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Medizinische Volksbildung#

Das "k.u.k. Anatomische Institut" im neunten Wiener Bezirk war um 1900 ein viel besuchter Schauplatz populärer Vorlesungen über wissenschaftliche und künstlerische Probleme#


Von der Wiener Zeitung (Sa./So., 30. November/1. Dezember 2013) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Markus Oppenauer


Medizinische Universität Wien
Foto: © Sammlungen und Geschichte der Medizin, Bildersammlung, Medizinische Universität Wien.

"Der Vortragssaal war dicht gefüllt.Maler, Schriftsteller und Musiker hatten Repräsentanten entsandt. Hinter dem Podium war eine weiße Leinwand aufgestellt. In der letzten Reihe des Saales stand ein Projektionsapparat. Emil Zuckerkandl erschien im schwarzen Talar: Ich will Ihnen, meine Damen und Herren, Kunstformen in der Natur vorführen. Sie werden mit Erstaunen wahrnehmen, dass die Natur Ihre künstlerische Phantasie weit übertrifft. Man muss ihr allerdings ein wenig nachhelfen, und das habe ich getan. Wohlausgeklügelte Färbungen von Gefäßen, von einem Stückchen Epidermis, einer Arterie, einem Blutstropfen, ein wenig Gehirnsubstanz - werden Sie alle in eine Märchenwelt versetzen."

Mit diesen Zeilen beschreibt die Salonière Bertha Szeps-Zuckerkandl (1864-1945) in ihren Memoiren einen populärwissenschaftlichen Vortrag ihres Gatten, des Anatomen und Volksbildners Emil Zuckerkandl (1849-1910). Der Ort dieser Veranstaltung - der Hörsaal des k. u. k. Anatomischen Institutes im neunten Wiener Gemeindebezirk - liegt in der Mitte des sogenannten Medizinerviertels zwischen Alserstraße, Spitalgasse und Währingerstraße. Ab dem Wintersemester 1895 fanden in diesen Räumlichkeiten der Wiener Medizinischen Fakultät in regelmäßigen Intervallen die volkstümlichen Universitätskurse statt. Dieses Format versuchte, angelehnt an das Beispiel der "University Extension" aus Cambridge, Wissenschafter, Schriftsteller, Unternehmer, Arbeiter und Angestellte, Männer und Frauen in Kontakt mit Wissenschaften zu bringen.

In diesen Vorlesungen bemühte sich der aus Ungarn stammende und in Wien lehrende Professor Zuckerkandl, anatomische und künstlerische Themen aufschlussreich und anregend ineinander zu verweben und einem breiten Publikum nahe zu bringen. Zum Teil basierten diese Initiativen auf dem Engagement von Gustav Klimt, welcher als Mitglied der Salongesellschaft Zuckerkandl möglicherweise auch Gelegenheit hatte, an der Gestaltung dieser Vorträge mitzuwirken.

Arzt und Dichter#

Auch der Medizinstudent und spätere Schriftsteller Arthur Schnitzler genoss während seiner Studienzeit die außergewöhnlich prägende und stimulierende Atmosphäre im Medizinerviertel. In seinen autobiographischen Notizen beschrieb Schnitzler das Anatomische Institut als Ort, der seit "Anbeginn seiner medizinischen Studien" nicht nur seine "Stimmung und Weltanschauung", sondern mindestens genauso seine künstlerische Produktion beeinflusste. Kleinere literarische Arbeiten, wie "Frühlingsnacht im Seziersaal" und "Sebaldus" verdankten sich dieser medizinischen Atmosphäre.

Jedoch, wie kam es dazu, dass die volkstümlichen Universitätskurse als Schnittstelle zwischen dem akademischen Milieu und der Wiener Volkshochschulbewegung im Medizinerviertel "sesshaft" wurden? Dieses neue Bildungsformat versuchte, die Volksbildung auf neue Beine zu stellen. Man öffnete den Kursen auch das Vorlesungsverzeichnis, dennoch blieben die Tore des Hauptgebäudes der Universität Wien an der Ringstraße für diese Veranstaltungen geschlossen. Somit waren die Vortragenden gezwungen, auf andere, ihnen nähere Räumlichkeiten auszuweichen. Im Falle von Emil Zuckerkandl und seinem Schüler und späteren Nachfolger Julius Tandler (1869-1936) war es eben das Anatomische Institut, das für weite Bevölkerungsteile geöffnet wurde.

Welches Ausmaß diese Form der Wissensvermittlung zwischen Universität und verschiedenen Öffentlichkeiten innerhalb von ungefähr 20 Jahren angenommen hatte, lässt sich z.B. aus einem Schreiben Tandlers in seiner Eigenschaft als Professor für Anatomie aus dem Jahre 1917 herauslesen. Er wandte sich an das Sekretariat der volkstümlichen Vorlesungen: "In dem eben an mich gelangten Verzeichnis der Vorlesungen des II. Terms, ersehe ich zu meinem Erstaunen, dass mein Hörsaal schon wieder an 4 Wochenabenden (Dienstag bis Freitag) von den volkstümlichen Vorlesungen besetzt ist. Montag und Samstag, die beiden für die Studentenschaft unbrauchbaren Abende, wurden mir gütigst gelassen. Ich teile nun mit, dass ich gegen Ende November an einem Dienstag-Abend in meinem Hörsaal selbst einen Vortrag halten werde und dass daher an diesem Tage der Herr Vortragende der volkstümlichen Vorlesung obdachlos sein wird . . ."

Neben den volkstümlichen Universitätskursen wurde noch ein weiteres Bildungsprojekt in den Räumlichkeiten des k. u. k. Anatomischen Instituts initiiert. Hierbei ging es um Frauenbildung. Am 21. Mai 1900 begründeten Emil Zuckerkandl, Julius Tandler, Marianne Hainisch und Rosa Mayreder von der bürgerlichen Frauenbewegung und der Volksbildner und spätere Politiker Ludo Moritz Hartmann im Hörsaal das "Athenäum", den "Verein zur Abhaltung wissenschaftlicher Lehrkurse für Frauen und Mädchen". Mit diesem Volksbildungsprojekt sollten vor allem Absolventinnen der "Bürgerschule, Lehrerbildungsanstalt und des Lyzeums" angesprochen werden, die "nicht im Besitz eines Maturazeugnisses waren und damit keine Möglichkeit hatten, als ordentliche Hörerinnen ein Universitätsstudium zu beginnen".

Tandler als Dozent#

Eine anonyme Hörerin dieser Athenäumskurse besuchte im Wintersemester 1900 die von Julius Tandler geleitete Vorlesung "Anatomie mit Berücksichtigung der bildenden Kunst" und fertigte eine außergewöhnlich detaillierte Mitschrift an. In dieser volksbildnerischen Lehrveranstaltung betrachtete der Anatom künstlerische Werke und deren Beziehung zur Anatomie des Menschen. Mit der Hilfe von Zeichnungen und Skizzen wurden die Ausführungen aufgelockert. Die Aufzeichnungen der Hörerin erwähnen gleich zu Beginn eine Beschwerde des Anatomen über die mangelnde Sensibilität von Künstlern gegenüber der Anatomie. "Zur Wichtigkeit der Anatomie für bildende Künstler: Mancher Maler sagt, ‚ich brauche keine Anatomie, ich male was ich sehe.‘ Unrichtig. . . . Im Tod verliert der Muskel seinen Tonus und gibt der Unterlage nach, das muss der Künstler wissen. . . . Wenn der Künstler keine Anatomie kennt, so spannen seine Figuren immer falsche Muskeln an." Tandler scheint es hier um die Verantwortung der Künstler zu gehen, sich auf die Anatomie einzulassen, um Ungenauigkeiten in der Praxis zu vermeiden. Hiermit möchte er sein weibliches Auditorium ermuntern, künstlerische Produktionen auch aus dem anatomischen Blickwinkel zu betrachten. Mit dieser "wissenschaftlichen" Optik widmete sich Julius Tandler anschließend bekannten Werken von Botticelli und Murillo. Hier nimmt er ebenfalls eine Diskrepanz zwischen dem Bau und der Funktionsweise des menschlichen Körpers und den künstlerischen Darstellungen wahr. Man liest in der anonymen Vorlesungsmitschrift: ". . . zum Beispiel Botticellis Venus, mit verkrümmten Tibien, Unterschenkeln. Verkrümmte Unterschenkel - Säbelbeine, verkrümmte Ober- Unterschenkel - O-Beine. Unförmige Gelenke bleiben nach der Rachitis. Murillos Straßenkinder alle rachitisch, vielleicht Absicht des Künstlers. Wasserkopf - vorgebaute Stirne und flacher Schädel, auch rachitisch."

Als didaktische Mittel wurden in dieser Vorlesung zum einen schematische Darstellungen eingesetzt, um den Bau einzelner Körperpartien sowie die Funktionsweisen verschiedener Gelenke oder Muskeln zu veranschaulichen. Zum anderen ging Tandler auch immer wieder auf schriftliche Anfragen seiner Hörerinnen ein. Die Wissensinhalte der letzten Lehreinheit konnten somit auch wiederholt und detaillierter diskutiert werden. Darüber hinaus gab es auch Exkursionen in die Sezession oder das "Kunsthistorische Hofmuseum" und am Ende des Semesters wurden Examina abgehalten. Dies fand schließlich auch Eingang in die Notizen der anonymen Kursteilnehmerin. Es scheint als hätte sie Tandler wortwörtlich zitiert: "Sie haben mich missverstanden, wenn Sie meinten, dass ich, weil ich die Prüfung ohne Publikum wollte, von den Damen verlange mit mir in die Clausur zu gehen. In der hohen Lehrkörperschaft des Athenäums wurde der Beschluss gefasst, dass die Hörerinnen des betreffenden Kurses gegenwärtig sein können und dass die Prüfungen streng zu sein haben. Ich werde also streng prüfen. "

Die "strengen" Prüfungen dürften das weibliche Publikum nicht von einer weiteren Belegung der Vorlesungen in den kommenden Semestern abgehalten haben. Der anonymen Mitschrift ist zu entnehmen, dass es genügend Anmeldungen für das Sommersemester gab.

Politische Absichten#

Diese Form der populären Wissensvermittlung im Kontext des Medizinerviertels war ein zentraler Bestandteil der Volkshochschulbewegung der Wiener Moderne. Naturgemäß muss sie auch als ein politisches Programm gesehen werden, mit dessen Hilfe die volksbildnerischen Akteure versucht haben, ihrer "wissenschaftlichen" Sicht auf die Welt zum Durchbruch zu verhelfen. Wie neuere historische Forschungen zeigen, wurde mit diesen Unterrichtsprojekten nicht nur ein wissenschaftsbasiertes Weltbild für eine moderne Gesellschaft vermittelt, sondern auch eugenische Konzepte und Themen in die Öffentlichkeit getragen. Dies muss in der Behandlung der Thematik "Volksbildungsbewegung" natürlich immer mitgedacht und problematisiert werden.

Markus Oppenauer ist Historiker, Sachbuchautor und Lehrbeauftragter an der Medizinischen Universität Wien. Derzeit Doktoratsstudium ebendort. Im Verlag "Bibliothek der Provinz", Weitra, ist von ihm erschienen: "Der Salon Zuckerkandl im Kontext von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit."

Information#

Literatur:

  • Archiv der Sammlungen d. Geschichte der Medizin der Medizinischen Universität Wien, Nachlass Julius Tandler.
  • Bertha Zuckerkandl: Österreich intim. Erinnerungen 1892-1942. Frankfurt 1970.
  • Arthur Schnitzler: Jugend in Wien. Wien u.a. 2006.
  • Günter Fellner: Athenäum. Die Geschichte einer Frauenhochschule in Wien. In: Zeitgeschichte, 1986, Heft 3 .
  • Wilhelm Filla u.a. (Hrsg.): Aufklärer und Organisator. Der Wissenschaftler, Volksbildner und Politiker Ludo Moritz Hartmann, Wien 1992.

Wiener Zeitung, Sa./So., 30. November/1. Dezember 2013