amerikas und der Eroberung dieser neuen Welt. Die wirtschaftlichen und politischen Zentren verschoben sich nun vom Mittelmeer an den Atlantik, und die tonangebenden europäischen Metropolen lagen nun im Nordwesten des Kontinents.

Im Zeitalter des Kolonialismus fiel die Nordküste Afrikas unter europäische Kontrolle, und Siedler zogen aus dem Norden in die neuen Kolonien am anderen Ufer des Mittelmeers. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese Kolonien in die Unabhängigkeit entlassen und die Bevölkerungsbewegung verkehrte sich, denn nun zogen die Siedler aus dem Norden in ihre Mutterländer zurück, zugleich begann aber auch eine bis heute anhaltende Arbeitsmigration. Unzählige Menschen aus Südeuropa, Nordafrika und der Levante brachen angesichts der wirtschaftlichen Lage in ihren Heimatländern nach Norden auf, um dort ihr Glück zu suchen.

In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entstand dann eine bis dahin unbekannte Art der Migration: Millionen von Europäern machten sich auf der Suche nach der Sonne und dem Leben des Südens auf den Weg ans Mittelmeer. Dieses Massenphänomen hat bis heute tiefgehende Auswirkungen auf die lokale Wirtschaft, das Erscheinungsbild der Landschaften und die dort lebende Bevölkerung.

Angesichts der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen ist in den letzten Jahren das Interesse am Mittelmeer wieder stark gestiegen - und immer mehr Wissenschafter haben sich sehr nachdrücklich mit diesem geografischen Raum auseinandergesetzt. In Frankreich wurden etwa in letzter Zeit die wiederentdeckten Thesen des Philosophen Alexandre Kojève diskutiert.

"Das Lateinische Reich"#

Kojève, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg als Berater mehrerer Minister tätig war, veröffentlichte 1947 einen Essay mit dem Titel "Das Lateinische Reich". Darin träumte er von einem Zusammenschluss der lateinischen Staaten Europas, der seiner Meinung nach aus zwei äußeren Gründen notwendig sei: zum einen befürchtete Kojève, dass trotz seiner Niederlage im Zweiten Weltkrieg Deutschland vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht bald wiedererstarken könnte, zum anderen sah er die Gefahr einer angloamerikanischen Hegemonie in Europa. Folgerichtig sollten sich die lateinischen Staaten Frankreich, Spanien und Italien zusammenschließen, um gemeinsam diesen beiden Bedrohungen begegnen zu können.

Bemerkenswert ist, dass Kojève als wichtigsten Faktor der Einigkeit zwischen den lateinischen Nationen den katholischen Glauben nannte, erst dann folgten die Nähe der Sprachen und Mentalitäten. Kojève räsonierte auch darüber, wer in solch einem künftigen Imperium eine leitende Rolle einnehmen sollte - und es überrascht wenig, dass nach Meinung des Franzosen Kojève Frankreich die Führung in diesem Bündnis übernehmen sollte.

Bundesrat Stefan Schennach
Der österreichische Bundesrat Stefan Schennach ist in der "Union für das Mittelmeer" politisch leitend tätig.
© Foto: apa/Hans Klaus Techt

Aktueller als die Theorien Kojèves sind die Überlegungen des deutschen Politikwissenschafters Claus Leggewie, der sich schon seit langem mit dem Mittelmeer beschäftigt. Er ist davon überzeugt, dass - so wie auch eines seiner Bücher benannt ist - die "Zukunft im Süden" liegt und eine Mittelmeerunion ganz Europa wiederbeleben könnte. Viele der Ansätze Leggewies sind durchaus nachvollziehbar, etwa wenn er dafür eintritt, die Abhängigkeit der Mittelmeerländer vom Tourismus zu verringern oder das Mittelmeer davor zu schützen, zu einer Kloake zwischen den Kontinenten zu verkommen.

Manche seiner Überlegungen wirken aber naiv oder romantisch, etwa wenn er eine "gründliche Revision der ökomischen Arbeitsteilung und demografischen Bewegungen zwischen Norden und Süden" fordert und die "schleichende Expropriation des Südens" durch "fairen Handel, würdige Arbeit für alle und soziale Gerechtigkeit über nationale Grenzen hinweg" ersetzen will.

Süden versus Norden#

Der italienische Politiker und Soziologe Franco Cassano kritisiert diese Fixierung des Südens auf die Werte des Nordens. Seiner Meinung nach dürfe das Verhältnis zwischen Süden und Norden nicht nur in die eine Richtung gehen, in der der Süden den Norden imitiert und dessen Anschauungen übernimmt. Cassano weiß um die vielen Probleme des Südens, er will aber ein Gegengewicht zur vorherrschenden Denkart des Nordens schaffen. Für Cassano ist einer der Schlüsselbegriffe in diesem Zusammenhang die Langsamkeit. Die aus dem Norden kommenden Apologeten der Geschwindigkeit sehen in der Langsamkeit ein Zeichen für Rückständigkeit und Unvollkommenheit, Cassano hält ihnen aber entgegen, dass gewisse Erfahrungen nur durch ein langsames Herangehen gemacht werden können.

Kritiker werfen Theoretikern wie Kojève, Leggewie und Cassano eine Idealisierung oder gar Romantisierung des Mittelmeeres vor und weisen darauf hin, dass sich im Lauf der Geschichte die politischen und wirtschaftlichen Schwerpunkte in den Norden verschoben hätten. Anstelle der Mittelmeerstaaten wurden im Lauf der Zeit Frankreich, England, Flandern sowie der Handel über den Atlantik tonangebend. Der Mittelmeerraum als Ganzes verlor durch diese Entwicklung ebenso an Bedeutung wie die mediterranen Teile Provence und Katalo-nien innerhalb ihrer jeweiligen Staaten. Auch in kulturgeschichtlicher Hinsicht verlagerten sich die Schwergewichte nach Norden, denn nun wurden der Kapitalismus und die Aufklärung zu Gradmessern des Fortschrittes. Der Süden galt ab diesem Zeitpunkt als fortschrittsfeindlich und im besten Fall stagnierend, wenn nicht gar zurückfallend. Aus dieser Interpretation heraus entstand der bis heute aktuelle Gegensatz zwischen dem erfolgreichen, schnellen Norden und dem langsamen, eben nicht so erfolgreichen Süden.

Doch wie könnte eine Zusammenarbeit aussehen, die das Einigende anstelle des Trennenden betont? Wie könnten die Forderungen nach einer besseren und engeren Beziehung zwischen den Staaten des Nordens und denen des Südens in die Tat umgesetzt werden? Die Europäische Union versucht seit längerer Zeit, die Zusammenarbeit im Mittelmeer zu forcieren. Schon 1995 sollte der sogenannte Barcelona-Prozess die Zusammenarbeit zwischen dem nördlichen und dem südlichen Ufer des Mittelmeers vertiefen. Doch die Umsetzung dieser Vorhaben gestaltete sich von Beginn an schwierig. Administrative Probleme verzögerten die Zusammenarbeit, die Investitionen in den nordafrikanischen Partnerländern blieben weit hinter den Erwartungen zurück, zudem stellte der andauernde Konflikt im Nahen Osten ein nicht überwindbares Hindernis für die Zusammenarbeit dar.

Die Staaten am südlichen Ufer warfen ihren europäischen Partnern vor, dass die Zusammenarbeit zu sehr auf die Bedürfnisse des Nordens zugeschnitten war und zögerten daher bei der Umsetzung der gemeinsamen Vorhaben. Auch als 2004 beschlossen wurde, die südlichen Anrainer des Mittelmeeres in die neu gegründete Europäische Nachbarschaftspolitik aufzunehmen, verbesserte sich die Zusammenarbeit nicht.

Angesichts der überschaubaren Erfolge dieses Vorhabens schlug Nicolas Sarkozy 2007 vor, eine Mittelmeerunion zu gründen. Kritiker des Projektes warfen ihm vor, mit diesem Vorschlag vor allem die Stimmen jener Franzosen, deren Wurzeln im Norden Afrikas liegen, gewinnen zu wollen. Sarkozy unterbreitete seinen Vorschlag zudem knapp vor der großen Erweiterung der Europäischen Union, durch die der Schwerpunkt der EU nach Osten wandern würde. Nach Sarkozys Vorstellung hätte die Mittelmeerunion die Bedeutung des Südens betont und dadurch ein Gegengewicht zur bevorstehenden Erweiterung geschaffen.

Union fürs Mittelmeer#

Die nördlichen Mitglieder der EU und die Europäische Kommission standen diesem Projekt sehr reserviert gegenüber und Sarkozy musste seine ursprünglichen Vorschläge zurücknehmen. Statt der geplanten engen Mittelmeerunion entstand eine weit weniger dichte Form der regionalen Zusammenarbeit mit dem Titel "Union für das Mittelmeer". Sechs Schwerpunktbereiche wurden bei deren Gründung im Jahr 2008 genannt, in denen dieses Gremium tätig werden soll, dazu zählen etwa die Beseitigung der Verschmutzung des Mittelmeeres, erneuerbare Energien und die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in der Region.

Ein Fehler aus dem Barcelona-Prozess sollte nun nicht wiederholt werden: die Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens sollten sich in der neuen Zusammenarbeit ihren Partnern im Norden gleichberechtigt fühlen. Die Union für das Mittelmeer hat daher zwei Präsidenten, wovon einer aus dem Süden, der andere aber aus der Europäischen Union kommt. Doch wie schon der Barcelona-Prozess leidet auch die "Union für das Mittelmeer" unter realpolitischen Zwängen. Vor allem die immer wieder aufbrechenden Konflikte im Nahen Osten haben Auswirkungen auf die Zusammenarbeit in diesem Gremium.

Mittelmeer-Universität#

Der österreichische Bundesrat Stefan Schennach leitet in der Parlamentarischen Versammlung der Union für das Mittelmeer den Ausschuss, der sich mit den sensiblen Fragen der Umwelt, des Wassers und der Energie beschäftigt. Wie sieht er die Entwicklungen rund um das Mittelmeer?

Schennach weiß um die Schwächen der Organisation, seiner Meinung nach kann die parlamentarische Zusammenarbeit in der Union für das Mittelmeer aber durchaus Erfolge vorweisen. Er nennt etwa zwei konkrete Resultate der Kooperation: die Einrichtung einer eigenen Universität für das Mittelmeer mit Sitz in Slowenien; und die Schaffung einer Investitionsbank, in der die wirtschaftliche Zusammenarbeit gebündelt wurde und die die Klein- und Mittelbetriebe sowie die Industrie in der Region fördern soll. Trotz aller Schwächen erwartet Schennach eine neue Dynamik in der Zusammenarbeit zwischen Nord und Süd und geht davon aus, dass "das Mittelmeer kein trennendes Meer, sondern ein Binnengewässer" wird.

Vielen anderen Beobachtern der internationalen Entwicklung fehlt dieser optimistische Ausblick auf die Entwicklung im Mittelmeerraum. Doch auch wenn das Mittelmeer und die daran angrenzenden Gebiete viele Widersprüche und Konflikte in sich bergen, so hat es in der Geschichte der Menschheit eine bedeutendere Rolle als jedes andere Meer gespielt. Für uns Europäer wird es immer ein Ort der Sehnsucht bleiben, mit großer Geschichte und einer interessanten Zukunft.

Christian Hütterer, geboren 1974, ist Historiker und Politikwissenschafter und im EU- und Internationalen Dienst der Parlamentsdirektion beschäftigt.

Wiener Zeitung, Sa./So., 9./10. August 2014