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Grönland als Schauplatz eigener Projektionen#

Kim Leine schreibt mit „Ewigkeitsfjord“ einen umfangreichen Historienroman über ein Stück dänisch-grönländischer Kolonialgeschichte. #


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE (Donnerstag, 15. Mai 2014).

Von

Martin Zähringer


Grönland
Foto: Shutterxtock
Die Propheten vom Ewigkeitsfjord, der Fänger Habakuk und seine Frau Maria Magdalena, sind bis heute ein spannendes Thema. Magdalena hatte gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als Grönland schon 80 Jahre lang von Dänisch-Norwegern kolonisiert und christianisiert worden war, wiederholte Visionen von Jesus und gründete eine pietistische Sekte. Ihr Mann kommunizierte ihre Visionen als charismatischer Redner an eine wachsende Gemeinde von Grönländern. Zunächst eine kleine Gruppe, absentierten sie sich aus dem Einflussgebiet der dänischnorwegischen Missionare und der Kolonialherren und gründeten eine freie Gemeinde. Sie zogen zwar immer mehr Grönländer an, hielten aber an den Ufern des Ewigkeitsfjordes in Westgrönland nicht sehr lange durch.

Briefe der Propheten verbrannt #

Und doch sind sie bis heute Gegenstand einer echten Grönländer- Geschichte. Aus dem 19. Jahrhundert gibt es einen Bericht des Chronisten und Schriftstellers Aron von Kangeq (s. FURCHE Nr. 48/2013). Andere schriftliche Quellen sind rar, und die Briefe der Propheten und ihrer Anhänger, die einzigen Dokumente aus ihrer Hand, wurden – wie kolportiert wird – in einem kalten Winter zum Heizen verwendet. Das ist schon tragisch, denn die Grönländer, vor allem jene im Umfeld der Missionen – seien es die der dänischnorwegischen oder der konkurrierenden deutschherrnhutischen, schrieben gerne und viele Briefe.

Vielleicht tauchen sie ja doch einmal auf. Bis dahin haben wir Kim Leines Roman. Er gibt der Geschichte eine literarische Form à la moderetro, schreibt also einen Historienroman ganz im Horizont seiner Zeit. Das ist Ende des 18. Jahrhunderts, als Kopenhagen noch das Zentrum eines aufsteigenden Kolonialreiches war, Norwegen Teil dieses Reiches und Grönland eine Kolonie. Der norwegische Bauernsohn Morten wird der Held der Erzählung. Er studiert Theologie in Kopenhagen, wo er sich den Namen Morten Falck gibt und zieht später als Missionar in die Kolonial milieus Grönlands ein. Leine umgibt diesen Wahrheitssucher mit einem naturalistischen Setting, das man fast als Dirty Realism bezeichnen könnte, ein rabiater Stil, der nicht so recht zur geschilderten Zeit passen will. So erscheinen erotische Rollenspiele mit der Tochter des Druckermeisters irgendwie deplatziert, dass er das Eheversprechen nicht einhält, passt schon eher zu einer kolonialtypischen Fluchtexistenz.

Wir folgen dem jungen Pfarrer schließlich nach Grönland, wo er eine Missionarstellung antreten soll, und eine Geschichte voller körperlich-obszöner, liderlichverworfener und abgründiginzestiöser Erfahrungen erlebt. Man könnte an diesem die Geschichte gegen den Strich bürstenden Furor seine wahre und vielleicht sogar kathartische Freude haben, wenn nicht Kim Leine diesen Morten Falck und seine moribunde Aura in eine Tradition ein- schreiben würde, in der leider die Grönländer bis auf den heutigen Tag – und bis auf die heutigen Grönlandromane – als Projektion der Finsternis, des Verfalls und des Todes dienen müssen.

Grönland
Foto: Shutterxtock

So entwirft Leine also zunächst die Fiktion einer verrohten Kolonialherrengesellschaft, die nicht nur die hilflosen Eingeborenen ausbeutet, sondern auch sich selbst im Wege steht und ihre Frauen niederträchtig schikaniert. Die Frau des Handelsbevollmächtigten wird vom Schmied vergewaltigt, was jeder weiß, ihre Schwangerschaft von Morten, der auch etwas Medizin studierte, mittels Sprengstoff abgetrieben, was geheim bleibt. Als der Missionar eines Nachts auf dem Vorratsspeicher ihres Mannes Schnaps und Speck stehlen will, was mehrmals gutgegangen war, explodiert das Haus, er selbst fliegt weit durch die Luft und die arme Frau, sie war gerade auf dem Abtritt, erscheint über und über mit Kot beschmiert.

Antiästhetische Konzepte #

So weit so unappetitlich und frauenfeindlich. Um der Gerechtigkeit willen: wer wortreich-dicke Romane liebt und antiästhetische Konzepte verkraften kann, wird hier solide bedient. Es gibt auch relevante Aspekte in diesem Romanwerk, das die Dekadenz mit breitem Strich auspinselt. So nähert sich Kim Leine gezielt und schonungslos der schamhaft verschwiegenen Rolle der Missionare in der Kolonialgeschichte Grönlands. Der triebgesteuerte Satyr Oxbøll im Pfarrersgewand, der in der nördlichen Kolonie Sukkertoppen bis ins hohe Alter mehrere Generationen von tauf- oder konfirmationswilligen Mädchen schwängert, und deren Töchter dann auch, wird letztlich nicht etwa zu einer an den Pranger der Aufklärung gestellten Kolonialistenfigur, sondern zum grotesken Mythos eines Kulturkontaktes, dessen Ergebnis in der Tat eine gemischte Bevölkerung ist.

Nur dass diese gemischte Bevölkerung Grönlands sich selbst keineswegs in negativen Kategorien betrachtet. Die sind eher eine Angelegenheit dänischer Schuldkomplexe, die Kim Leine in der Tat mit aller Gewalt provoziert. Das ist gut gegen die herrschende Verlogenheit in Sachen Kolonialgeschichte, und dass Leine für den Roman die wichtigsten Preise erhalten hat, ist sogar ziemlich witzig. Aber es scheint, als ziele das Thema mehr auf die Skandale im Hier und Jetzt. So diskutiert Kim Leine in Dänemark offen die eigene Inzesterfahrung mit seinem Vater - nicht nur als Opfergeschichte, und sogleich verbreiten sich die dänischen Medien ausgiebig über dieses durchaus wichtige Familienthema. Aber von einem Anstoß für den politischen Diskurs über eine sinnvolle Aufbereitung historischer Sachverhalte – eben auch mittels Literatur - erkennt man nicht viel in der kritischen Rezeption.

Selbsterfahrungsdesaster #

Kim Leine lenkt auch vom derzeit zentralen Thema ab. Das ist die Identitätsgeschichte der Grönländer, in diesem Roman nur in teilweise unentschiedenen, teilweise überzeichneten Charakteren zum Ausdruck gebracht. Es dauert dann auch 200 Seiten, bis die „Propheten“ überhaupt erscheinen, und bevor man sich diesem Faszinosum nähern kann, ist man sehr, sehr lange mit Morten Falck und seinem Selbsterfahrungsdesaster beschäftigt. Kurz gesagt, dieser Morten Falck wiegt zu schwer in seinem existentiellen Habitus und die Grönländer wiegen zu leicht als Subjekte ihrer nach wie vor unbekannten Geschichte. Zwischen einer halbherzigen Parteinahme und zumeist unterbelichteten Nebenrollen – wobei eine empathische Einbeziehung ihrer kulturellen Traditionen und Lebenswirklichkeit fehlt, geraten sie, wenn nicht zur Karikatur ihrer selbst, so doch zu phantasmagorischen Hilfssubjekten des Autors und seiner Ego-Grafie.

Und so erscheint das, was Kim Leine hier präsentiert, nur als ein weiteres Momentum im arktischen Kolonialismus der symbolischen Tradition – einmal mehr wird Grönland zum Schauplatz „eigener“ Projektionen und Projekte. Mit grobem Pinsel malt der Romancier eine Romangeschichte, in der es aufgrund eines falschen Mischungsverhältnisses nicht wirklich um die „Propheten vom Ewigkeitsfjord“ geht, sondern um das quasi-therapeutische Ausagieren eines literarischen Subjekts norwegischer Herkunft: Im Mittelpunkt steht ein Alter Ego mit dem fiktiven Namen Morten Falck, eine literarische Maske, hinter der Kim Leine sich selbst nur schlecht verstecken kann.

Ewigkeitsfjord, Roman von Kim Leine

Ewigkeitsfjord.

Roman von Kim Leine,

Hanser 2014 640 S., geb., 25,60EUR

DIE FURCHE, Donnerstag, 15. Mai 2014