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Die Oestreicher der Niederlande#

In Holland ist Maria Austria als große Fotografin bekannt: Sie wurde vor hundert Jahren in Karlsbad geboren, unternahm in Wien ihre ersten beruflichen Schritte - und ist hierzulande in Vergessenheit geraten.#


Von der Wiener Zeitung (Sa./So., 7./8. März 2015) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Anton Holzer


Autoausstellung in Amsterdam, 1937
Maria Austria (Oestreicher): Autoausstellung in Amsterdam, 1937.
© Foto: Archiv Anton Holzer

Marie Oestreicher war 22 Jahre alt, als sie im Herbst 1937 beschloss, Wien den Rücken zu kehren und nach Amsterdam zu ziehen. Mehrere Gründe hatten die junge Frau veranlasst, die österreichische Hauptstadt zu verlassen. Zunächst der zunehmende Antisemitismus, den sie als Jüdin Tag für Tag auf den Straßen der Stadt spürte. Dann das düstere, konservative politisch-gesellschaftliche Klima, das seit 1934 im christlichsozialen Ständestaat herrschte. Und schließlich: Die nationalsozialistische Bedrohung, die nicht nur im Nachbarland Deutschland, sondern längst auch in Österreich spürbar war.

Rückblickend gesehen hatte sie ein feines Gespür für die sich zuspitzende politische Lage. Denn wenige Monate später, nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten in Wien, wäre sie gewaltsam entrechtet worden und hätte wohl, wie viele andere Österreicher jüdischer Herkunft, unter dem Druck des neuen Regimes das Land verlassen müssen.

Der Weg zur Fotografie#

Marie Oestreicher hat in den Niederlanden noch einmal bei Null begonnen. In Amsterdam hat sie sich als Fotografin einen Namen gemacht. Sie gilt heute als große holländische Fotografin. Seit etlichen Jahren ist ein renommiertes Amsterdamer Fotoinstitut nach ihr benannt, ihr fotografisches Werk wurde mehrfach publiziert und ausgestellt. Und in Österreich? Hier scheint man sich der Fotografin, die im Wien der 1930er Jahre ihre ersten beruflichen Schritte unternahm, nicht mehr zu entsinnen. Sie ist ganz einfach in Vergessenheit geraten.

Ihre Familie war böhmischer Herkunft, der Vater arbeitete als hoch angesehener Arzt in Karlsbad. Er starb freilich früh, 1915, im Jahr ihrer Geburt. Marie Oestreicher ging nach ihrer Matura in Karlsbad nach Wien, um sich der Fotografie zuzuwenden - eine berufliche Entscheidung, die sie in diesen Jahren mit zahlreichen anderen, meist fortschrittlich eingestellten junge Frauen aus jüdischen Hause teilte. Zwischen 1933 und 1935 studierte sie an der Wiener Grafischen Lehr- und Versuchsanstalt Fotografie und anschließend arbeitete sie als fotografische Assistentin im Atelier Willinger auf der Kärntnerstraße, einem der größten Wiener Fotoateliers der Zwischenkriegszeit.

Die anspruchslosen Auftragsarbeiten, die sie zu erledigen hatte, waren für sie nicht mehr als ein Brotjob. In ihrer Freizeit ging sie andere Wege. Sie knüpfte Kontakte zu linken und liberalen Kreisen, tauchte in die Kunstszene der Wiener Kleinbühnen (etwa "Literatur am Naschmarkt", ABC usw.) ein, die im diktatorischen Ständestaat kleine Nischen der Gegenöffentlichkeit eröffneten. Sie fotografierte Schauspieler, Bühnenszenen, aber auch Straßenszenen und den Alltag in der Stadt.

Wieso ging Marie Oestreicher gerade nach Amsterdam? In den Niederlanden herrschte ein weitaus offeneres, liberaleres Gesellschaftsklima als in der österreichischen christlichsozialen Diktatur. Der naheliegendste Grund war aber wohl, dass ihre um 13 Jahre ältere Schwester Lisbeth seit 1930 in der Stadt lebte und arbeitete, ebenso wie ihr ebenfalls älterer Bruder Felix. Lisbeth Oestreicher hatte in den späten 1920er Jahren ein Textilstudium am Bauhaus in Dessau absolviert. Sie war es wohl auch, die ihrer jüngeren Schwester Marie erste private und künstlerische Kontakte vermittelte.

"Bis jetzt habe ich es noch nicht zu einem eigenen Atelier gebracht", schreibt Marie Oestreicher am 29. November 1937 an einen Freund in Wien, "aber ich hoffe, dass das auch bald klappen wird". Statt eines eigenen Ateliers entschied sie sich zunächst für eine Zusammenarbeit mit ihrer Schwester. Diese hatte Arbeitsräume und war als freiberufliche Textildesignerin für niederländische Firmen tätig. Das Atelier, das die beiden Schwestern eine Zeit lang gemeinsam betrieben, nannten sie "Model en Foto Austria".

Alles mit der Rolleiflex#

Ihre Schwester machte Textil- und Modeentwürfe, Marie Modeaufnahmen - und sie versuchte weitere Fotoaufträge, u. a. von Zeitungen und Zeitschriften, zu bekommen. "Ich mach’ bis jetzt fast nur Modefotos und alles mit der Rolleiflex", berichtet sie Ende 1937 nach Wien. Die Begründung: "Man ist auch mit der Rolleiflex viel beweglicher als mit einem großen Kasten." In Amsterdam nahm sie ihren Künstlernamen an, den sie ihr ganzes Leben beibehalten sollte: Maria Austria.

In ihrer Freizeit entstanden, so wie bereits in Wien, zahlreiche Porträts. "Ich versuche jetzt nicht mehr wie in Wien möglichst viel in ein Kopffoto hineinzulegen, sondern, im Gegenteil, möglichst viel aus dem Gesicht herauszuholen." Immer wieder war sie aber auch auf den Straßen der Stadt unterwegs, auf der Suche nach Bilderserien, die sie an die Presse verkaufen konnte. Einige wenige Fotos konnte sie vor der Machtübernahme der Nazis im März 1938 noch an Wiener Zeitungen liefern.

"Ja, und nach und nach sind auch ganz nette Menschen um einen", schreibt sie im erwähnten Brief Ende November 1937. Sie berichtet von ihren ersten künstlerischen Bekanntschaften, die sie gemacht hat. Bald nach ihrer Ankunft hatte sie etwa die aus Ungarn stammende Fotografin Eva Besnyö kennen gelernt. Diese charakterisierte ihren künstlerischen Freundeskreis mit dem Worten: "Wir waren alle links und Antifaschisten, Bohemiens und Freigeister." Oestreicher lernte mehrere Filmleute aus dem Umfeld der linken niederländischen "Filmliga" kennen, u.a. die Regisseure Joris Ivens und John Fernhout.

Anfang der 1940er Jahre, als Marie Oestreicher langsam Fuß in Amsterdam gefasst hatte, überschlugen sich die Ereignisse in ihrem Leben ein weiteres Mal. Am 10. Mai 1940 überfielen deutsche Truppen die neutralen Niederlande. Bald setzte die antisemitische Verfolgung ein. 1942 wurde mit der Deportation der jüdischen Bevölkerung in des "Durchgangslager Westerbork" begonnen.

Von hier aus gingen die Transporte in die Vernichtungslager in Osteuropa. Anders als ihr erster Mann, Hans Bial, den sie vor kurzem geheiratet hatte, zog Marie es vor, sich dem Transport nach Westerbork zu entziehen. Sie ging in den Untergrund und schloss sich der niederländischen Widerstandsbewegung an, war unter dem Namen Elizabeth Huijnen als Kurier tätig und half bei der Fälschung von Ausweisen. Es gelang ihr, die NS-Zeit in der Illegalität zu überleben.

Musik, Theater, Tanz#

Kaum war der Krieg zu Ende, begann Maria Austria wieder mit ihrer fotografischen Arbeit. Sie war nun 30 Jahre alt. Zusammen mit ihrem neuen Lebensgefährten (und späteren zweiten Mann) Henk Jonker gründete sie in Amsterdam die Fotoagentur "Particam Pictures", die nach und nach auch andere Fotografen (u.a. Aart Klein und Zilver Rupe) vertrat. Erste Erfolge stellten sich ein.

In den kommenden Jahren wurde Maria Austria eine der bekanntesten Presse- und Reportagefotografinnen Hollands. Ihre besondere Leidenschaft galt der Kunst. Sie spezialisierte sich insbesondere auf die Themen moderne Musik, Theater und Tanz, jahrzehntelang dokumentierte sie die Aktivitäten des berühmten "Holland Festivals". Daneben war sie mit der Leitung ihrer Fotoagentur beschäftigt. Sie stand mitten im Leben, als sie Anfang 1975 - 60-jährig - an einer schweren Grippe erkrankte und starb.

Als Fotografin ist sie nach 1937 nie mehr nach Österreich zurückgekehrt. Ob sie privat noch einmal in Wien war, ist nicht bekannt. 1976, ein Jahr nach ihrem Tod, wurde ihr fotografisches Werk in eine Stiftung eingebracht, aus der 1992 das "Maria Austria Instituut" (MAI) in Amsterdam hervorging, eine Einrichtung, die wichtige niederländische Fotosammlungen bewahrt, erforscht und zugänglich macht.

Maria Austria wird heute als niederländische Fotografin angesehen - zu Recht, wenn man ihr vielfältiges fotografisches Werk überblickt. Dennoch wäre es an der Zeit, dieser großen Fotokünstlerin auch in Österreich, wo sie ihre ersten beruflichen Schritte setzte, endlich eine erste Ausstellung einzurichten.


Anton Holzer, geb. 1964, lebt als Fotohistoriker, Publizist und Herausgeber der Zeitschrift "Fotogeschichte" in Wien. 2014 erschien im Primus Verlag, Darmstadt, sein Buch "Rasende Reporter. Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus". www.anton-holzer.at

Wiener Zeitung, Sa./So., 7./8. März 2015