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unbekannter Gast

Von unendlicher Neugier#


Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der FURCHE (Juni 2010)


Von

Reinhard Deutsch


Sebestyén, György
György Sebestyén
© FURCHE / IMAGNO, Otto Breicha

Wäre er noch unter uns, er hätte dem vor wenigen Tagen über 90-jährig verstorbenen Franz Richter einen bewegten Nachruf nachgeschickt, den Lyriker und ewig-unermüdlichen Literaturarbeiter für andere verabschiedet; wäre er noch unter uns, er würde nicht nachlassen, Dichter vor dem Vergessen zu bewahren; wäre er noch unter uns, so würde seine niemals erlahmende Neugier junge Talente aufstöbern, ermutigen, fördern, mit sanftem Nachdruck zur Abgabe drängen, Unfertigem zur Form verhelfen; wäre er noch unter uns, so würde er uns in allen Winkeln und auf allen Boulevards des Literaturbetriebes begegnen, den er so sehr geliebt hat; wäre er noch unter uns, so würde er rastlos an verschiedenen Büchern gleichzeitig arbeiten, Symposien vorbereiten, Zeitschriften initiieren, Politiker überzeugen; wäre er noch unter uns, so würde er in funkelndem Witz und funkensprühendem Furor anschreiben, ansprechen gegen den Flachsinn literarischer Hypes und Eintagsfl iegen; wäre er unter uns – wir wären reicher. Doch wir sind ärmer, denn György Sebestyén ist nicht mehr unter uns, schon lange nicht mehr, viel zu lange. Vor 20 Jahren ist er gestorben, kaum sechzig Jahre alt, doch was hat er nicht alles in dieses Leben hineingepackt!

Dutzende Bücher, Theaterstücke, Drehbücher, zahllose Vor- und Nachworte, Zeitschriften- und Zeitungsaufsätze hat er geschrieben, hat als Kritiker und Kommentator, Dramaturg, Übersetzer und Herausgeber, als Redakteur und Regisseur gearbeitet, hat gearbeitet, gearbeitet. Hat die Pannonia ins Leben gerufen und den Morgen, hat das Feuilleton der FURCHE zur Blüte hochgerissen. Dieser Europäer aus Österreich, dieser Österreicher aus Ungarn, der im Jahr 1956 vielleicht um sein Leben, ganz sicher aber um die Freiheit seines Denkens laufen musste, hat nicht nur unermüdlich genetzwerkt, ehe es diesen Begriff als Qualitätszeichen gab, sondern vor allem verknüpft. Die Gescheiten mit den Blöden so lange, bis die Blöden gescheiter wurden; die Schlafenden so lange mit den Wachen, bis sie alle mitgerissen, hingerissen waren von der schöpferischen, erfinderischen Energie, von seinem unwiderstehlichen und zugleich niemals unsanften Glauben an die Machbarkeit des Geistvollen. Als György Sebestyén vor 20 Jahren starb, war dieser österreichische Homme de lettres aus Ungarn Präsident des P.E.N.-Clubs. Er war der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

"Für solche Bücher ist kein Platz."#

Gehen Sie einmal in eine gut sortierte Buchhandlung und verlangen Sie nach einem Buch von György Sebestyén. Verdienstvollerweise ist soeben der gar nicht zu überschätzende Roman „Thennberg“ wieder aufgelegt worden (s.u.). Das ist alles. Mehr gibt es nicht. Mehr ist nicht lieferbar, nicht greifbar. Unbegreifl ich. Also auf ins Antiquariat. Doch der Gang ins Wiener Antiquariat macht traurig. Im ersten, gut sortierten: „Leider, wir bedauern, nichts da …“ Im zweiten: Die junge Antiquarin kann mit dem Namen nichts anfangen, lässt ihn sich in den Computer buchstabieren … Immerhin, ein schmales Bändchen, dazu „Unterwegs im Burgenland“, die fulminante Hymne auf das Burgenland mit den Kumpf-Illustrationen; und eine englische Ausgabe gibt es auch noch … Im dritten ein entschiedenes Abwinken: „Sebestyén, ja natürlich – aber für solche Bücher haben wir leider nicht genug Platz ...“

Für solche Bücher haben wir leider nicht genug Platz. Es ist ein Skandal, es ist ein Verlust, es ist das grelle Licht auf eine Leerstelle. Der schon erwähnte Franz Richter, Zand, Eisenreich, Lebert, Weigel, Szabó, Vogel, immer wieder Drach und Saiko, Ebner, Edschmid, Fritsch, Robert Neumann, Alfred Neumann, Max Brod nicht als Kafka-Verwalter, Csokor, Lernet-Holenia – so viele klingende Namen, begrabene Bücher, mancher lebt und atmet noch, aber sein Werk ist verschüttet unter der Muräne der täglichen literarischen Wichtigtuerei. Aus den Biblio theken werden sie ausgesondert, fliegen raus, weil die Nachfrage zu gering ist, aber wer soll denn nachfragen, wenn sie gar nicht mehr da sind. Es ist der Teufelskreis des nicht marktgängigen, der Hochmut der Ignoranz, der Sieg der Dummheit.

Der studierte Ethnologe Sebestyén schrieb an gegen die Dummheit. Ließ ihm die literarische Arbeit Zeit, verfasste er nebenbei mit scheinbarer Leichtigkeit ein Maßstab setzendes österreichisches Weinbuch, ließ ihm die feuilletonistische Arbeit Raum, schuf er mit großer Leidenschaft literarisch Gültiges. „Die Sätze schreiben sich selbst“, wie Helmuth A. Niederle ihn zitiert, war der Ursprung eines großen, an allen Ecken und Kanten überbordenden Werkes. Sebestyén-Romane lesen sich so leicht – und so fallenreich: Ein Moment der Unaufmerksamkeit, und schon hat man eine Facette versäumt, wird erst später der sorgfältig und geduldig gewebten Textur gewahr, in der die Ungenauigkeit des Lesens zur Laufmasche führt. Atemlos verfolgt man in „Die Schule der Verführung“ die Oszillation erotischer und lebenshungriger Verpflichtung und Verbindung, sieht man zu, wie Verführung zur Verfühlung wird, erlebt man mit, wie unversehens die Idylle ins Tragische kippt. Aus Sebestyéns Texten blinken Spiegel auf, die dem Betrachter seine eigene Unzulänglichkeit und moralische Fragilität entgegenzuhalten vermögen. Wer den Stein wirft, riskiert den Abpraller an die eigene Stirn, den Querschläger in die heile Welt. Das macht manche seiner Bücher – anders als der Markt es uns glauben machen will – zeitlos und gültig.

Mit „Thennberg“ leuchtet Sebestyén in eine Zwischenzeit der Gesetzlosigkeit, des stillschweigenden Zuwachsens, nein Überwucherns von Wunden und Schuld hinein, wie sie nach dem Ende des Krieges geherrscht haben mag. Der 1930 geborene Sebestyén konnte sich frei von Mitschuld fühlen, aber nicht frei von Verstrickung. Nicht frei von der Verstrickung des fühlenden, denkenden, suchenden Menschen, der in der Regierungszeit von Imre Nagy das Heil in einem „Sozialismus mit menschlichem Angesicht“ suchte, bei der Ideologie, die von der Gleichheit aller kündete, ehe er erkennen musste, dass seine Ideale von Lüge und Menschenverachtung niedergewalzt wurden. Wohl aus diesem Wissen um die Möglichkeit des Irrtums mag seine besondere Großzügigkeit im Diskurs entsprungen sein, sein lächelnd-geduldiges Zuhören selbst dort, wo er sicher war, es längst und besser zu wissen. Er wusste, dass er von jedem etwas Interessantes erfahren konnte – und er war bereit dazu. Denn eines bestätigt jeder, mit dem man über György Sebestyén spricht: Er war geprägt von einer unendlichen Neugier

... dabei, etwas Neues auszuhecken"#

Gygörgy Sebestyén verdient es, dass man sich seiner erinnert. Nicht nur zu Gedenktagen, nicht nur im Kreis derer, die ihn kennen und lieben durften. Mag über viele Texte, wie bei jedem anderen auch, Zeit und Sand wehen, so bleiben andere von Schönheit und Witz, behalten ihr Leuchten, mögen als Flaschenpost sachte mitdümpeln in die Jahre, die da kommen, und wieder ans Licht gehoben werden. Einer wie er fehlt. Falsch. Er fehlt, denn er ist zu früh gegangen. So sei ein Satz von ihm, mit dem er den Beitrag zu seinem Maria-Theresia-Buch 1980 beschloss, ans Ende gestellt: „Wir sind dabei, etwas Neues auszuhecken. Doch das ist bereits eine andere Geschichte.“


FURCHE, Juni 2010