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"Ich bin ein Kirchenmaler ohne Kirche"#

Der Maler, Aktionskünstler, Komponist und Regisseur Hermann Nitsch erläutert sein Verhältnis zu Religion und Tradition, erklärt sein Verhältnis zur Oper als Kunstform - und denkt über Lieblingsfarben und -essen nach.#


Von der Wiener Zeitung (Samstag, 25. Juni 2011) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Marie von Baumbach


Nitsch während der Proble
Nitsch während der Proble zu Olivier Messiaens "Franz von Assisi"-Oper.
Foto: © Wilfried Hösl/Bayerische Staatsoper

Wiener Zeitung: Herr Nitsch, Olivier Messiaen litt 1981 während der Komposition zu der Oper "Saint François d’Assise", die Sie gerade in München inszenieren, unter Depressionen. Erst Besuche der Abendmesse in Sacre Coeur ermutigten ihn, weiter zu schreiben. Wann waren Sie das letzte Mal in der Kirche?

Hermann Nitsch: (überlegt lange) Ich hätte so gern gesagt: "Gestern!". Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.

Sind Sie überhaupt gläubig?

Ja, aber nicht bezogen auf eine bestimmte Religion. Die christlichen Symbole öffnen mir ein Tor zur gesamten Religionsgeschichte. Ich bin in einem christlichen Umfeld erzogen worden, aber ich habe mich mein Leben lang immer auch mit asiatischen Religionen beschäftigt.

Wie zum Beispiel dem Zen-Buddhismus. Was fasziniert Sie daran?

Das Christentum hat vom Buddhismus viele Symbole übernommen: wie etwa die Mönche, die fast kahlgeschorenen Köpfe oder auch Glocken und Klöster. Die Schöpfung, das Sein und die Natur faszinieren mich, genauso wie Religionsarchaik, Kulte und frühe Religionen. Das Leben soll ein Fest sein.

Es heißt, dass Sie sich für Ihre Beerdigung den letzten Satz aus Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 7 wünschen. Stimmt das?

Ja. Richard Wagner nannte diese Sinfonie eine "Apotheose des Tanzes". Dieser letzte Satz hat so viel Kraft.

Glauben Sie an die Auferstehung?

Tod und Auferstehung sind großartige, zeitlose Symbole, die Teil aller Religionen sein sollten. Ich glaube, dass alles immer wiederkehrt. Der Isenheimer Altar von Matthias Grünewald in Colmar ist eine großartige Darstellung des Themas: Der geschundene Christus auf der einen Seite, dann dreht man ihn um und sieht den Auferstandenen, und der lacht vor dem Kosmos. Diese Intensität habe ich auch mit meiner Kunst immer gesucht.

Wird Ihre Inszenierung das Münchner Publikum schockieren?

Ich wollte nie schockieren!

Für Ihre Aktionen verwenden Sie Tierblut, wühlen in Gedärmen, schlagen Menschen ans Kreuz und sagen, Sie wollten nie schockieren?

Ich weiß natürlich, dass meine Arbeit etwas auslösen kann. Aber ich suche eben vor allem Intensität.

Im Oktober 2010 gab es in München einen großen Skandal wegen eines gehäuteten Rehs in "Rusalka". Regisseur Martin Kusej wollte ein echtes Tier verwenden. Auf Grund der großen Proteste hat man dann davon abgesehen.

Nikolaus Bachler hat mich am Burgtheater mein Orgien-Mysterien-Theater mit allem Drum und Dran machen lassen: Blut, Gedärme, nackte Menschen. Da gab’s auch Proteste.

Warum sind "Grenzüberschreitungen" am Theater möglich, an der Oper aber nicht?

Oper ist eine der höchsten Kunstformen. Das Sinnliche wird von einer Vergeistigungstendenz verdrängt. Direkt in die blutige Wirklichkeit hineinzugreifen und einen Tierkadaver in die Oper zu bringen, wäre ein Rückschritt in die Anfänge der Menschheit und ihre ersten Kultformen. Alle Kulturträger sind darauf aus, dass man das nicht darf.

Tierschützer sind auch darauf aus. Darf man um der Kunst willen Lebewesen töten?

Ich habe einmal in Amerika und einmal in meinem Theater in Prinzendorf Tiere geschlachtet, die sowieso zur Schlachtung bestimmt waren und nachher gegessen wurden. Ich habe als Regisseur und Künstler die Schlachtung, die sowieso geschehen wäre, in mein Theater hineingenommen. Ich liebe Tiere, ich habe zwanzig Pfaue.

Die machen vermutlich einen ganz schönen Krach...

Ach, da gewöhnt man sich dran. Besser Pfaue als Autos.

Würden Sie Menschen opfern?

Die Freiheit der Kunst ist im Grundgesetz verankert. Das ist aber ein sehr holpriges Unternehmen - ich kann ja nicht hingehen und einen im Namen der Kunst erschlagen. Theoretisch kann für mich alles Kunst sein. Selbst wo Leid verbreitet wird, hört die Kunst nicht auf. Aber da möchte ich nicht hin. Menschen zu opfern verbietet mir mein Gewissen.

Nitsch während der Proble
"Das Leben soll ein Fest sein", Hermann Nietsch.
Foto: © APA/Georg Hochmuth

Was muss eine Oper, ein Theaterstück haben, damit es Sie reizt?

Ich habe "Hérodiade" in Wien, die Gandhi-Oper "Satyagraha" in St. Pölten oder die "Faust Szenen" in Zürich inszeniert und für einige Ballette die Ausstattung übernommen. Es muss ein Bezug zu meinem eigenen künstlerischen Werk da sein. Das kann beispielsweise durch eine Verbindung zum Mythos geschehen.

Warum haben Sie nie für die Passionsspiele in Oberammergau gearbeitet? Eine große Bühne, der christliche Bezug . . .

Dort hätten mich vermutlich die Erzkatholiken gelyncht. (lacht)

Empfinden Sie selbst Ihre Werke als blasphemisch?

Nein. Als ganz junger Mensch wollte ich Kirchenmaler werden. Mich fasziniert die Malerei der großen Meister Michelangelo oder El Greco bis heute enorm. Eigentlich bin ich das auch geworden. Wenn ich jetzt eine große Ausstellung mache, gestalte ich den Ausstellungsraum in einen Tempel oder eine Kirche um. Ich bin ein Kirchenmaler ohne Kirche. Und ohne Religion.

Wer macht eigentlich bei Ihren Aktionen mit? Würden Sie mich nehmen?

Wenn Sie’s ehrlich meinen, ja. Es sind meistens Studenten aus bis zu 15 Nationen. Ich habe viel an Kunsthochschulen unterrichtet. Wenn ich heute etwas mache, kommen die Leute aus aller Welt.

Welchen Einfluss nehmen politische...

(unterbricht) Politik ist das Unglück der Welt. Ich beschäftige mich viel mit Philosophie. Ich glaube, dass von dieser Seite mehr Belehrung für die Menschheit in puncto gerechtes soziales Zusammenleben zu erfahren ist als seitens der Politik. Ich bin völlig unpolitisch.

Religion kann auch zum Unglück der Welt werden, wir erleben das tagtäglich...

Ja, aber nur, wenn sie missbraucht wird.

Dass man als Künstler "unpolitisch" sei, lässt sich in einer Demokratie natürlich leicht sagen. In Diktaturen sieht das anders aus. Ihr Kollege Ai Wei Wei ist seit dem 3. April an einem unbekannten Ort in Haft. Würden Sie sich für seine Freilassung öffentlich einsetzen?

Selbst wenn ich noch so sehr fliegen möchte: Wenn ich jetzt zu diesem Fenster dort gehe, meine Arme ausbreite und springe, plumpse ich höchstwahrscheinlich auf die Maximiliansstraße. Es gibt gewisse Dinge, da kann man sich mit großen Gedanken und Gesten zwar öffentlich in den Vordergrund stellen, aber nicht wirklich helfen.

Beziehen Sie deshalb in Ihrer Kunst keine Stellung zum politischen Geschehen?

Man kann das machen. Aber es interessiert mich nicht. Meine Kunst hat mit der Überwirklichkeit zu tun, mit dem Sein, dem Lebensextrakt. Nicht mit aktuellen Ereignissen.

Die Farbe "Rot", die Sie seit Jahren hauptsächlich verwenden, spiegelt für Sie all das wider?

Ich kann nicht sagen, dass Rot die schönste Farbe ist, aber sie ist die Intensivste. Rot ist die Farbe des Blutes und "Blut ist ein ganz besonderer Saft" . . .

...sagt Goethes Mephisto zu Faust...

...da geht es um Leben und Tod. Wenn zu viel Blut austritt, müssen wir sterben.

Wenn nicht Rot, welche ist dann die schönste Farbe?

Alle Farben.

Sie selbst sieht man aber immer nur in Schwarz.

Ja, ich trag’ nur Schwarz. Seit Anfang 20 bin ich ein begeisterter Anhänger von Stefan George. Der hatte einen Jünglingskreis um sich herum, er war ja homosexuell. Die haben sich wie Priester gefühlt, ein bisschen wie eine Sekte. Für Klimt war die Kunst ja auch eine Art Priestertum, daher kommt das Schwarz. Vielleicht ist Schwarz die schönste Farbe.

Haben Sie irgendwann einmal über den Priesterberuf nachgedacht?

Ein Künstler ist eine Art Priester, aber ohne an eine Religion gebunden zu sein. Denken Sie nur an die großen Kreuzigungsdarstellungen von Tintoretto in Venedig, an die Rembrandt-Radierung "Die drei Kreuze" mit dem unglaublichen Spiel von hell und dunkel. Oder die Passionen von Johann Sebastian Bach oder Heinrich Schütz. Das ist doch auf viel höherem Niveau, als diese naturalistischen Volkssachen in Oberammergau.

Olivier Messiaen hat in seiner Kindheit viel gelesen. Besonders fasziniert haben ihn Märchen und die Werke William Shakespeares, wie "Macbeth"...

Wo ihn die böse Frau ins Unglück hineinreitet. Die Lady Macbeth hat ihn doch angestiftet! Er hat das alles ihr zuliebe gemacht, weil sie ihm das eingeredet hat.

Wurden Sie auch schon einmal von einer Frau ins Unglück getrieben?

Nur im positiven Sinn. Die Frauen um mich haben mich immer sehr unterstützt und mir geholfen.

Ich wollte eigentlich fragen, was Sie als Kind gelesen haben?

Märchen, Karl May natürlich, und viele Revolverromane! Dann ging’s aber schnell: Mit 15 Jahren haben mich schon die Philosophen interessiert, vor allem die Entwicklung von Arthur Schopenhauers Weltverneinung hin zur Lebensbejahung Friedrich Nietzsches. Ich habe die ganze Weltliteratur durchforstet und mich immer sehr für Lyrik interessiert. Musik war aber immer genauso wichtig für mich.

Hören Sie Musik beim Malen?

Ich höre meistens Musik beim Schreiben. Und ich kann etwas, was niemand kann: Fremde Musik hören und gleichzeitig komponieren.

Ohne abgelenkt zu sein?

Als junger Kunststudent habe ich immer in der kleinen Küche meiner Mutter gemalt. Nebenher ist das Radio gelaufen und meine Mutter hat ununterbrochen auf mich eingeredet. Da bin ich so robust geworden, dass ich heute zwei oder drei Sachen gleichzeitig machen kann (lacht).

Nitsch während der Proble
Nitsch während der Proble zu Olivier Messiaens "Franz von Assisi"-Oper.
Foto: © Wilfried Hösl/Bayerische Staatsoper

Gab es eine Initialzündung musikalischer oder literarischer Art, die Ihr Leben beeinflusst hat?

Ja, ich habe einmal ein wunderbares Konzert in Wien gehört. Karl Böhm dirigierte die späten Mozart-Sinfonien, u.a. die G-Moll-Sinfonie und die Jupiter-Sinfonie. Da bin ich drauf gekommen, dass es noch etwas anderes gibt als Schlager und Operette.

Messiaen war ein Synästhetiker, der sowohl bei Klängen Farben sah, als auch bei Farben Klänge hörte. Spielt das in Ihrer Inszenierung eine Rolle?

Ich möchte nicht so viel über die Inszenierung an sich sprechen, das muss man sehen.

Aber der Engel beispielweise wird projiziert - und es laufen Farbskalen durch, bei denen ich schon eine Verbindung zu den Klängen sehe. Es wird aber nicht so sein, dass ein bestimmter Farbton einer bestimmten Note entspricht. Für mich bedeutet Synästhesie, eine Fülle von Möglichkeiten zusammen zu bringen, die die Natur in dieser Weise oft nicht mehr bieten kann.

Das heißt, es gibt für Sie keine "Leitmotive" innerhalb der Farbschemata?

Beim nächsten Mal vielleicht. Wenn ich einmal den "Parsifal" mache.

Ist denn ein "Parsifal" geplant?

In Wien hatte man ihn mir schon zugestanden, dann gab’s politische Umwälzungen und Ioan Holender hatte die Hosen voll. Nikolaus Bachler würde ihn mir ja gerne geben, aber es gibt ja schon einen an seinem Haus, und zwar von Peter Konwitschny.

Wenn Sie in die Oper gehen, welchen Inszenierungsstil bevorzugen Sie? Konservativ oder provokant?

Einen Inszenierungsstil, der dem Autor und Komponisten dient. Es ist ja schon großartig, wenn man auf einem Plakat gewarnt wird: "von Friedrich Schiller" oder "nach Friedrich Schiller". Die meisten schreiben’s ja nicht mal hin! Diese sogenannten modernen Regisseure sollen von mir aus selber Stücke schreiben, aber nicht unsere Klassiker verhunzen.

Welche Klassiker sind für Sie vollkommen?

Ich habe einmal "Tristan und Isolde" in Bayreuth gehört. Das ist herrlichstes Menschenwerk. Wie auch die späten Beethoven-Streichquartette, oder die "Herzgewächse" von Schönberg. In der Kunst die "Judenbraut" von Rembrandt und die "Pietà Rondanini" von Michelangelo!

Und den Bart tragen Sie aus philosophischen Gründen? Sie sehen jedenfalls ein bisschen aus wie Sokrates.

Seine Philosophie ist nicht die meine. Ich habe mir immer gedacht, wenn ich einmal älter werde, dann lasse ich mir so einen Bart wieder wachsen. Dieser stammt von der Documenta 1982.

Herr Nitsch, wenn Sie jetzt noch eine Frage an mich stellen könnten, welche wäre das?

Ihre Leibspeise möchte ich wissen.

Zitronenspaghetti mit Champignons in Weißweinsoße. Was essen denn Sie am liebsten?

Schweinsbraten. Mit Kraut und Kruste, durchzogen mit Fett. Und mit einem wunderschönen Saft, wo Fettaugen drinnen schwimmen. Den gehe ich heute Abend essen.

Zur Person#

Hermann Nitsch, geboren 1938 in Wien, gilt als bedeutendster Wegbereiter des Wiener Aktionismus. Nach seiner Ausbildung an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien widmete er sich der Malerei. Zu Beginn der sechziger Jahre machte er mit ersten Malaktionen von sich reden. Seit dieser Zeit entwickelt er in zahlreichen Aktionen konsequent seine Idee eines "Orgien Mysterien Theaters", eines gesamtkunstwerkgleichen Mysterienspiels, das, durchsetzt von rituellen Handlungen und liturgischer Symbolik, alle Sinne beeinflussen und zu einer kathartischen Erkenntnis führen soll.

Seit 1971 finden die Aktionen regelmäßig auf dem (nieder)österreichischen Schloss Prinzendorf statt. Dort verwirklicht Nitsch auch seine Vorstellungen der Verbindung von Musik und Theater, schafft als Komponist und Schriftsteller akribisch genau notierte Spielanweisungen und Partituren. Höhepunkte bildeten u.a. die 20. Malaktion an der Wiener Secession (1987), das in Prinzendorf 1998 aufgeführte Sechstagespiel und eine Aktion des Orgien Mysterien Theaters am Wiener Burgtheater 2005.

Nitsch lehrte an zahlreichen Kunsthochschulen und ist Gastprofessor an der Universität Wien. Für die Wiener Staatsoper übernahm er 1995 Ausstattung und Co-Regie bei Massenets "Hériodade" und schuf 2005 die Ausstattung zu "Le Renard". Am 1. Juli 2011 wird Nitschs Inszenierung der Oper "Saint François d’Assise" von Olivier Messiaen an der Bayerischen Staatsoper München Premiere haben. Textquelle: Bayerische Staatsoper.

Marie von Baumbach, 1981 geboren in Dillenburg/Hessen, arbeitet als Künstleragentin und Journalistin in München und als Musikkritikerin für die "Wiener Zeitung".

Wiener Zeitung, Samstag, 25. Juni 2011