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Heiter-heiliger Existenzernst#

Der deutsche Dichter Christian Morgenstern (1871-1914) nahm seine ernste Lyrik wichtiger als die humoristische. Seine "Galgenlieder" sah er als "Beiwerkchen". Am 31. März jährt sich sein Todestag zum 100. Mal.#


Von der Wiener Zeitung (Sa./So., 29./30. März 2014) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

David Axmann


Die normative Kraft der Nachwelt ist enorm. Kein toter Künstler ist ihr gewachsen. Die Nachgeborenen sind letztlich immer im Recht. Es ist jenes, das sie sich herausnehmen. Wie Naschkatzen die Rosinen aus dem Kuchen. Erlaubt ist, was gefällt. Hauptsache, es schmeckt. Und damit sind wir bei Christian Morgenstern.

Christian Morgenstern (1871- 1914) war ein deutscher Dichter. Er schrieb vornehmlich Gedichte, sowohl ernste, philosophisch und religiös inspirierte als auch heitere, humoristische, wortverspielte und sprachkritische Gedichte. Morgenstern nahm seine ernste Lyrik wichtiger als seine humoristische: jene betrachtete er als sein zentrales uvre, diese nur als "Beiwerkchen". Die Nachwelt aber kehrte die Betrachtungsweise um und rückte die dichterische Nebensache in den Mittelpunkt vergnügter Wertschätzung. Morgensterns "Galgenlieder" wurden postum zum Kenn- und Markenzeichen des Dichters gemacht.

Der "unfertige" Morgenstern - behauptete Joseph Roth - "sang von Liebesleid und Frühlingslust und Schmalzdingen . . . Der reife Morgenstern sang von einem Huhn, das in der Bahnhofshalle spaziert und den Herrn Stationsvorsteher sucht." "Kantsche Sätze in Gedichtform zu finden", - stellte Kurt Tucholsky fest - "dergleichen verdaut man heute, erzogen durch Palmströms Galgenlieder, mühelos." In früheren Zeiten gehörte Morgenstern - wie Friedrich Torberg berichtete - zum Repertoire des Bildungskanons: "wer damals nicht mindestens ein Dutzend Galgenlieder auswendig wußte, galt als Analphabet und durfte im Kreis der literarisch Interessierten nicht mitreden."

Ein Mann mit Rätseln#

Auch heutzutage, wo das Auswendiglernen von Gedichten obsolet, wo nicht gar verpönt ist, verbinden Literaturkundige mit Morgenstern nicht mehr als seine Galgenpoesie, als Palmström, v. Korf und Palma Kunkel. Wenn man das Beiwerkchen zur Hauptsache erklärt, versteht man den Dichter nur beiläufig richtig und bei weitem nicht völlig.

Darauf könnte man freilich mit dem Morgenstern-Aphorismus entgegnen: "Ich halte es nicht für das größte Glück, einen Menschen ganz enträtselt zu haben." Man sollte es trotzdem versuchen, und kann es in diesem Falle getrost tun, da vieles in Morgensterns Leben und Werk durchaus rätselhaft bleibt. Der Morgenstern-Biograph Jochen Schimmang resümiert: "Der Mann, von dem manche Zeilen gleichsam kulturelles Gemeineigentum geworden sind - allen voran die, dass nicht sein kann, was nicht sein darf und dass die Möwen alle aussehen, als ob sie Emma hießen - . . . , ist merkwürdig schwer zu fassen."

Merkwürdig sind auch die Familienverhältnisse, in die Christian Morgenstern (am 6. Mai 1871 in München) hineingeboren wurde: sein Vater Carl Ernst, Großvater Christian Ernst, Urgroßvater Carl Heinrich und der Vater seiner Mutter Josef Schertel waren Landschafts- bzw. Porträtmaler. Das prägt! Aus einem Brief des jungen Christian: "Ich bin ein Maler bis in den letzten Blutstropfen hinein. - Und das will nun heraus ins Reich des Wortes, des Klanges; eine seltsame Metamorphose."

Die Mutter stirbt 1881, erst 30 Jahre alt, an Tuberkulose; eben diese Krankheit wird in den Neunzigerjahren auch Christian befallen. Der Vater heiratet wieder, sogar zweimal; ein Umstand, der die Entfremdung zum Sohn befördert. 1889, im letzten Gymnasialjahr, beginnt Morgensterns Freundschaft mit Friedrich Kayssler (später ein bekannter Schauspieler), von dem diese Beschreibung seines Freundes stammt: "Er ist sehr schlank und groß, hat einen fast kleinen Kopf mit einer sehr hohen Stirn und trägt einen gut sitzenden Anzug mit englischen Karos... Seine Augen sind tief und gut, aber auf ihrem Grunde schießt es hin und her von unerwarteten Listen und Einfällen..."

Der 35-jährige Morgenstern hat sich selbst eine "oft lebhafte, leicht und nachhaltig erregbare Phantasie" zugeschrieben, sowie "einige dichterische Begabung", "von dem beständigen Wunsch erfüllt, sich zu verinnerlichen . . . dabei von einer angeborenen Heiterkeit des Geistes, einer gewissen Neigung zu Spott und Gelassenheit, . . . durchdringend nur in seiner Ausdauer, immer nur ein Ziel bewußt oder unterbewußt zu verfolgen: sich in seinem Zusammenhang mit dem Außer-Ihm zu erkennen."

1895 veröffentlicht Morgenstern sein erstes Buch: "In Phanta’s Schloß. Ein Cyklus humoristisch-phantastischer Dichtungen". Um den Lebensunterhalt zu sichern, erweist sich Morgenstern als ein vielseitig begabter literarischer Auftragsarbeiter: er verfasst Zeitschriftenartikel und Kabaretttexte, er ist als Dramaturg und Lektor tätig, er übersetzt für den S. Fischer Verlag Theaterstücke von Henrik Ibsen. Dazu lernt er Norwegisch, verbringt über ein Jahr in Ibsens Heimat und lernt den berühmten Autor persönlich kennen. Darüber vernachlässigt er seine eigene lyrische Produktion nicht ("Auf vielen Wegen", 1897, "Ich und die Welt", 1898, "Ein Sommer", 1900, "Und aber ründet sich ein Kranz", 1902).

1905 offenbart sich Morgenstern auf seinem Weg zur Verinnerlichung eine entscheidende mystische Grunderkenntnis. "Und als er eines Abends wieder einmal das Evangelium nach Johannes aufschlug, glaubte er es zum ersten Male wirklich zu verstehen" (heißt es in seiner "Autobiographischen Notiz"); glaubte das Wort zu verstehen: "Ich und der Vater sind eins".

Morgenstern war in einen neuen Bewusstseinszustand eingetreten: "Natur und Mensch hatten sich ihm endgültig vergeistigt". Seine körperlichen Leiden verstärkten sich. Linderung brachte nur der Aufenthalt in Höhenluftkurorten. "So kam das Jahr 1908 - Da traf ich Dich, in ärgster Not, den Andern! / Mit Dir vereint, gewann ich frischen Mut. / Von neuem hob ich an, mit Dir, zu wandern, / und siehe da: Das Schicksal war uns gut. / Wir fanden einen Pfad, der klar und einsam / empor sich zog, bis, wo ein Tempel stand."

"Der Andre war Sie": Margareta Gosebruch von Liechtenstein, Tochter einer Generalswitwe, die seine Ehefrau und Gefährtin wird. "Der Pfad war der Weg anthroposophischer Erkenntnisse", vermittelt durch Rudolf Steiner, dessen begeisterter Jünger Morgenstern wird. Gemeinsam mit der nicht minder begeisterten Margareta folgte er Meister Steiner auf dessen Vortragsreisen durch Europa und suchte in die den modernen Materialismus verachtende Geisterwelt einzudringen, deren Geheimnisse nicht zu glauben, sondern auf rationale Weise zu erlangen sind. Unterwegs dorthin starb Christian Morgenstern am 31. März 1914 in Meran. "Ich bin aus Gott wie alles Sein geboren, / ich geh im Gott mit allem Mein zu sterben, / ich kehre heim, o Gott, als Dein zu leben."

So klingt Morgensterns letzte Lyrik. Wie anders tönte es am Anfang, im Prolog zu "Phanta’s Schloß": "Längst Gesagtes wieder sagen, / hab’ ich endlich gründlich satt. / Neue Sterne! Neues Wagen!"

Der Jüngling, zum Dichtersein entschlossen, bricht auf ins Sprachneuland, zu neuen Klängen, eignen Worten. Der Weg dorthin führt ihn querfeldein durch spätromantische Empfindungen, auf Schritt und Vers erblühen Lied und Lieb und Leid, erwachsen Rose, Traum und Wald, und drüber-hin spannt sich der unveraltende Himmel nebst Sonne, Mond und Sternen. Doch wird die aufgewärmte Poesiestimmung durch kecke Einfälle aufgelockert, aufgeheitert, wie in dem "Wolkenspiel": "Es ist, als hätte die Köchin / des großen Pan - . . . Eine Leibnymphe, / die ihm in Kratern / und Gletschertöpfen / köstliche Bissen brät / und ihm des Winters / Geysir-Pünsche / sorglich kredenzt? -/Als hätte diese Köchin / eine Schüssel mit Rotkohl / an die Messingwand / des Abendhimmels geschleudert."

Transformation des Malererbes.Auf Morgensterns lyrischer Palette mischen sich die Klangfarben zu frischen Reimpaaren: Honig - Wochenchronik, bald - Purzelwald, dunkler Punkt - Forstadjunkt, und so weiter - Blitzableiter.

Die Freude am Sprach-Spiel, die Lust an Sprach-Kritik, die tiefsinnig-schelmische Tendenz zur "Umwortung der Worte": diese Charakterelemente prägen Morgensterns Entwicklung hin zur Sehnsucht nach heiter-heiligem Existenzernst, zur "Verklärung und Mystifizierung des Lebens" (wie die Germanistin Daniela Strigl sagt), zur Lösung der Welträtsel und zur Erlösung von den Übeln der gesellschaftlichen Trivialität.

Hass auf Biedermeierei#

Nichts war Morgenstern verhasster als der plumpe, selbstgefällige Bürgersinn: "Dieser Grundhang, das Leben zu einer Biedermeierei zu erniedrigen, ist es, den ich unter der Bezeichnung bürgerlich überall aufspüre und verfolge." ("Tagebuch eines Mystikers").

Das hat Morgenstern in den beliebten Galgenliedern auch getan. Denn auch er war, wie einst der freiheitstrunkene Hölderlin, unter die Deutschen gekommen und hatte ihr eingeborenes Philisterwesen schmerzlich erkennen müssen. "Was seid Ihr im Grund doch für ein ernsthaftig Volk!" klageruft der Dichter in der Vorrede zu den Galgenliedern als ein "Lichtwar Gelasius", auf scheinbar bloß parodistische Weise. "Oh auf Euch methschwere Dokterer und Hängemäuler! Auf Euer vielnütz Spiel, das Ihr da in Euern Stadtgemäuern treibt voll Hastens und Hin- und Her-Jagens und Erraffens und Uebervortheilens, voll Heuchelns und Geldsackanbetens, und das alles ohne Freiheit im Geist, mit dem rechten Knechtsglauben an die Wichtigkeit und das So-sein-Müssen Eurer so genenneten Kultur!"

P.S. Hier noch ein typisches Morgenstern-Gedicht zum Einstieg in dessen Kosmos:

"Ein Hase sitzt auf einer Wiese,/ des Glaubens, niemand / sähe diese. / Doch, im Besitze eines Zeißes, / betrachtet voll gehaltnen/ Fleißes / vom vis-à-vis gelegnen Berg / ein Mensch den kleinen/ Löffelzwerg. / Ihn aber blickt hinwiederum / ein Gott von fern an, mild/ und stumm." ("Vice versa")

David Axmann, geboren 1947, ist Publizist, Buchautor und Nachlassverwalter von Friedrich Torberg; lebt in Wien und im Burgenland.

Information#

  • Christian Morgenstern: Gedichte. Hrsg. v. Reinhardt Habel. Insel Verlag, Frankfurt/M./Leipzig 2003, 956 Seiten, 19,40 Euro.
  • Christian Morgenstern: Alle Galgenlieder. Diogenes, Zürich 2014, 336 Seiten, 12,40 Euro.
  • Jochen Schimmang: Christian Morgenstern. Eine Biografie. Residenz, St. Pölten/Szbg./Wien 2013, 271 Seiten, 24,90 Euro.

Wiener Zeitung, Sa./So., 29./30. März 2014