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Ohne Heimat, ohne Hemd#

Sebastian Schinnerls Roman „In hellen Nächten“#


Von der Wiener Zeitung (Freitag, 31. Oktober 2008) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Irene Prugger


Mit seinem Debut „Pluton oder Die letzte Reise ans Meer“ (2005) hat der Vorarlberger Autor Sebastian Schinnerl aufhorchen lassen. Nun untermauert er mit einem neuen Buch seine Qualität als aufstrebender Schriftsteller: Der Roman „In hellen Nächten“ wirft einen Spot auf die dunklen Geschäfte korrupter Dorfkaiser, die mit ihren Machenschaften sich selber bereichern und kleine Leute in den Ruin treiben. Enteignung, Erpressung und Nötigung stehen auf der Tagesordnung, getarnt durch gemeinnützige Projekte und abgesegnet durch das in seiner Brisanz von gutgläubigen Gemeindebürgern unterschätzte Schlagwort „Strukturwandel“. Politiker, Finanziers und Industriebauern ziehen dabei an einem Strang. Christian Stalder, Sohn eines Kleinbauern, hat gegen sie keine Chance, verliert den Halt, sein Zuhause und schließlich sein letztes Hemd; er flüchtet in ein einsames Ende. Klingt nach Heimatroman – und ist auch einer. Allerdings einer, der mit formaler Raffinesse wie sprachlicher Brillanz besticht und inhaltlich auf der Höhe der Zeit steht. Zwar stattet Schinnerl den Roman, der in seiner Wahlheimat Schweiz spielt, mit dem Personal einer ländlichen Soap aus: der Dorfdepp tritt ebenso auf wie der pädagogisch unfähige Dorflehrer oder die Dorfhure, die mit ihren Kunden nicht ganz so gern zur Sache kommt wie der wenig sympathische Dorfpfarrer mit seiner Geliebten; Städter und Neureiche, die sich am Land ein luxuriöses Domizil geschaffen haben, gelten als rücksichtslose Störenfriede. Aber Schinnerl hat das Spiel mit den Klischees gut im Griff: Er zeigt im Altbekannten überraschend Neues, formuliert es mit entwaffnend groteskem Humor und überzeugender Poesie. Der zweite Teil des Romans bringt nach einer übersinnlich angehauchten Szene die Wende von der krimiähnlichen Handlung mit allwissendem Erzähler zur Ich-Erzählung. Nun berichtet Christian Stalder über sein Leben und sein Abgleiten in die Drogensucht. Berührend schildert er seine Eltern, die sich sehr lieben, aber oft streiten, seine glückliche Kindheit und seine Schwierigkeiten mit dem Schulsystem. Als das Elternhaus ihm nicht mehr die erwartete Geborgenheit bieten kann, beginnt er unter dessen Enge zu leiden: „Bedrückend die präparierte Wildsau, der Gamskopf, die vier Rehgeweihe an der Stubenwand, und die Glasaugen waren so etwas von tot. Und der Geruch in diesem alten Haus! Vater schlich auf Socken mit seinem von einer lebenslänglichen Ängstlichkeit zerfurchten Gesicht unter einer gelben Fahrradmütze durch das Haus und betrachtete uns mit Scheu. Und auch Mutter war eine andere geworden. Sie, in ihren Schafwollkleidern, mit ihrer Vollwertkost, mit ihren alternativen Lebensformen.“ Schinnerl beherrscht die Kunst, eine tragische Handlung gleichzeitig ernsthaft und mit sarkastischem Humor zu schildern. Sein entlarvender Blick für menschliche Abgründe und Unzulänglichkeiten entschuldigt nichts, oft lässt er die Figuren brutal in der Misere hängen. Dass Stalder auch nach seinem Tod noch einmal ausführlich zu Wort kommt, unterstreicht nur die Tragik seines Schicksals.


Sebastian Schinnerl: In hellen Nächten. Roman.

Residenz Verlag, St. Pölten 2008, 330 Seiten, 22,– Euro

Wiener Zeitung, Freitag, 31. Oktober 2008