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Poet mit der Kamera#

Der Fotograf Richard Träger, der vor 120 Jahren geboren wurde, war ein Pionier der österreichischen Avantgarde und ein Dokumentarist des Alltäglichen, der die Welt in überraschenden Nahaufnahmen einfing.#


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung (Sa./So., 3./4. Jänner 2015)

Von

Anton Holzer


Richard Träger: 'Stammgäste', um 1930.
Richard Träger: "Stammgäste", um 1930.
© Archiv Holzer

Es gibt Lebensläufe, die in hellstem Licht leuchten. Derartige Menschen, denen der Erfolg zu Füßen liegt, werden oft Persönlichkeiten genannt. Und dann gibt es die, die stets im Schatten stehen. Ihr Name hat, auch wenn sie Besonderes leisten, keinen klingenden Ton. Und sind sie einmal abgetreten, geraten sie alsbald in Vergessenheit.

Vor ein paar Jahren bin ich auf einen vergessenen Namen gestoßen: Richard Träger. Nie gehört? Kein Wunder, denn er hat kaum Spuren hinterlassen. Seine Leidenschaft galt der Fotografie. Ein paar wenige Aufnahmen, die er Ende der 1920er, Anfang der 30er Jahre gemacht hatte, sind mir untergekommen und haben mich in ihren Bann geschlagen.

Reizvolle Details#

Da ist etwa dieses faszinierende Stillleben, aufgenommen in einem Wiener Kaffeehaus um 1930. Im Vordergrund stehen auf einem Tablett zwei Gläser Wasser, beide sind voll. Im Hintergrund sind zwei Zeitungen aufgespannt, nur die Hände, die sie halten, sind durch den Spalt zwischen den beiden Blättern zu sehen. Sonst nichts. Eine wunderbare Nahaufnahme. Sie verdankt ihren Reiz und ihre Qualität unscheinbaren Details. Die Spannung des Bildes ergibt sich aus der aufmerksamen Beobachtung des Naheliegenden. Ich versuche zumindest einen Titel auf der Zeitungsseite zu entziffern, es will mir nicht gelingen. Scharf sind nur die beiden Gläser im Vordergrund, der Hintergrund ist verschwommen. Der Fotograf hat dem Bild einen einfachen Titel gegeben: "Stammgäste" (siehe Abbildung rechts oben).

Eine andere Aufnahme: wiederum Gläser, die auf einem Tisch stehen. Auch hier: Reduktion auf das Minimum. Das Sonnenlicht verfängt sich im Rund der Gläser und verleiht ihnen einen gleißenden Anschein. Es gibt bei diesem Bild wenig zu entziffern. Die einfache Sachaufnahme kommt ganz ohne Botschaft aus. Zu sehen ist die Welt im Detail, Objekte des alltäglichen Lebens, nicht mehr.

Hinter dem Bild verbirgt sich keine geschliffene Werbebotschaft, kein Geheimnis eines Produkts, das Käufer sucht. Der Fotograf hat nichts anderes im Sinn, als die Wirklichkeit, so wie er sie sieht, festzuhalten. Sachlich im besten Sinne des Wortes sind diese Aufnahmen. In den 1920er Jahren wurde für diese Richtung in der Fotografie der Begriff "Neue Sachlichkeit" geprägt.

Wer war Richard Träger? In den Nachschlagewerken zur Fotografiegeschichte taucht der Name entweder gar nicht auf, oder, wenn sich doch ein knapper Eintrag findet, beschränkt sich dieser auf dürre Angaben: Wiener Amateurfotograf, tätig in der Zwischenkriegszeit, fotografierte im Stil der "Neuen Sachlichkeit". Sonst nichts. Es sollte doch möglich sein, dachte ich mir, diesem talentierten Fotografen, der außer einigen Bildern offenbar nur wenige Spuren hinterlassen hat, ein Gesicht zu geben. Jahrelang habe ich versucht, die spärlichen Informationen über seine Fotografien zu ergänzen, weitere Aufnahmen zu entdecken. Die Recherchen haben nur wenige Früchte getragen. Immerhin: Zumindest die nackten Lebensdaten ließen sich ermitteln. Träger wurde, so ist in den historischen Meldeunterlagen des Wiener Stadt- und Landesarchivs nachzulesen, am 16. Jänner 1895 in Wien geboren. Es ist auch vermerkt, dass er "römisch-katholisch" war und von Beruf "Feinmechaniker". Seit dem 19. Dezember 1926 war er mit Elisabeth Pfeifer, geboren am 12. November 1898 in Wien, verheiratet. Die beiden lebten in der Moßbachergasse 22-24/3/11. Das ist alles. Und noch eine Information findet sich in den Akten. Träger starb in jungen Jahren, am 30. 11. 1933 in seiner Wohnung. "Laut Totenschaubefund starb Richard Träger an einem Unfall durch Leuchtgasvergiftung." Vergiftung? Ein Unfall? Oder beging er Selbstmord?

Und der Fotograf Träger? Was ich über ihn in Erfahrung bringen kann, passt auf eine halbe DIN-A4-Seite. Seit 1919 fotografierte er. Die Kamera, so wird berichtet, habe er von seinem Vater erhalten. In den 1920er Jahren wurde er Mitglied bei der Arbeiterfotografengruppe des Volksheims Ottakring. Diese war, neben den Meidlinger Naturfreundefotografen, die bekannteste Arbeiterfotogruppe Wiens. Am Ludo-Hartmann-Platz 7 verfügte die "photographische Fachgruppe", so nannte sie sich, über ein gut ausgestattetes Labor: Fünf Dunkelkammern, Vergrößerungs- und Kopierapparate, ein eigener Aufnahmeraum mit Glasdach, und eine Fachbibliothek, listet ein stolzer Bericht aus den späten 1920er Jahren auf.

Ab 1924 stand die Ottakringer Fotogruppe für einige Jahre unter der Leitung von Karl Irribauer. Sein Nachfolger Karl Ender setzte ab 1928 dessen Aktivitäten fort. Fast wöchentlich fanden Veranstaltungen statt: Lichtbildervorträge, Kurse, Fotoausflüge. Jährlich im September fand eine Ausstellung statt.

Gläser, um 1928
Gläser, um 1928.
© Archiv Holzer

Die Mitglieder der Fotogruppe waren keine revolutionären Arbeiterfotografen, sie verfolgten ein gemäßigt-modernes Programm, das sich nicht allzu sehr von den bürgerlichen Amateuren unterschied. Zu den bekanntesten Lichtbildnern der Gruppe gehörten Otto Dobrowolny, Philipp Fanta, H.E. Zischka, Willy Rybarik, Karl Ender, Josef Hammer, Franz Katolicky, Alexander Niklitschek, Ludwig Helly, Eugen Sladky, Josef Schramek, Hans Balek und als eine der wenigen weiblichen Vortragenden und Fotografinnen in der Gruppe: Cécile Machlup.

Internationale Erfolge#

Richard Träger hielt sich offenbar viel im Ottakringer Volksheim auf. Er war mit Abstand der innovativste und modernste der Gruppe. Zwar stellte er immer wieder zusammen mit seinen Fotofreunden in der Ottakringer Volkshochschule aus. Aber schon 1925 begann er, internationale Amateurausstellungen zu beschicken. Mit Erfolg. Seine Fotos waren in Frankreich, England und den USA zu sehen - und errangen Preise.

Allmählich wurde Träger auch in Österreich wahrgenommen. Sein größter heimischer Erfolg: 1930 wurden sechs seiner Aufnahmen in der Werkbund-Ausstellung "Film und Foto" gezeigt, die im Frühjahr im Wiener Museum für Kunst und Industrie (heute MAK) zu Gast war. Die berühmte Schau galt als kräftiges Lebenszeichen der fotografischen Avantgarde und hatte im Jahr zuvor in Stuttgart für Furore gesorgt.

Die ersten Pressemeldungen zum Werk Richard Trägers stammen aus dem Jahr 1927. Meist sind es nur kurze Hinweise auf Ausstellungsbeteiligungen. Anfang 1929 erschien erstmals ein kurzer Aufsatz über ihn. Wolfgang Born, wichtiger Wiener Fotopublizist der Zwischenkriegszeit, dessen Anliegen es war, der modernen Fotografie zum Durchbruch zu verhelfen, unterstützte den Fotografen aus vollen Kräften. "Richard Träger", schreibt er, "ist ein Künstler der Nähe, der Entdecker von Köstlichkeiten im Vordergrunde, der Schilderer alltäglicher Kleinwelt." Das Werk, das bisher vorliegt, sei zwar "zahlenmäßig sehr bescheiden (. . .) aber es hat dafür die Überzeugungskraft der künstlerischen Lösung gewonnen. Träger hat zunächst erkannt, dass man an den alltäglichsten Gegenständen die Erscheinungen der ganzen Welt studieren kann."

Born bringt ein Beispiel: "Wenn er das Thema Reflexe wählt, jedem Menschen aus tausend und abertausenden Erlebnissen vertraut, so braucht er dazu keinen nächtlichen Teich, in dem sich der volle Mond spiegelt, eine Wahl, die einem Romantiker wohl angestanden hätte, sondern er greift eine Küchenecke heraus, in der sich zwei Glasbüchsen mit einer Milchflasche zusammengefunden haben. (. . .) Es ist das Hin und Zurück, das ewige physikalische Spiel der Lichtstrahlen, das Phänomen der Brechung, eben der Reflex, der in diesem Blatt sinnfällig zum Ausdruck gekommen ist, und mit der äußersten Schlichtheit der Mittel ist gleichzeitig eine eigene Art Schönheit gewonnen."

Nicht zufällig trägt Borns Hommage den Titel "Die Schönheit des Unscheinbaren." Einschätzungen wie diese waren zu Lebzeiten freilich selten. Im September 1932 wurde Träger in der "Wiener Mittagszeitung" noch einmal als "eine internationale Größe auf dem Gebiet der Amateurphotographie" bezeichnet. Dann, 1933, der plötzliche Tod.

Ein einziges Mal noch fand der Fotograf Anerkennung. Knapp zwei Jahre nach seinem Tod fand eine kleine Gedächtnisausstellung zu seinen Ehren im Volksheim Ottakring statt. Ende September 1935 berichtete das "Neue Wiener Journal" über die Schau und den Geehrten: "Er war einer der ersten, der modern photographierte. Schon im Jahr 1925 hatte er seinen Stil gefunden, aber er war viel zu bescheiden, um sich durchzusetzen." Bescheiden - das ist das Attribut, das immer wieder in Zusammenhang mit Träger auftaucht. Der Bescheidene wurde vergessen.

Andere Zeiten#

Dem Vergessen wurde aber auch tatkräftig nachgeholfen. Bereits Anfang der 1930er Jahre setzten die Konservativen unter den Lichtbildnern zum Angriff gegen die Modernen und Avantgardisten an. Heinrich Kühn, der Altmeister der fotografischen Schöngeister, geißelte Anfang der 1930er Jahre die "umstürzlerische Tendenz" der "modernen Sachfotografie". Natürlich war damit einer wie Träger gemeint. Und gar die moderne Fotomontage: Sie erinnere ihn, Kühn, "manchmal zynisch an das Brutale, Aufreizende und doch wieder Blöde einer Jazzmusik". Im Ständestaat war die avantgardistische Fotografie nicht mehr opportun.

Und Richard Träger? Meines Wissens wurde er nach 1935 nie mehr ausgestellt. Wo ist sein schmales Werk geblieben? Gibt es Nachkommen, die etwas über den Verbleib seiner Fotos wissen? Oder die Details aus seinem Leben berichten können? Im Wiener Telefonbuch gibt es 13 Einträge mit dem Namen Träger, bzw. Traeger. Eigentlich eine überschaubare Zahl. Lange habe ich gezögert, fremde Menschen mit Anfragen zu belästigen. Und habe schließlich doch alle "Trägers" kontaktiert. Leider ohne Erfolg. An den Fotografen konnte sich niemand erinnern.

Anton Holzer, geboren 1964, Fotohistoriker und Ausstellungskurator, lebt in Wien. 2014 erschien sein Buch: "Rasende Reporter. Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. Primus Verlag, Darmstadt.

Wiener Zeitung, Sa./So., 3./4. Jänner 2015