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Eine namenlose Sehnsucht#

Der Salzburger Schriftsteller Walter Kappacher legt ein lebenskluges "Reise"-Buch vor: Es führt nach Amerika wie auch in andere Zeit- und Seinszustände.#


Von der Wiener Zeitung (Freitag 17. Februar 2012) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Andreas Wirthensohn


Walter Kappacher
Walter Kappacher.
Foto: © Peter Landerl

Irgendwann ereilt der Drang vermutlich jeden, den einen früher, den anderen später: Dem Leben noch einmal eine ganz neue Richtung zu geben, endlich zu machen, was man schon ganz lange tun wollte und doch immer wieder auf später verschoben hat. Ein typischer Zeitpunkt für dieses Bedürfnis, das nicht selten als Krise erfahren wird, ist die Lebensmitte, ein anderer der Übergang vom Berufsleben in den Ruhestand.

Auch an Michael Wessely, unverheirateter Allgemeinarzt in Badgastein, zehrt eine "namenlose Sehnsucht", seit er seine Praxis aufgegeben hat: Ihn plagt die Vision von einem "neuen Leben". Besonders brennend ist dieser Wunsch, seit er in den USA war und dort den Nationalpark Canyonlands besucht hat, das titelgebende Land der roten Steine im "Vierländereck" der Bundesstaaten Arizona, Utah, Colorado und New Mexico. Diesen wüsten, im Grunde lebensfeindlichen Ort hatte er zusammen mit einem einheimischen Führer besucht, und dort "war ihm manchmal der Wunsch oder auch bloß der Gedanke an eine Heimkehr abhandengekommen" - eine Art Vorbote der letzten Reise, die ja ebenfalls keine Rückkehr erlaubt. Nun, da er wieder zurück ist im Salzburger Land - in seiner Abwesenheit sind sein Vater und sein engster Freund gestorben -, stellt sich die Frage umso dringlicher, wie aus der "vita breve" eine "vita beata" werden soll. Die Schilderung der Reise in die menschenleere Welt der jahrmillionenalten Gesteinsformationen bildet den Mittelteil des Buches, der gerahmt wird von der Zeit des Danach, in der Wessely versucht, aus dem in Amerika erfahrenen Gefühl, "hinübergezogen zu werden in andere Zeiten und Seinszustände", eine "vita nuova" erstehen zu lassen. Doch der pensionierte Arzt muss erfahren, dass Rilkes berühmtes Diktum, "Du mußt dein Leben ändern", nicht so einfach in die Realität umzusetzen ist.

"Es wäre dumm, von einer Reise zu erwarten, dass sie einen neuen Menschen aus einem machte, wie man es früher immer wieder einmal gehört hatte und wie er es sich auch in den Wochen vor dem Abflug vorgestellt hatte. Sobald man zurückgekehrt war, begann wieder der gewohnte Trott . . . Alles blieb beim Alten." Den großen Traum vom "big turnaround" muss Wessely begraben, und doch wirkt die Reise nach, anders freilich als gedacht.

Der Clou von Kappachers Buch - und zugleich seine Radikalität - liegt darin, dass die zum lebensverändernden Ereignis hochstilisierte Reise in erhabene Landschaften durch Versprachlichung quasi zerstört oder im Bernhard’schen Sinne "ausgelöscht" werden muss, um als "Unaussprechliches" schleichend weiterwirken zu können. "Abends hatte er die Mappe mit seinen Reiseaufzeichnungen wieder zur Hand genommen, hatte darin geblättert, da und dort einen Absatz gelesen, und auf einmal ging ihm durch den Kopf, wie er sich vor ein paar Tagen, als er zum Bahnhof spazierte, an den ersten Tag seiner Reise, an die magische Stunde im Land of Standing Rocks zu erinnern versucht hatte; wie die Erinnerung beinah verblasst war, als wäre es eine beliebige . . . Und fragte sich, ob er womöglich mit der Niederschrift seiner Reiseerinnerungen die Reise vernichtet habe?" Allenfalls "für die Dauer eines Wimpernschlags" fühlt er sich in die überwältigende Landschaft der Canyons versetzt, doch das Entscheidende daran ist, dass sich als Erfahrung der Reise zunehmend das zeitliche Davor und Danach aufzulösen beginnen.

Gleich zu Beginn des Romans, als Wessely auf der Brücke über dem Wasserfall von Badgastein innehält, "fuhr ihm im Kopf alles zusammen": die Erinnerungen an die Reise, an frühere USA-Reisen mit Elisabeth, der inzwischen verstorbenen Mutter der gemeinsamen Tochter Hanne, an den Freund Hans, an den Vater. "Jedes Mal, wenn er sich an die Reise erinnerte, gab es in seinem Kopf kein Nacheinander . . . Es war ja alles ein ungeheures Eins."

Die Kapitelüberschriften beschwören Dante, Seneca und Juan Carlos Onettis Roman "Das kurze Leben" herauf, doch die eigentliche Inspirationsquelle für Wessely wird zusehends der "Mystiker" Meister Eckhart. Seine Philosophie des "Lassens" erweist sich als die eigentlich lebensverändernde Kraft, und das zu erreichende Ziel, das Wessely sich für die verbleibenden Jahre seines Lebens setzt, formuliert ebenfalls der mittelalterliche Denker: "Ohne vor und ohne nach muss der Mensch stehen, der die höchste Wahrheit empfangen will."

Walter Kappacher, dem so lange unterschätzten Autor, der 2009 endlich mit dem Büchner-Preis die Ehre und Aufmerksamkeit bekam, die er längst verdient hatte, hat nach "Selina" und dem "Fliegenpalast" erneut ein unaufdringlich eindringliches, lebenskluges Buch vorgelegt - und wieder einen Schritt mehr getan in Richtung dessen, was "jenseits des sprachlich Erfassbaren" liegt.

"Etwas hatte sich ihm gezeigt, das doch Materie war, Gestein, Form und gleichzeitig etwas wie strahlende, rätselhafte Energie." Nicht anders als Wessely geht es dem Leser dieses Buches.

Walter Kappacher: Land der roten Steine. Roman. Hanser, München 2012, 159 Seiten, 18,40 Euro.

Wiener Zeitung, Freitag 17. Februar 2012