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Sensibel und witzig#


Von der Wiener Zeitung (Samstag, 24. Mai 2008), freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

David Axmann


Hans Weigel, am 29. Mai 1908 in Wien geboren, war einer der vielseitigsten Schriftsteller seines Heimatlandes im 20. Jahrhundert – und einer der allerösterreichischten dazu. Hans Weigel zum Gedenken, erster Einstieg. Im Vorwort zu "Flucht vor der Größe" (1970), einem Schlüsselwerk dieses vielseitigen Autors, das den Fluchtgefährten Schubert, Raimund, Nestroy, Grillparzer, Stifter und Johann Strauß im Untertitel "Sechs Variationen über die Vollendung im Unvollendeten" immerhin ein tröstliches Ende verheißt, in diesem Vorwort also berichtet Weigel eine aufschlussreiche biographische Episode.

Als Fremdenführer einer intelligenten Dame aus England, die er "intellektuell zu betreuen" und sie "über alles, was Wien betrifft, zu informieren hatte" , stellte er sehr bald fest: "aus meinen improvisierten Darlegungen über Nestroy, Raimund, Grillparzer, Hofmannsthal, Karl Kraus und etliche Lebende ergab sich mir sehr überraschend ein allen Gemeinsames . . .: ‚österreichisches Schicksal‘, im Nicht-Erkanntwerden bestehend, im Missverstandenwerden und Sich-Missverstehen, Größe auf der Flucht vor sich selbst."

Das waren Zeiten!#

Nun, seinem Schicksal kann man bekanntlich nicht entrinnen. Ebenso wenig wie sich Weigels Österreich-Bild dessen Definition zu entziehen vermochte, dass das Wesen dieses Landes "in seiner spannungsreichen Undefinierbarkeit" begründet sei; so etwas kann natürlich nur ein überzeugter Österreicher behaupten, und ein solcher war Hans Weigel ganz zweifellos.

Hans Weigel zum Gedenken, zweiter Einstieg. "Im Namen der Republik! Die Beschuldigte Käthe Dorsch-Liedtke, geb. am 29. Dezember 1890 in Neumarkt in der Oberpfalz, Schauspielerin, dzt. wohnhaft in Wien I, Friedrich-Schmidt-Platz Nr. 4, ist schuldig, am 13. April 1956 in Wien I, Ecke Volksgartenstraße und Museumsstraße öffentlich und vor mehreren Leuten den Privatankläger Hans Weigel 1. durch zwei Ohrfeigen tätlich misshandelt und 2. durch die Äußerungen ’Dreckkerl’ und ‚Dreckfink’ ohne Anführung bestimmter Tatsachen verächtlicher Eigenschaften und Gesinnungen geziehen zu haben."

Das waren Zeiten! Eine prominente Schauspielerin, erbost über eine Theaterkritik, attackiert deren prominenten Verfasser; und als der fünf Jahre später ein Buch mit gesammelten Theaterkritiken veröffentlicht ("Tausendundeine Premiere"), setzt er diesem das oben zitierte Gerichtsurteil "statt einer autobiographischen Einleitung" voran.

Das waren Zeiten. Damals nämlich gab es noch Theaterkritiker vom Schlage eines Weigel oder Torberg, die diese Berufsbezeichnung tatsächlich verdienten, und deren Kritiken es folglich verdienten, in Buchform ediert zu werden (welche übrigens heute noch mit Genuss und Gewinn zu lesen sind). Damals gab es hierzulande mit Weigel und Torberg also noch wirkliche Theaterkritiker, die nicht nur ihre Metier beherrschten, sondern sich außerdem mit den diffizilen Problemen deutscher Shakespeare-Übersetzungen ebenso gründlich auseinandersetzten wie mit jenen westlichen Sympathisanten des totalitären Kommunismus, welche den alten Bert Brecht vor ihren Propagandakarren spannten.

Kaffeehausliteratur#

Hans Weigel zum Gedenken, dritter Einstieg. "Kaffee ist im Kaffeehaus" , sagte unser Jubilar, "nicht Zweck, sondern Mittel .. . im Kaffeehaus ist das Haus tausendmal wichtiger als der Kaffee". Das traf in vorbildlicher Weise etwa auf das vis-à-vis dem Volkstheater gelegene Wiener "Café Raimund" zu, wo Weigel nach 1945 seinen Stammtisch hatte und wo er mit jungen Autoren zusammenkam. Denn Weigel bemühte sich in den Nachkriegsjahren so intensiv wie erfolgreich darum, die junge österreichische Literatur zu fördern: Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Milo Dor, Jeannie Ebner, Herbert Eisenreich, Reinhard Federmann, Gerhard Fritsch, Marlen Haushofer, Hertha Kräftner, Friederike Mayröcker u.v.a. sind von Weigel mit Rat und Tat unterstützt worden, zum Beispiel in der von ihm herausgegebenen Anthologienreihe "Stimmen der Gegenwart" (1951 –1954).

Wir könnten, Hans Weigel zum Gedenken, mit Leichtigkeit ein Dutzend weiterer Einstiege in seine Biographie finden. Denn er war, nehmt alles nur in allem, ein vielseitiger, vielbeschäftigter, allzeit prinzipientreuer, witziger und sensibler österreichischer Schriftsteller. Und noch mehr.

Auf die Frage "Wer war Hans Weigel?" anwortet seine Witwe Elfriede Ott so: "Alles. Literat, Prophet, Liebender des Theaters, der Musik, des Kabaretts, der Schauspieler die gut waren, der jungen Literaten, des Fußballs, der Musiker, der Komponisten, und vor allem Österreichs." Und wie war Hans Weigel? " Übertrieben in Zuneigungen und Abneigungen, sehend mit schwachen Augen, als Theaterkritiker gefürchtet und anerkannt, liebevoll und streng. Von vielen abgelehnt und doch geachtet, mit offenen Armen und introvertiert, schweigsam und redegewandt, anbetend und ablehnend und vor allem großherzig."

Weigels Werkverzeichnis umfasst mehr als drei Dutzend Buchtitel, dazu kommen unzählige Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften, für Bühne, Rundfunk und Fernsehen. "Ich betreibe", pflegte der alte Weigel zu sagen, "eine gut gehende Schriftstellerei" , damit nicht nur seine Produktionsverhältnisse bezeichnend, sondern auch sein Selbstverständnis als (qualifizierter und respektierter) literarischer Handwerker.

Begonnen hat diese literarische Lebensgeschichte so. Hans Weigel wird am 29. Mai 1908 in Wien geboren. Nach der Volksschule besucht er das Akademische Gymnasium und maturiert 1926. Danach studiert er drei Semester Jus in Deutschland, kehrt 1928 nach Wien zurück und ist in den dreißiger Jahren als Verfasser von Chansons, Gedichten und Sketches fürs Kabarett tätig ("Lieber Augustin", "Stachelbeere", "Literatur am Naschmarkt").

"Gebundene Hände"#

Außerdem schreibt er Gesangstexte für musikalische Lustspiele und Operetten, vor allem fürs Theater an der Wien. Auch für die dort aufgeführte Ralph Benatzky-Operette "Axel an der Himmelstür", mit dem von Zarah Leander gesungenen Schmachtfetzen "Gebundene Hände / Das ist das Ende / Jeder verliebten Passion".

Eines Abends kam Weigel mit Freunden (die Anekdote ist in Torbergs "Die Erben der Tante Jolesch" verbucht) in ein Nachtcafé. Kaum hatten sie sich niedergelassen, intonierte der Pianist die "Gebundenen Hände", und als er vom Oberkellner eiligst informiert wurde, dass sich der Textautor dieses Ohrwurms persönlich im Lokal befände, intonierte der aufgeregte, wackere Musiker eben diesen immer wieder. In einer Pause schließlich trat er in devoter Erwartung mit seinem Gästebuch an Weigels Tisch und bat um eine Eintragung. Weigel schrieb: "Gebundene Hände – dies wünscht Ihnen Hans Weigel." Sensibel und witzig.

Nach dem "Anschluss" 1938 muss der Jude Weigel, der vor und nach Hitler "nur ein Österreicher und sonst nix" sein wollte, in die Schweiz flüchten; den Großteil seiner Emigrationszeit verbringt er in Basel. Schon im Mai 1945 kehrt er nach Wien zurück, findet sich hier rasch und überraschend problemlos wieder zurecht, befindet sich in einer sehr schöpferischen Stimmung, veröffentlicht Romane ("Der grüne Stern", 1946, "Unvollendete Symphonie", 1951) und Theaterstücke ("Barabbas", 1946, "Angelica", "Die Erde", beide 1948), die allerdings (nicht zu Unrecht) wenig Erfolg haben, etabliert sich als Theaterkritiker und Literaturförderer.

Später tritt Weigel vornehmlich als Feuilletonist und Essayist in Erscheinung, vor allem auf den Gebieten Musik ("Das kleine Walzerbuch", 1965, "Das Buch der Wiener Philharmoniker", 1967, "Apropos Musik", 1982), Literatur (Monographien über Nestroy, 1967, und Karl Kraus, 1968), Austriakisches ("Das tausendjährige Kind – Kritische Versuche eines heimlichen Patrioten zur Beantwortung der Frage nach Österreich", 1965) und auf dem Gebiet "Heiteres Allerlei" ("Kleiner Knigge für Unpünktliche", 1957, "Blödeln für Anfänger", 1963, "Tirol für Anfänger", "Man kann nicht ruhig darüber reden", 1986, "Die tausend Todsünden", 1988, "Das Scheuklappensyndrom", 1990). Darüber hinaus bearbeitet Weigel Nestroy-Stücke, verfasst neue Zusatzstrophen und Quodlibets, und übersetzt (für den Diogenes Verlag) Molières Komödien in ein zeitgemäßes, korrektes Deutsch.

Apropos zeitgemäßes, korrektes Deutsch. Seine Muttersprache lag Hans Weigel zeitlebens (er starb 1991) am Herzen. Für sie trat er energisch auf und ein – und gegen jene, die sie verderben: allen voran "der geschriebene Journalismus und der gesprochene des Radios und des Fernsehens". Mehr als drei Jahrzehnte vor dem deutschen Sprachlehrer Bastian Sick, der es sogar zum Bestsellerautor brachte, hat Weigel ein besseres, klügeres und vergnüglicheres Buch zu diesem Thema geschrieben, das heute freilich nahezu unbekannt ist – ein österreichisches Schicksal. "Der unbekannte Erfinder, dem wir kreativ verdanken, war nicht sehr schöpferisch", heißt es in dem sogenannten "Antiwörterbuch" "Die Leiden der jungen Wörter" (1974), welches neben vielen abschreckenden und lehrreichen Beispielen auch diese beiden enthält: "Was findet der Computer in der Wissenschaft? Anwendung." – "Was forderte die Revolte? Drei Todesopfer."

Sensibel und witzig, ja, das war Hans Weigel, wie auch sein "Antilesebuch" "Götterfunken mit Fehlzündung" (1971) belegt. Ein abschließendes Exempel: Aus Rainer Maria Rilkes "Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke": "Das war ein Wellenschlagen in den Sälen, ein Sich-Begegnen und Sich-Erwählen, ein Abschiednehmen und ein Wiederfinden, ein Glanzgenießen und ein Lichterblinden und ein Sich-Wiegen in den Sommerwinden, die in den Kleidern warmer Frauen sind."

Dazu bemerkt Weigel: "Ich hoffe: die Mehrzahl der Blume namens ‚Winde’ ist gemeint."

Wiener Zeitung, Samstag, 24. Mai 2008