Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!
unbekannter Gast

"Partisan der Geistesfreiheit"#

Von den einen für einen "gefährlichen Marxisten" gehalten, sahen andere ihn ihm einen "schweren Reaktionär": Vor zehn Jahren starb der Philosoph und Weltanschauungsanalytiker Ernst Topitsch.#


Von der Wiener Zeitung, (Freitag, 25. Jänner 2013) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Karl Acham


Ernst Topitsch 1986
Ernst Topitsch bei einem Vortrag im Jahr 1986.
Foto: © Archiv Acham

Kaum ein österreichischer Geistes- und Sozialwissenschafter von hohem internationalem Rang erfuhr in der jüngeren Vergangenheit durch Vertreter verschiedener weltanschaulich-politischer Lager eine so negative Beurteilung wie der 1919 in Wien geborene und am 26. Jänner 2003 in Graz verstorbene Ernst Topitsch.

1957 verkündete der katholische Existenzphilosoph Gabriel Marcel bei den Alpbacher Hochschulwochen, es handle sich bei Topitsch um einen "sehr gefährlichen" Marxisten; 1959 erschien in den "Voprosy filosofii", der führenden philosophischen Zeitschrift der Sowjetunion, ein Angriff auf ihn unter dem Titel "Der feige Nihilismus der heroischen Positivisten"; knapp zehn Jahre danach hielten ihn Vertreter und Mentoren der sogenannten Studentenrevolte für "reaktionär" und einen Lakaien des Spätkapitalismus; schließlich fand er auch noch Eingang ins österreichische "Handbuch Rechtsextremismus 1993". Es waren wohl auch solche Blockwarte der geistigen Observanz, die ihm nicht nur zuwider, sondern auch so zugetan waren, dass er 1995, im Zusammenhang mit den Brief- und Rohrbombenattentaten der später als Franz Fuchs enttarnten "Bajuwarischen Befreiuungsarmee", eine polizeiliche Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen musste.

Auf Weber-Lehrstuhl#

Topitsch studierte seit 1937 die Fächer Klassische Philologie, Philosophie und Geschichte an der Universität Wien, leistete von 1939 bis 1945 den Kriegsdienst und verbrachte kurze Zeit in Kriegsgefangenschaft, ehe er 1946 promovierte. 1951 habilitierte er sich, verbrachte das Studienjahr 1953/54 als Forschungsstipendiat an der Harvard University und erhielt im Jahr 1956 den Titel eines Ao. Professors verliehen. In dem in den späten 1950er Jahren zunehmend verkrusteten Milieu der Wiener Universitätsphilosophie haftete ihm der Geruch eines Linken an, zumal er damals auch Kontakte zu polnischen Gelehrten unterhielt - dass Stanislaw Ossowski und Leszek Kolakowski nie bzw. nicht mehr Parteigänger des Marxismus waren, spielte dabei keine Rolle.

Im Jahre 1962 wurde der mittlerweile bereits international bekannte Gelehrte auf den Max-Weber-Lehrstuhl für Soziologie an die Universität Heidelberg berufen. Als dort die Krawalle der Studenten intensiver, Politik und Universitätsverwaltung aber diesen gegenüber immer permissiver wurden, folgte Topitsch 1969 einem Ruf an das Grazer Philosophische Institut. Hier emeritierte er im Jahr 1989.

Von prägender Wirkung waren für Topitsch nach eigenem Bekunden insbesondere das Schrifttum und die geistige Haltung von Thukydides, David Hume, Vilfredo Pareto und Max Weber, unter den Gelehrten aus jüngerer Zeit insbesondere das von Heinrich Gomperz, August Maria Knoll, Victor Kraft und Hans Kelsen, dessen Aufsätze zur Ideologiekritik er edierte (1964, 1989). Wegweisend war für ihn auch das Studium von Sigmund Freuds Analysen von Kultur und Religion sowie die Beschäftigung sowohl mit dem Logischen Empirismus und damit verwandten Orientierungen (neben V. Kraft v.a. Philipp Frank, Carl Gustav Hempel, Karl R. Popper, Hans Albert), als auch mit der genetischen Erkenntnistheorie von Konrad Lorenz.

Nah am "Wiener Kreis"#

Die Breite von Topitschs Interessen spiegeln seine 14 Bücher und rund 150 Aufsätze wider, besonders eindrücklich die Sammlung "Studien zur Weltanschauungsanalyse" (1996). Er selbst hielt die letzte Version seines Buches "Erkenntnis und Illusion" (1988) für seine bedeutsamste Publikation; für andere liegen seine Stärken eher in der Sozialphilosophie (siehe "Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft", 1971) und Ideologiekritik ("Gottwerdung und Revolution", 1973).

Die Arbeiten der frühen 1950er Jahre über das Naturrecht und den Historismus verstricken Topitsch sogleich in heftige Diskussionen, wobei er sich einerseits als ein Nachfahre der Naturrechtskritiker von Adolf Menzel über Kelsen bis Knoll erwies, andererseits als Adept der Sprachphilosophie aus dem Umfeld des "Wiener Kreises". So bedienen sich, wie Topitsch in seinem berühmten Aufsatz "Über Leerformeln" (1960) etwa am Beispiel der Begriffe "Dialektik" oder "Ganzheit" zeigt, mehrere einander bekämpfende Gruppen sogar der gleichen Prestigewörter, welchen dann oft, gemeinsam mit pseudotheoretischen Erklärungen, eine bedeutende Rolle im politischen Leben zukommt. Das begrifflich und theoretisch vielfach unbestimmte Schrifttum von Hegel wird dabei von ihm gleichermaßen kritisch in Betracht gezogen wie einige hochgradig alerte Wendungen bei Karl Marx, Ernst Bloch, Jürgen Habermas und Carl Schmitt, welcher sich, ebenso wie Habermas, seinerseits mit Topitsch auseinandersetzte.

In seinem Frühwerk war Topitsch bestrebt, Grundmotive von Weltanschauungen aus den sozialen Strukturen und Aktivitäten sowie den Produkten handwerklich-künstlerischer Tätigkeit zu erklären. In einer meist unbewussten Merkmalsübertragung werde die Welt "soziomorph", "technomorph" oder "biomorph" gedeutet. Hier komme auch der Vorgang von Projektion und Retrojektion ins Spiel, wenn etwa der Kosmos soziomorph als ein von einem Herrschergott regierter Staat verstanden wird und in Rückbeziehung dieser Projektion dann der menschliche Staat als Abbild dieses sozio-kosmischen Urbildes gilt ("Vom Ursprung und Ende der Metaphysik", 1958).

In seinen späteren Schriften ging es Topitsch vornehmlich darum zu zeigen, wie die für unser Erleben wesentlichen Teilfunktionen der Informationsvermittlung, Handlungssteuerung und emotionalen Wirkung im "plurifunktionalen Führungssystem" des ursprünglich mythisch-religiösen Weltverständnisses weitgehend ungeschieden sind, wie aber nach und nach die Verselbständigung der Verstandesfunktionen zur Erosion der Geltungsansprüche jener Weltauffassung führt. An deren Stelle treten dann vor allem weltliche Ersatzbildungen in der Politik. Als totalitäre Ideologien haben diese im 20. Jahrhundert - ganz nach Art der Unterscheidung der Menschheit in Gläubige und Heiden - eine Zweiteilung in politische Gesinnungsgenossen und Gegner befürwortet. Sie sind in ihrem Antagonismus das funktionelle Äquivalent der beiden großen christlichen Lager in der Zeit des konfessionellen Bürgerkriegs. Hier liegt der Grund für jenes spannungsreiche Verhältnis von "Macht und Moral", womit bis zuletzt Topitschs ideologiekritisches Interesse verbunden blieb.

Gegen Heilslehren#

Sah sich Topitsch zu Beginn seines Wirkens wegen seiner Analysen des unter zumeist gleichlautenden Begriffen und Maximen sich vollziehenden Wandels sogenannter ewiger Werte der Kritik von Seiten katholischer Philosophen ausgesetzt, so haben die gegen ihn gerichteten Attacken von marxistischen Autoren darin ihren Grund, dass er zwar die Fruchtbarkeit gewisser Formen einer sozioökonomischen Analyse des politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Geschehens im Sinne von Marx anerkannte, den historischen Materialismus als Heilslehre und Herrschaftsideologie aber stets ablehnte.

Später haben zwei andere Themenkomplexe Topitsch Feindschaft eingetragen: zunächst seine angeblich "reaktionäre", weil gegen eine parteiische "wertende Wissenschaft" gerichtete Kritik an den Universitäten der 1960er Jahre ("Die Freiheit der Wissenschaft und der politische Auftrag der Universität", 1969), die er drei Jahrzehnte später auch auf gewisse Formen einer libertären Wissenschaftsökonomie ausdehnte; danach seine Ausführungen zur Überlagerung der historischen Kausalanalyse durch einen die Sache verschleiernden Moralismus in seinem Buch "Stalins Krieg" (1985, 1998), die statt ernsthafter Diskussion oft nur höhnische und auch hasserfüllte Reaktionen zur Folge hatten. Ihn, der sich - nur halb im Spaß - als "Partisan der Geistesfreiheit" bezeichnete, hat das nicht überrascht.

In dem kontrovers beurteilten, die Vorgeschichte des deutsch-sowjetischen Krieges thematisierenden und in Übersetzung auch in England, den USA und Polen erschienenen Buch will Topitsch darlegen, dass es sich im Jahr 1941 um einen Zusammenprall zweier Stoßrichtungen totalitärer Eroberungspolitik handelte, wobei der eine Aggressor dem anderen um eine nicht sehr große Zeitdifferenz zuvorgekommen ist.

Diese Darstellung der Sachlage kommt in den Augen bestimmter Vertreter der Zeitgeschichtsforschung geradezu einem Sakrileg gleich. Bekämpft wird dieser Verstoß gegen den "historischen Grundkonsens" zumeist unter Hinweis auf die von Topitsch nie bestrittene Tatsache, dass doch Hitler gegenüber der Sowjetunion schon seit langem kriegerische Absichten gehegt hatte.

Nach "Stalins Krieg" hatte Topitsch einen Teil seiner gewohnten Publikationsorgane und damit seines "Resonanzbodens" verloren; es offerierten sich neue, und nicht immer die besten. Doch Berührungsängste und Diskussionsverweigerung, selbst gegenüber weltanschaulich Abweichendem, waren nicht seine Sache - Fraternisierung allerdings auch nicht. Und untreu wurde er sich nie.

Sprachliche Eleganz#

Topitschs Analysen der menschlichen Weltauffassung zeichnet eine originäre Verbindung von philosophischer Ideengeschichte, Wissenssoziologie und Erkenntnislogik aus, aber auch eine in der Wissenschaft selten gewordene, mit Klarheit verbundene sprachliche Eleganz. Ganz allgemein war es sein Sinn für Psychologie, für Betrug und Selbsttäuschung, der den an Thukydides und Max Weber Geschulten für viele zum Desillusionisten machte. Diese Kennzeichnung ist zutreffend, aber nicht zureichend.

Denn es ist nicht zu übersehen, dass Topitsch in seiner Ideologiekritik stets Grenzen der Beliebigkeit im Handeln und im Denken anerkannte, damit aber auch bestimmte Werthaltungen voraussetzte. So trat er politischem Zwang, Rassen- und Klassenwahn, aber auch ökonomischer Ausbeutung stets mit Nachdruck entgegen und maß dem Handlungsprinzip des reziproken Altruismus große Bedeutung bei.

Folgerichtig sah es dieser Weltanschauungsanalytiker als eine Sache der intellektuellen Redlichkeit an, "die Illusionisten aufzuklären, die Hypokriten zu entlarven, die präsumptiven Opfer zu warnen und so die Freiheit zu schützen".


Karl Acham, seit 2008 emeritiert, lehrte Soziologie u. Philosophie a. d. Univ. Graz; zahlreiche Gastprofessuren im Ausland; Träger d. Österr. Ehrenzeichens für Wissenschaft und Kunst.


Wiener Zeitung, Samstag/Sonntag, 3./4. September 2011