!!!Humor und Volksnähe

!!Der Wiener Schriftsteller und Journalist Eduard Pötzl feierte mit seinen Vorstadt-Typen "Nigerl" und "Gigerl" Buch- und Theatererfolge. Die konträren Charaktere spiegeln Wiens spannungsreiche Großstadtwerdung.

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''Mit freundlicher Genehmigung der [Wiener Zeitung|http://wienerzeitung.at], Samstag/Sonntag, 6./7. April 2013''


Von

__Peter Payer__

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[{Image src='Giger-Marsch.jpg' class='image_right' caption='"Gigerl-Marsch" von J. F. Wagner, 1891 (Partitur).\\Foto: © Sammlung Payer' width='300' alt='Partitur: Gigerl-Marsch' height='415'}]

Der Wiener Schriftsteller und Kulturjournalist [Eduard Pötzl|AEIOU/Pötzl,_Eduard] (1851-1914) war eine publizistische Autorität mit beachtlichem Wirkungskreis. Vier Jahrzehnte lang war er für das "Neue Wiener Tagblatt" tätig, die auflagenstärkste - und neben der "Neuen Freien Presse" - wichtigste Tageszeitung der Monarchie. In unzähligen Feuilletons, Reportagen und Lokalskizzen thematisierte er das Leben in der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt; ein enzyklopädischer Chronist des Wiener Alltags, dabei durchaus kritisch - und vor allem humorvoll.

Dass er zum bekanntesten Großstadtreporter der Zeit aufstieg, verdankte er nicht zuletzt seinen unterhaltsamen Schilderungen der Wiener Charaktere und Typen. Schon als Gerichtssaalberichterstatter, als solcher hatte Pötzl 1874 bei der Zeitung begonnen, stellte er seine genaue Beobachtungsgabe eindrucksvoll unter Beweis. Stilistisch gewandt, machte er sich als profunder Kenner der Vorstadtbevölkerung einen Namen. Später wechselte er in die Feuilletonredaktion, wo er die Nachfolge von Friedrich Schlögl antrat.

!Nigerls Besserwisserei

Von seiner politischen Ausrichtung her galt das "Neue Wiener Tagblatt" als deutschliberal, demokratisch, konservativ. Es war, so ein Zeitgenosse, die "Zeitung der Wiener Bürger". Genauer gesagt des Kleinbürgertums, im Unterschied zur großbürgerlich orientierten "Neuen Freien Presse". Für Eduard Pötzl jedenfalls ein publizistisches Milieu, in dem er sich voll entfalten konnte. Seine "Wiener Skizzen" passten ideal in das Feuilleton, wobei er die Palette der darin auftretenden Personen ab Mitte der 1880er Jahre um zwei neue Figuren bereicherte: Nigerl und Gigerl.

Der "Herr Nigerl" - oder auch "Herr von Nigerl", wie sein Erfinder ihn nobilitierend nannte - war eine einprägsame Erscheinung: Klein und rundlich, dem Essen und Trinken nicht abgeneigt, listige Äuglein, Schnurrbart und tiefe Bierstimme, gerne Pfeife rauchend und stets Halstuch und Hut tragend, wie es sich für ihn als vorstädtischen Hausbesitzer gehörte. Er fügte sich ein in die Tradition jener Wiener Typen, die für die Lokalskizze charakteristisch geworden waren, ähnlich Schlögls "Familie Grammerstädter" oder Vinzenz Chiavaccis "Frau Sopherl" und "Herr Adabei". Es war der Typ des Kleinbürgers und Spießers, den Pötzl als vergrößertes Ich geschaffen hatte.


Nigerls bevorzugte Aufenthaltsorte waren die Wirtshäuser seiner Umgebung. Dort saß er am Stammtisch gemeinsam mit seinen "Spezi", den drei Zechkumpanen Scheibenpflug-Karl, Kratinger-Ferdl und Plaimschauer-Pepi. Ausgiebig räsonierte dieser "Nigerl-Club" über einheimische Sitten und Mentalitäten, wobei Nigerl als Vorsitzender stets ungeschminkt seine Meinung kundtat, raunzend und besserwisserisch zwar, aber nie mundfaul - und immer unterhaltsam.

In unzähligen Skizzen ließ Pötzl den "g’scheidtesten Kerl von Wien" von seinen Erlebnissen berichten, von einem Ausflug zum Ringstraßenkorso gemeinsam mit seiner Frau Resi, vom Fiakerrennen im Prater, dem Volkssängerfest in Meidling, dem Besuch eines Fotografen-Ateliers am Kahlenberg oder gar einer Reise ins ferne Berlin. Letzteres war mehr als gewagt, denn eigentlich fühlte sich Nigerl in seiner Heimatstadt am wohlsten, getreu seinem Lebensmotto: "Da blei’ i do’ glei’ da, wo’s m’r besser g’fallt."

Es war eine unverkennbare Stammtischmentalität, die Nigerl auszeichnete. Renitent und misstrauisch allen Neuerungen gegenüber, war er dennoch liebevoll gezeichnet, weshalb sich das Publikum in ihm gerne wiedererkannte. Humor und Volksnähe waren die wichtigsten Garanten für den Erfolg, wozu ganz wesentlich auch der Wiener Dialekt gehörte, den Nigerl ausgiebig und gerne sprach.

[{Image src='Karikatur-Eduard-Pölzl.jpg' class='image_left' caption='E. Pötzl als Gigerl. Damenspende des "Concordia"-Balls. Karikatur von Theodor Zasche, 1897.Foto: Sammlung PayerE. Pötzl als Gigerl. Damenspende des "Concordia"-Balls. Karikatur von Theodor Zasche, 1897.\\Foto: © Sammlung Payer ' width='300' alt='Karikatur: E. Pötzl als Gigerl' height='390'}]

In der Zeitung war er erstmals im Jahr 1886 erschienen. 1889 und 1891 veröffentlichte Pötzl sodann Nigerl-Geschichten in Buchform. Und auch in seinen weiteren Buchveröffentlichungen waren Skizzen über Nigerl eingestreut, womit dieser eine Popularität erlangte, die sich gar in eigenen Musik- und Theaterstücken niederschlug.

Ähnliches trifft auf Pötzls zweite Kunstfigur zu, die zeitgleich mit Nigerl das Licht der Welt erblickte: der Gigerl. Mit ihm trat der Typ des Wiener Gecks in die Literatur ein, ein Snob und eitler Selbstdarsteller, mit ausgeprägtem Hang zur Übertreibung. Kurz: ein Wiener Verwandter des angelsächsischen Dandys. Die Bezeichnung Gigerl war eine originäre Wortschöpfung des Autors, entstanden als Pendant zu "Gagerl" (Einfaltspinsel).

Mit seinem "Novitätenhunger" war der Gigerl, so Pötzl, ein "Repräsentant einer aufs Äußerste gereizten Mode, welche in ihrer Tollheit fast täglich andere Sprünge macht". Häufig trug er einen zu kurzen oder zu langen Überzieher, darunter einen Anzug mit schrillem Hemd und sehr hohem Stehkragen wie einem eigenwillig aus der Brusttasche hervorlugenden Taschentuch. Die Füße steckten in extrem spitzen Schuhen; unabdingbare Accessoirs waren Hut, Monokel, Taschenuhr und Spazierstock. Ein von seinem Aussehen wie von seinen Bewegungen unübersehbarer Menschentyp: "Vornübergebeugten Hauptes, mit dem Portierstocke vor sich hertastend, zieht der Gigerl seine Straße. Er ist ein Fersengeher, denn es fehlen ihm die Absätze an den Schuhen. Matt und gelangweilt blickt sein Auge - er schmeichelt sich, blasiert zu sein."

!"Madame Gigerl"

Auch die Geschichten der Gigerln fanden ab 1888 Eingang in mehrere Bücher von Pötzl, der voll Stolz das ungeheure Echo darauf registrierte: "Weit über die Wiener Linien hinaus ist ihr Ruhm gedrungen, die kleinste Provinzstadt kennt sie bereits dem Namen nach, und sogar im deutschen Reiche spricht man von den Wiener Gigerln."

Mit dem Gigerl hatte Pötzl einen Nerv der Zeit getroffen. Rasant breitete sich die Figur in der Populärkultur aus, aufgespalten in unzählige Subtypen: Musikstücke persiflierten einen Alpen-, Donau-, Wasser-Gigerl und sogar eine Madame Gigerl. Vor allem der Gigerl-Marsch, 1891 vom renommierten Militär-Kapellmeister Joseph Franz Wagner komponiert, geriet zum durchschlagenden Erfolg. Er fand Eingang in Josef Wimmers kurz zuvor verfasstes Theaterstück "Die Gigerln von Wien". Spezielle Gigerl-Objekte kamen auf den Markt, von Kartenspielen, Bilderbüchern, Spazierstöcken bis zu Bleistiften. Natürlich kursierten auch Zeichnungen und Karikaturen, am bekanntesten jene von Hans Schließmann oder Theodor Zasche, beides langjährige Freunde von Pötzl.

Der hatte mit Nigerl und Gigerl zwei Repräsentanten geschaffen, die gleichsam antipodisch den gewaltigen mentalen und sozialen Umbruch verdeutlichten, der die Stadt seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erfasst hatte. Das Spannungsfeld der Großstadtwerdung Wiens fand in den beiden Figuren ihren sinnfälligen Ausdruck: Tradition versus Moderne, Alt- versus Neu-Wien, Kleinstadt- versus Großstadttyp, denn, so Pötzl: "Der Großstädter ist eingezogen, aber der Kleinstädter hat Wien noch nicht verlassen." Während Nigerl bevorzugt raunzend der vermeintlich guten alten Zeit nachtrauerte, war Gigerls Blick mit Neugier und Spannung der Zukunft zugewandt.

Zudem widerspiegelten die beiden konträren Figuren wohl auch Pötzls eigene, konservativ gefärbte Lebenseinstellung: Während Nigerl für ihn emotionale Heimat verkörperte und seine absolute Lieblingsfigur darstellte, war ein Typ wie Gigerl schlicht abstoßendes Feindbild. Nicht zufällig verunglimpfte Pötzl die von ihm scharf kritisierten Secessionisten als allzu modische Künstler - und unverbesserliche Gigerl.

Als Eduard Pötzl 1914 mit nur 63 Jahren starb, hochgeehrt und zum Ehrenbürger von Wien ernannt, versäumte es so gut wie kein Nachruf, seine bekannteste Tat, die Erschaffung von Nigerl und Gigerl, zu würdigen. Dennoch verblasste in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg der Ruhm der einst so stadtbekannten Figuren deutlich. Vor allem Nigerl erschien vielen als allzu verhaftet in der Vergangenheit, sein Humor galt als veraltet, sein Dialekt war schwer zu verstehen. Gigerl erlitt ein ähnliches Schicksal und verkam zu einer exotischen Figur der Jahrhundertwende. In den Anthologien von Pötzl-Texten, die seit der Zwischenkriegszeit immer wieder aufgelegt wurden, fehlten bezeichnenderweise die Nigerl- und Gigerl-Geschichten.

!Gigerls Nachruhm

In der NS-Zeit, als Elend und Krieg die Sehnsucht nach alten Zeiten weckten, feierte Gigerl auf der Theaterbühne ein glanzvolles Comeback. Der Wiener Operetten- und Schlagerkomponist Alexander Steinbrecher (1910-1982) reaktivierte Wimmers Volksstück "Die Gigerln von Wien". 1939 ergänzte er die Posse mit zahlreichen neuen Liedern und Texten - die zweite Karriere des Gigerl begann. Legendär etwa die Aufführung von 1953 mit Fritz Imhoff, Lotte Lang, Peter Alexander und Fritz Eckhart. 1965 folgte ein gleichnamiges Fernsehspiel unter der Regie von Wolfgang Glück, mit Stars wie Fritz Muliar, Hilde Sochor, Erni Mangold und Ernst Stankovski. Selbst in jüngster Zeit sorgen die "Gigerln von Wien" noch für beachtlichen Publikumserfolg, wie Aufführungen im Theater an der Josefstadt und in den Wiener Kammerspielen (2003) oder im Gloria Theater (2010) belegen.

So hat der Gigerl die Zeiten überlebt und sich schließlich ins Stadtbild eingeschrieben. Denn "Gigerl" heißt mittlerweile auch ein nobler Innenstadtheuriger. Stolz verweist man dort auf den berühmten Wiener, der nicht nur modebewusst, sondern auch ausgehfreudig gewesen sei. Und bei "Gigerl’s-Brettljause" lässt sich genussvoll der Zeilen aus der oben genannten Posse gedenken: "Gigerl sein, das ist fein, / Gigerl kann net’ jeder sein."

''__Peter Payer__, geb. 1962, Historiker und Stadtforscher, Bereichsleiter im Technischen Museum Wien. Hrsg. von "Eduard Pötzl: Großstadtbilder. Reportagen und Feuilletons, Wien um 1900" (Löcker Verlag, Wien 2012).''


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[Wiener Zeitung|http://wienerzeitung.at], Samstag/Sonntag, 6./7. April 2013
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