Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!
unbekannter Gast

Ehrgeiziger Mann aus Stratford#

Mr. Shakespeare war (nicht) William Shakespeare: Die "Wiener Zeitung" stellt die widerstreitenden Positionen der Autorendebatte vor.#


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung (Mittwoch, 15. Jänner 2014)

Von

Petra Paterno


William Shakespeare
Vor 450 Jahren, am 26. April 1564, wurde in Stratford-upon-Avon William Shakespeare getauft. Die Spekulationen um seine Identität sind einzigartig in der Weltliteratur.
© Newsteam/Action Press/picturedesk.com

Wer war Shakespeare? Seit Jahrhunderten treibt diese Frage Philologen und Rätselfreunde um. Die Frage nach seiner Autorenschaft wird mit anhaltender Verve geführt, als wäre es eines der letzten Rätsel der Menschheit. Erste Zweifel tauchten bereits zu Shakespeares Lebzeiten auf, im Geniekult des ausgehenden 19. Jahrhunderts erlebte die Diskussion einen aberwitzigen Höhepunkt, mehr als 50 mögliche Autoren kursierten damals. Gegenwärtig wird die zunehmend esoterisch anmutende Debatte überwiegend von Autoren außerhalb akademischer Institutionen gepflegt. Innerhalb der Forschung hat sich mittlerweile die Meinung durchgesetzt, dass Shakespeares Identität fraglos ist.

Pro Shakespeare: Der Dichter ist eine ideale Projektionsfläche für Verschwörungstheorien.#

Wäre Shakespeare, wie gern behauptet wird, tatsächlich nur ein Strohmann für einen anderen gewesen, müsste es sich um eine Verschwörung von gigantischem Ausmaß gehandelt haben.

Nicht nur der Namensgeber, auch einige Kollegen am Theater sowie die Herausgeber seiner Werke mussten zumindest bis zu einem gewissen Grad eingeweiht gewesen sein; zudem könnten Freunde des "echten" Dichters etwas geahnt haben. Bei so vielen Mitwissern ist es mehr als erstaunlich, dass über die Jahrhunderte hinweg nichts durchgesickert ist - bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich die ersten selbst ernannten Detektive der Sache annahmen.

Die Identitäts-Debatte beruht freilich auf einem Dilemma: Ein Werk, das auf einen außerordentlich gebildeten und gewandten Renaissance-Geist schließen lässt, soll ausgerechnet ein Provinzler von einfacher Herkunft und geringer Schulbildung verfasst haben?

Daher kam die Idee auf, dass Shakespeare in Wahrheit ein Adeliger gewesen sein muss, der unter falschem Namen publizieren musste, weil das Theater zu jener Zeit einen üblen Leumund hatte. William Stanley, Earl of Derby, Roger Manners, Earl of Ruthland oder Edward de Vere, Earl of Oxford kamen so ins Gespräch. Ein gravierender Makel der Adels-Theorie: Einige der bedeutendsten Stücke entstanden mit hoher Wahrscheinlichkeit erst nach dem Ableben der Genannten. Zudem treten in den Stücken von Mr. S. sämtliche Royals auf, als wären sie in einem bürgerlichen Haushalt. Es scheint nicht plausibel, dass der Dichter die dramaturgischen Möglichkeiten der Etikette eines Königshauses ausgelassen hätte, wäre er damit vertraut gewesen. Zudem: Warum verfasste Mr. Anonymous auch die Sonette in Shakespeares Namen?

Literarische Forensik#

In der jüngeren Forschung hat sich eine Art literarische Forensik etabliert. Dabei wird das gescannte Gesamtwerk von Computerprogrammen auf gewisse Parameter wie Wortwahl, Redewendungen, Satzkonstruktionen abgetastet. Mit dieser Methode wurde ausgeschlossen, dass das Werk von mehreren oder den mutmaßlichen Alternativ-Autoren stammt.

Ein Gutes haben die Anti-Stratfordianer dennoch: Dank ihrer Zweifel wurde das elisabethanische Theater gründlich erforscht. Es wurde nachgewiesen, dass Shakespeare durchaus über Lateinkenntnisse verfügt hatte - damit stand ihm das damalige Weltwissen zur Verfügung. Auch Ben Jonson oder Christopher Marlowe, bekannte Vertreter des elisabethanischen Dramas, stammten aus einfachen Verhältnissen. Es scheint, als ob die seinerzeit boomende Londoner Theaterszene talentierten und ehrgeizigen Schauspielern eben ideale Rahmenbedingungen geboten hat, um sich als Autor und hart arbeitender Unternehmer zu behaupten.

Contra: Mr. Shakspeare war nicht William Shakespeare#

Kein einziger Anti-Stratfordianer behauptet, dass Shakespeare nie existiert habe. Immerhin gibt es da ja das bewusste Testament. Nur erwähnt dieses mit keinem einzigen Wort irgendein dichterisches Werk des Verfassers. Sollten seine Erben keinen Nutzen aus den noch unveröffentlichten Stücken des Theatergiganten ziehen? Wie wahrscheinlich ist das? Trocken listet dieser Mr. "William Shakspeare" sein Hab und Gut auf. Nichts sonst. Keine Ausschmückung, keine Metapher.

Nichts gibt es, kein einziges Zeugnis dafür, aus dem hervorginge, dass der Testamentsautor namens Shakspeare identisch sei mit jenem Shakespeare, dem man Dramen wie "Ein Sommernachtstraum", "Hamlet", "Lear" oder "Macbeth" zubilligt. Es gibt mehr Beweise für Ufos als für die Autorenschaft Mr. Shakspeares. William Shakespeare kann eine Erfindung sein, ein Pseudonym.

Shakespeare
Shakespeare, wie er leibte und lebte: Edward de Vere, 17th Earl of Oxford.
© wikipedia

Wie wahrscheinlich ist das? Nun, wenn die These der orthodoxen Stratfordianer stimmt, kommt ein halbgebildeter Mann vom Land in die Großstadt, und nur das Einatmen der Londoner Luft macht ihm zum Genie. William Shakespeare, der kaum eine Unterschrift krakeln kann, erschnuppert sich Reim und Versmaß, erriecht sich englische Geschichte, atmet antike Mythologie ein. Die paar Bildungslücken in Sachen Geografie - geschenkt, damals musste man Kartenzeichner sein, um es besser zu wissen.

Vor allem erschnauft sich Shakespeare einen Wortschatz, so als würde ihm die Luft jedes gesprochene Wort zutragen: Er hat den größten Wortschatz aller englischsprachigen Autoren. Rund 29.000 Wörter sind es laut Harvard-Konkordanz. Die King James Bible verwendet 5000.

Das allein macht stutzig.

007 schreibt Dramen#

Mühelos stuft dieser Shakespeare die Sprachebenen ab, lässt Adelige vornehm in komplexen Alexandrinern parlieren, federleichte Wortgefechte austragen, wie sie am Hof von Königin Elizabeth I. ein beliebter Zeitvertreib waren, Diener Zoten schwätzen und kennt alle Abstufungen dazwischen. Die Londoner Luft hat das unbegreiflichste Sprachgenie aller Zeiten herangereift.

Welche anderen Möglichkeiten gäbe es? Christopher Marlowe, ein James Bond seiner Zeit, könnte als hauptberuflicher Geheimagent allen Grund gehabt haben, seinen Tod vorzutäuschen und unter Pseudonym weiterzuleben und weiterzudichten. Allerdings ist Marlowes Tod gut bezeugt - ohne Verschwörungstheorie ist da nichts zu wollen.

Edward de Vere, 17th Earl of Oxford, dichtete in seiner Jugend und hörte damit plötzlich auf. Falls er aufhörte und nicht unter dem Namen William Shakespeare Dramen schrieb, was für einen Adeligen unter Stand gewesen wäre. Aber die Sonette? - Nun, es war für einen Adeligen auch nicht opportun, homosexuelle Liebesgedichte zu schreiben. Warum nicht gleich alle eigene Dichtung der Kunstfigur William Shakespeare unterschieben? Vielleicht diesem jungen Kerl vom Land, der für Unterkunft und etwas Geld schon bereit ist, als Strohmann für alle künstlerischen Interessen des Herrn Earl zu dienen?

Und das Pochen darauf, dass einige Stücke Shakespeares nach de Veres Tod veröffentlicht wurden, richtet sich auch gegen Mr. Shakspeare aus Oxford: Auch er starb, ehe alle Shakespeare-Werke veröffentlicht waren.

Man darf aber die computergestützte Analyse nicht außer Acht lassen: Alle Werke stammen von einem Autor, gewiss. Was aber, wenn dieser eine Autor in Wahrheit ein Autorenteam war, federführend beteiligt daran Edward de Vere? Übrigens: Sonette zu beginnen und von einem anderen zu Ende führen zu lassen, war eine beliebte Sprachspielerei...

Wiener Zeitung, Mittwoch, 15. Jänner 2014