!!!Desertion und Klagegesang

!!Während René Freund in seinem neuesten Buch die Rolle seines Vaters in den letzten Kriegstagen auf vielfältige Weise reflektiert, erzählt Albert Cohen in biblischer Verzweiflung vom Tod seiner Mutter.

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''Von der [Wiener Zeitung|http://wienerzeitung.at] (Sa./So., 8./9. November 2014) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.''


Von 

__Walter Klier__


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[{Image src='Gerhard-Freund-Tagebuch.jpg' class='image_right' caption='Beginn des Tagebuchs von Gerhard Freund aus dem Jahr 1944, aus welchem Sohn René in seinem Buch zitiert.\\© Freund' alt='Beginn des Tagebuchs von Gerhard Freund aus dem Jahr 1944' height='370' width='287'}]






Ich hatte schon ein gutes Stück weit in René Freunds neues Buch hineingelesen, als mir auffiel, dass unsere Väter fast genau gleich alt sind. Den seinen, Jahrgang 1925, ereilte das Kriegsende, invasionsbedingt verfrüht, im Mai 1944 in Paris. In dem allgemeinen Tohuwabohu, das kurz vor dem Herannahen der alliierten Truppen in der französischen Hauptstadt herrschte, machte er sich mit einem älteren Kameraden aus dem Staub; mit sehr viel Glück schafften die beiden es unversehrt in die amerikanische Kriegsgefangenschaft.

Meinen ein Jahr jüngeren Vater hatte man Mitte 1944 noch rasch zur Wehrmacht eingezogen. Beim Jahrgang 1926 verzichtete man bereits auf die sogenannte Kriegsmatura, der Vater Freund noch teilhaftig geworden war. Nach einer Hudriwudri-Ausbildung schickte man meinen Vater nach Slowenien zum Kampf gegen die Tito-Partisanen. Im Frühjahr 1945, irgendwo in Kärnten, wurde ihm und seiner Einheit von einem vernünftigen Vorgesetzten nahegelegt, das Gewehr in den nächsten Busch zu schmeißen und sich auf den Weg nach Hause zu machen. Dieser erfolgte alsbald zu Fuß über die tiefverschneiten Tauern und endete vorderhand in einem provisorischen Auffanglager der Amerikaner im Tiroler Unterland. Einen Moment der Unaufmerksamkeit der Wachen nützte er, um sich gleich auch noch der Rolle des Kriegsgefangenen zu entledigen.

Mein Vater hat diese Geschichte immer wieder erzählt, in der ihm eigenen farbigen Art. Das Wort "Deserteur" ist ihm dabei nie in den Sinn oder über die Lippen gekommen. Er hatte ganz einfach das in diesem Augenblick Richtige getan - genauso wie Gerhard Freund ein Jahr vor ihm.

Nach Lage des Kriegsrechts waren sie freilich beide Deserteure, mit allen Konsequenzen, hätte man sie in letzter Minute doch noch erwischt. Aber es ist nicht nur dieses eine Problem-Wort "Deserteur", mit seinen Bedeutungsschattierungen zwischen "Verräter" und "Held", was den Erzähler René Freund umtreibt. Es ist die schiere Unfassbarkeit dessen, was die Generation unserer Väter erlebt hat (egal, in welcher Rolle sie in dieses gigantisch-grauenhafte Weltkriegstheater hineingeraten waren), unfassbar für uns, die in gottlob friedlichen, historisch ziemlich uninteressanten Zeiten lebenden Nachgeborenen.

!Schlachtfeld-Tourismus

Diesen Themenkreis bearbeitet René Freund, schreibend, das Tagebuch des Vaters zitierend und eine Menge von Literatur zum Thema lesend, dann auch reisend: zu den Schlachtfeldern des nördlichen Frankreich, wo sich der Tourist von heute aussuchen kann, ob er sich lieber von den Feldern der Ehre aus dem Ersten oder jenen des Zweiten Weltkriegs deprimieren lässt. Am Strand der Normandie wurde wenigstens der Sieg der Demokratie unwiderruflich, aber auch hier kann das moralisch suchende, zweifelnde Erzähler-Ich sich mit sich selber auf keine Formel einigen. Sind wir doch alle, wir Nachgeborenen, als lupenreine Pazifisten ausgebildet ins Erwachsenenalter gekommen, mit der im Nachhinein vollkommen skurrilen, weil moralisch überhaupt nicht eindeutigen Anti-Vietnam-Bewegung um 1970 als Prägung - und mit der moralisch mehr als fragwürdigen westlichen Linken als Begleitmusik bis 1989.

Sehr eindrücklich beschreibt René Freund dieses moralische Schwanken und Zweifeln der Nachgeborenen, das sich mit dem Erwachsenwerden (lange nachdem man biologisch "erwachsen" wurde) einstellt und einen mehr und mehr daran hindert, in diesen historischen Fragen, die doch immer ins Gegenwärtige hereinspielen, eindeutig Stellung zu beziehen. Mit 18 ist man mit sich im Reinen: Du sollst nicht töten, das ist ja auch eine ziemlich eindeutige Ansage. Unsere Väter wurden mit 18 allerdings nicht gefragt, ob sie nun der Meinung wären, man solle oder man solle nicht, beziehungsweise unter welchen Umständen vielleicht doch.

Wie jede Partei in jedem Krieg hatte ihr "Vaterland" einen "gerechten Krieg" angesagt. Der sozialistische Hintergrund gab dem Vater Freund (des späteren ersten österreichischen Fernsehdirektors, der bereits im Alter von 53 Jahren starb, als Sohn René 12 war) eher die Chance, das Unrechte dieses Krieges zu erkennen, mein aus deutschnationaler Familie stammender (noch lebender) Vater brauchte erst die konkrete Erfahrung von Krieg und Kriegsende dazu. Der Nazi-Staat hätte sie beide aufgrund ihrer Desertion gleichermaßen umgebracht; uns späteren Neunmalklugen wären sie rein aufgrund des Geburtsdatums moralisch suspekt - wären sie nicht unsere Väter. Also nicht nur Bekannte, sondern die für unser Auf-der-Welt-Sein unmittelbar Verantwortlichen.

Die Empathie, die einem in solchem Fall gewissermaßen automatisch zuwächst, ist ein wunderbarer Ansatz, um vom Allgemeinen ins Spezifische zu kommen. Um die Balance zwischen dem Moralischen (war es denn gut oder böse) und dem Erzählerischen (wie war es? wie kann ich es mir vorstellen?) ringt René Freund über die ganze Länge dieses Buches, und daraus gewinnt er dessen Lebendigkeit und literarische Qualität.

[{Image src='Gerhard-Freund-mit-Nikita-Chruschtschow.jpg' class='image_left' caption='Fernsehdirektor Gerhard Freund mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten Nikita Chruschtschow in Wien, 1961.\\© Wiener Zeitung' alt='Fernsehdirektor Gerhard Freund mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten Nikita Chruschtschow' height='270' width='433'}]

Und nun zu den Müttern. Sind die Väter in der traditionellen Familie für das Heldische zuständig, so repräsentiert die Mutter die Geborgenheit im Häuslichen, als Fortsetzung der ursprünglichen Geborgenheit in ihrer Leiblichkeit. Beim Vater, kraft seines Heldentums, wäre der Tod zumindest theoretisch vorstellbar, bei der Mutter nicht. Stirbt sie tatsächlich, so stirbt die Familie mit ihr.

Albert Cohens "Buch meiner Mutter" handelt von diesem Skandalon, von dieser existenziellen Unerträglichkeit. Der 1895 in Korfu geborene und 1981 in Genf verstorbene Cohen ist einer jener Schriftsteller, die irgendwie zwar sehr berühmt sind, aber dennoch alle Jahrzehnte einmal "wiederentdeckt" werden müssen, weil das breitere Publikum - aus welchem Grund auch immer - nicht bei der Sache bleiben will. (Isaak Babel, von dem gerade eine neue Gesamtausgabe bei Hanser erschienen ist, ist ein ähnlicher Fall.) Ich kann mich noch an einen extravaganten Schutzumschlag von "Die Schöne des Herrn" aus dem Verlag Klett-Cotta erinnern, in den achtziger Jahren - aber auch ich, aus welchen Gründen immer, habe der Lockung, Albert Cohen zu lesen, widerstanden - bis jetzt.


!Rührende Verzweiflung

Schon die erste Seite dieses Buches hat mich eines Besseren belehrt. "Was für ein seltsames kleines Glück, traurig und lahm, aber süß wie die Sünde oder ein heimlicher Trunk, was für ein Glück, immerhin in diesem Augenblick allein in meinem Königreich und fern von den Dreckskerlen zu schreiben. Wer die Dreckskerle sind? Ich werde es euch nicht verraten. Ich will keine Geschichten mit den Leuten draußen. Ich will nicht, dass man mich in meinem falschen Frieden stört und mich daran hindert, ein paar Seiten zu schreiben, zehn oder hundert (. . .) Ja, die Worte, meine Heimat, die Worte trösten und rächen. Aber sie geben mir nicht meine Mutter wieder. Mögen sie noch so erfüllt sein vom Blut der Vergangenheit, das in den Schläfen pocht, mögen sie noch so voll sein von Duft, die Worte, die ich niederschreibe, geben mir nicht meine tote Mutter wieder."

Seine kleine, herzkranke, sehr, aber doch niemals genug geliebte Mutter war 1943 in Marseille gestorben, vier Tage nachdem die deutschen Truppen dort einmarschiert waren. Cohen war schon früher nach London geflohen, auf die Nachricht von ihrem Tode schrieb er eine Folge von Klagegesängen mit dem Titel "Chant de mort" (Todesgesang).

Nach dem Ende seiner Diplomatenkarriere machte er sich Anfang der 50er Jahre, nun in Genf ansässig, wieder ans Schreiben. Er war damit schon vor dem Krieg erfolgreich gewesen. Als erstes erschien 1954 das auf "Chant de mort" basierende Mutter-Buch. Es ist nach wie vor mehr Klagegesang als Erzählung, eine Klage von biblischer Wut und rührender Verzweiflung. Seine Mutter ist tot, und er lebt. "Ich habe weitergelebt, weitergeliebt. Ich habe gelebt, habe geliebt, habe Stunden des Glücks gekannt, während sie verlassen an ihrem Ort des Grauens lag. Auch ich habe wie die anderen die Sünde des Lebens begangen. Ich habe gelacht und werde noch lachen. Gott sei Dank werden die lebenden Sünder rasch zu Toten, an denen man sich versündigt."

[{Image src='Albert-Cohen-Cover.jpg' class='image_right' alt='Albert Cohen, Buch-Cover' height='200' width='133'}]

''__Walter Klier__, geboren 1955, lebt als Schriftsteller und Maler in Innsbruck. Zuletzt ist sein "Jahrhundertroman" "Leutnant Pepi zieht in den Krieg" als Taschenbuch im Limbus Verlag erschienen.''

!Information

* René Freund. Mein Vater, der Deserteur. Eine Familiengeschichte. Deu-ticke, Wien 2014, 207 Seiten, 19,50 Euro.
* Albert Cohen. Das Buch meiner Mutter. Übersetzt von Lilly von Sauter. Nachwort von Barbara Honigmann. Nagel & Kimche, München 2014, 140 S., 17,40 Euro. 


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[Wiener Zeitung|http://wienerzeitung.at], Sa./So., 8./9. November 2014
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